Nachricht | Wimmer: Lumpenproletariat, Stuttgart 2021

Die Unterklassen zwischen Diffamierung und revolutionärer Handlungsmacht

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Das linke Interesse an Klassentheorie wächst - auch Christopher Wimmersaktuelles Buch ist diesem Trend zuzuschreiben. Es widmet sich dem «Lumpenproletariat».

In der Literatur werden sie oft als «Vagabunden» oder «Pöbel» bezeichnet, die Angehörigen des Lumpenproletariats. Schon bei Karl Marx werden sie nicht ökonomisch oder klassentheoretisch bestimmt, sondern in moralischen Kategorien beschrieben. Sie sind primär nicht Subjekte (ihrer Geschichte), sondern werden als Objekte der Verachtung und Abwertung, wie auch der Erziehung, wenn nicht Disziplinierung beschrieben. Diese Haltung zieht sich hin bis zu Lichtgestalten der Linken, wie Antonio Gramsci und Rosa Luxemburg. Dies zeigt das aktuelle Buch Christopher Wimmers zum Thema sehr anschaulich.

Marx hatte Mitte des 19. Jahrhunderts das Lumpenproletariat als bestechliche, und deswegen dann doch für den Klassenkampf wichtige Schicht beschrieben. Dem «Pöbel» wurde in der Arbeiterbewegung jahrzehntelang, schon im Frühsozialismus, das Proletariat als bewusste, ehrenvolle Klasse gegenübergestellt, die ihre historische Mission «standhaft und sittlich» verrichte. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Parteien der Arbeiterbewegung ebenso wie die Gewerkschaften aus «aufstiegsorientierten», gut ausgebildeten und Facharbeitern bestanden. Der SPD war durch ihren Klassenstolz die Verachtung «der anderen» sozusagen eingeschrieben, sie bedingten einander. So stand, so Wimmer, die SPD zum Beispiel dann nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs 1918 nicht an der Seite der Revolution und der aufbegehrenden Massen, sondern auf der Seite der Ordnung und des autoritären Staates.

Nicht nur im sozialdemokratischen Zeitalter des endenden 20. Jahrhunderts ist die Frage des «Lumpenproletariats» und des politischen Umgangs mit ihm mit der nach der Bedeutung von Lohnarbeit verbunden: Ist Lohnarbeit oder die Existenz an sich die zentrale identitätsstiftende Kategorie im Leben eines Menschen?

Zum Ende seines spannenden Buches stellt Wimmer einige Ansätze vor allem aus der Zeit nach 1960 vor, das Lumpenproletariat neu zu theoretisieren: die Randgruppenstrategie der neuen Linken, den Operaismus mit seiner Debatte um den Massenarbeiter, aber auch die Debatte um Kolonialismus und die rassistische Segmentierung von Gesellschaften (Frantz Fanon, Black Panther Partyin den USA).

Der Berliner Autor hat ein spannendes Buch vorgelegt, das eine Begriffs- und auch eine Bewegungsgeschichte des Lumpenproletariats bis hin zur Erwerbslosenorganisierung der KPD oder der Debatte um die Bohème bietet. Dass er an einigen wenigen Stellen in eine Romantisierung verfällt, sei verziehen, denn er hat in der Linken minoritäres Wissen gut aufbereitet und zusammengefasst.

Anknüpfungspunkte bietet dieses (historische) Thema dahingehend, dass heute, wenn die Stammbelegschaften immer weiter abschmelzen und Aufstände zu Streiks als sichtbarer Kampfform hinzutreten, die Gewerkschaften vor der Herausforderung stehen, eine multinationale, prekarisierte Arbeiterklasse zu organisieren.

Bemerkenswert ist das Spannungsfeld, in dem das «Lumpenproletariat» steht: Es handelt meist spontan, wird aber auch unterdrückt und diffamiert, auch von der Linken. Frappierend ist es, zu lesen, wie Marx (und andere) voller Projektionen sind, wie sie die ungeliebten Anteile ihres eigenen Selbst abspalten - und diese Eigenschaften dann dem Lumpenproletariat zuschreiben.

Christopher Wimmer: Lumpenproletariat. Die Unterklassen zwischen Diffamierung und revolutionärer Handlungsmacht, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2021, 170 Seiten, 12 EUR.