Nachricht | Binger: 68 – selbstorganisiert und antiautoritär, Kleinmachnow 2018

Rezension einer beeindruckenden Autobiografie über «68» und die 1970er Jahre

Information

Lothar Binger erzählt in seiner politischen Autobiografie aus seinem Leben in der undogmatischen radikalen Linken in Westberlin von 1967 bis 1978. Es ist die Zeit, in der antiautoritäre Kinderläden gegründet werden und einige von ihnen gleich im Keller mit einer Druckmaschine illegal Klassiker aus der Weimarer Linken zur proletarischen Erziehung als Raubdruck erstellen. Dieses Beispiel zeigt das grundlegende Prinzip dieser Spektren der Linken: «Wenn es etwas nicht gibt, und es niemand anderes tut, machen wir es eben selbst». In einem Wort: Selbstorganisation.

Binger, geboren 1941 und damit 1967/68 schon einer der älteren Aktivist_innen, hat sein Studium bereits 1963 begonnen. Er ist als Kriegswaise in einer, wie er es nennt «proletarisch-kleinbürgerlichen» Pflegefamilie aufgewachsen, was ihm Zeit seines Lebens einen kritischen Blick auf Hierarchien und eine tiefe und fundierte Sympathie für antiautoritäres Denken und Handeln beschert. 1972 schließt er sein Studium ab; er wird Vater von zwei Kindern: einmal mit Anfang/Mitte 20 und dann nochmals über 20 Jahre später. Hier schreibt keiner, und das ist wohltuend, der seine linke Zeit denunzieren muss – im Gegenteil. Er ist, wie viele andere, gerne Indianer, kein Häuptling, und bleibt dies auch.

Konkret geht es um die heute legendäre Undergroundzeitung «Linkeck» 1968, den ersten Berliner Kinderladen und das dazugehörige Publikationsorgan «Kinderladen-Info», die Stadtteilarbeit in Kreuzberg mit dem Lehrlingstheater «Rote Steine» und den «Ton Steine Scherben» 1970, die ersten Berliner Hausbesetzungen des «Jugendzentrums Kreuzberg» und des «Rauch-Hauses» 1971, die Gruppe Undogmatischer Marxismus (GUM) 1972 bis 1974, die Stadtteilgruppe Charlottenburg 1973 und das «INFO BUG» (Info Berliner Undogmatischer Gruppen) 1974 bis 1978 als das wöchentlich erscheinende Kommunikationsorgan für die Sponti-Linke in Westberlin, an dem Binger die ersten zwei Jahre seines Erscheinens aktiv mitarbeitet. Binger beschreibt die Anfänge der Westberliner Studierendenbewegung, die Faszination der Aneignung der bis dahin unbekannten und verschollenen linken Traditionen aus der Weimarer Zeit, und die Konflikte zwischen den undogmatischen Gruppen und denen, die sich auf die RAF beziehen.

Das alles unter der Devise: Selbstorganisiert, undogmatisch, antiautoritär und selbstverständlich antikapitalistisch. Der mit «68» bzw. eigentlich bereits 1967 gestartete Aufbruch mit seinen zahlreichen Facetten, von der Erziehung, dem neuen Verständnis von Sexualität, von veränderten Frauen/Männerbeziehungen bis hin zu den Versuchen eines anderen Zusammenlebens in Kommunen oder Wohngemeinschaften wird deutlich. Die Verkehrsformen treten in den Fokus, Feste werden veranstaltet, der Stadtteil entdeckt. Man will Subjekt und nicht Objekt sein. Die lokale Arbeit wird von einigen als theoriearme Handwerkelei selbstkritisch diskutiert. «Kommunikation» und «Gruppe» heißen die neuen Zauberwörter, die Gruppe und bald auch die kommunistischen und autoritären Kaderparteien werden jedoch für viele zum Familienersatz, was, wie sich bald zeigt, nicht wirklich funktionieren kann. Binger schildert dies unaufgeregt und authentisch. Immer wieder dokumentiert er längere Zitate aus (internen) Protokollen oder zeitgenössischen Publikationen. Er kann plausibel machen, wie und warum viele der ambitionierten Vorhaben an den mitgebrachten und nicht mit einem Willensakt änderbaren, persönlichen «Macken» scheitern.

Als die Spontis sich, zumindest in den größeren Städten, langsam zerstreuen, entstehen um die Wende zu den 1980er Jahren daraus mindestens drei «Ansätze»: Die Grüne Partei, die militante, autonome Bewegung und dazwischen das weite Feld der alternativen Bewegungen und Projekte, zu dem anfangs z.B. auch die taz zu zählen ist.

Die Lektüre des Buches ist eine Freude und trotz des Umfangs an keiner Stelle langatmig. Vieles von dem, was Binger in der historischen, aber trotzdem persönlichen Rückschau beschreibt, etwa zur Klassenherkunft oder auch zu Motivation und autoritärer Charakterstruktur vieler Linker, liest sich heute erstaunlich aktuell. Leider. Sein indirektes Plädoyer für den aufrechten Gang und Selbstreflexion macht Mut. Dass das Buch kein Sach- und Personenregister hat, ist verschmerzbar. Auf einer zum Buch gehörigen Website finden sich weitere Informationen.

Lothar Binger: 68 – selbstorganisiert und antiautoritär, Selbstverlag, Kleinmachnow 2018, 464 Seiten, 19,68 Euro. Erhältlich unter: https://68selbstorganisiert.wordpress.com