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Wie Unternehmen mit CO2-Kompensationsgeschäften Klimaschutzauflagen umgehen

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Uwe Witt,

Zeichnung von Erde mit weltweiten Bränden und zwei Sprechblasen auf unterschiedlichen Kontinenten: "Wir sollten unsere CO2-Emissionen in den Griff bekommen." - "Wir könnten Zertifikate kaufen?"
picture alliance / dieKLEINERT | Timo Essner

Im Ausland Bäume pflanzen anstatt die eigene Produktion klimafreundlich zu machen. Der so genannte «freiwillige Markt» für Klimaschutzzertifikate ist in Teilen eine Alibi-Veranstaltung für Firmen, die wirklichen Klimaschutz umgehen wollen. Deshalb macht einer der wichtigsten internationalen Klimaschutz-Zertifizierer für Unternehmen, Städte und Organisationen namens SBTi in diesem so genannten Kompensationsmarkt nicht mit. Die Initiative schließt bislang die Anrechnung von CO2-Emissionsgutschriften für Klimaschutzprojekte aus, wenn sie beurteilt, wie wissenschaftlich untersetzt Unternehmensstrategien hin zu Netto-null-Emissionen sind, auch weil solche Kompensationsgeschäfte überaus missbrauchsanfällig sind. Eben diese Brandmauer sollte bei diesem Schlüsselakteur nun in den letzten Monaten fallen – offensichtlich auch auf Betreiben einer einflussreichen US-Stiftung, welche die Zertifizierungs-Initiative mitfinanziert. SBTi-Mitarbeiter drohten daraufhin mit Kündigung, Mitgliedsverbände liefen gegen das Kuratorium Sturm. Nun hat die SBTi-Führung zurückgerudert. Doch der enorme Druck – auch von Großkonzernen – auf unabhängige und kritische Zertifizierer, ihre Regeln aufzuweichen, dürfte bestehen bleiben.

Uwe Witt ist Referent für Klimaschutz und Strukturwandel der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Seit Monaten tobt eine erbitterte Auseinandersetzung um einen Multi-Milliardenmarkt im internationalen Klimaschutz. Es geht um glaubhafte Zertifizierung von Klimaschutzmaßnahmen versus einem so genannten «freiwilligen Markt» für CO2-Emissionsgutschriften. Im letzteren tummeln sich auch dubiose Anbieter und Kompensationssysteme, deren Nutzen für den Klimaschutz häufig zweifelhaft ist. Es geht um Glaubhaftigkeit, um Transparenz oder schlicht um Betrug am Klimaschutz, der alte Geschäftsmodelle retten soll. Um zu verstehen, was hier abläuft, ist ein knapper Einstieg in die verschiedenen Emissionshandelsmärkte hilfreich.

Der «freiwillige Kohlenstoffmarkt» im Wirrwarr der CO2-Märkte

Zunächst hat der «freiwillige CO2-Markt» nichts mit dem bekannten EU-Emissionshandelssystem (EU-ETS 1) zu tun, welches im Jahr 2005 startete. In dem gibt die Europäische Union der Energiewirtschaft und der Industrie sowie dem innereuropäischen Luftverkehr eine jährlich sinkende Höchstgrenze an zulässigen Treibhausgasemissionen vor. Das geschieht in Form von Emissionsberechtigungen, die erworben werden müssen bzw. zugeteilt werden und die handelbar sind.

Der freiwillige Kohlenstoffmarkt arbeitet auch jenseits von Systemen des internationalen Emissionshandels im Rahmen der Klimaabkommen der Vereinten Nationen. Die UN hatte beispielsweise früher handelbare CO2-Gutschriften für Klimaschutzprojekte von Unternehmen aus Industriestaaten im Globalen Süden ausgegeben. Sie waren in der EU lange Zeit unter bestimmten Bedingungen auf die Minderungsverpflichtungen von Unternehmen im Rahmen des ETS-1 anrechenbar. Das UN-System nannte sich Clean Development Mechanism (CDM) und war berüchtigt, da hier massenhaft «faule Zertifikate» abgerechnet wurden. Hinter ihnen stand vielfach kein realer zusätzlicher Klimaschutz beziehungsweise deutlich weniger, als auf den CDM-Zertifikaten angegeben. Weil dies die Integrität des Klimaschutzes in der EU untergrub, hat Brüssel vor einigen Jahren die Anrechenbarkeit von CDM-Gutschriften vollständig unterbunden. Damit wurde gleichzeitig das größte Schlupfloch des ETS 1 geschlossen[1]. Auch die UN selbst hat das CDM-System ausgesetzt.

Der globale freiwillige CO2-Markt mit Klimaschutzprojekten – welcher also jenseits von EU und UN existiert – lief derweil bis heute weiter, und zwar auf Ebene von Unternehmen und mit einer verwirrenden Zahl von Standards und Zertifizierungsanbietern unterschiedlicher Qualität. Er umfasste rechnerisch zwischen 2007 und 2018 weltweit aber nur ein Prozent des Volumens der Emissionsgutschriften des damaligen CDM. Experten sehen in ihm jedoch ein enormes Wachstumspotential, da sich Konzerne und Einzelunternehmen zunehmend Klimaneutralitätsziele für ihre gesamte Wertschöpfungskette setzen. Sie wollen damit vor allem ihr Image aufpolieren und Investoren zufriedenstellen. Nach Schätzungen von BloombergNEF könnte der freiwillige Markt von heute zwei Milliarden US-Dollar Emissionsgutschriften jährlich auf rund eine Billion US-Dollar anwachsen.

Die Kompensationsgeschäfte sind vor allem deshalb beliebt, weil viele Unternehmen Schwierigkeiten haben, ihre Emissionen im eigenen Unternehmen, bei Zulieferern oder bei der Produktnutzung in dem Maße zu senken, wie es dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens entsprechen müsste. Gerade Automobil- und Logistikunternehmen oder Rohstoffkonzerne müssten ansonsten ihr gesamtes Geschäftsmodell auf den Prüfstand stellen, um mit den Emissionen in die Nähe von «Netto-null» zu kommen. Etliche wollen deshalb weltweit außerhalb ihrer eigenen Wertschöpfungskette in Projekte investieren, die möglichst preiswert Treibhausgase einsparen, letztlich also Emissionsminderungen über entsprechend zertifizierte CO2-Gutschriften einkaufen. Die Klimaneutralitätsziele der Unternehmen und ihre Umsetzung beeinflussen zudem auch immer mehr deren Refinanzierungsbedingungen an den Finanzmärkten. Etliche Geldgeber wollen nicht mehr in Firmen investieren, die sich angesichts der Klimakrise einer Neuorientierung verschließen.

Zusammenfassend hat der freiwillige Kohlenstoffmarkt keinen formalen Link zu «offiziellen Systemen», zumindest nicht in dem Sinne, dass Unternehmen staatlich auferlegte Minderungsverpflichtungen erfüllen könnten, indem sie Treibhausgasminderungs-Gutschriften aus dem freiwilligen Kohlenstoffmarkt abrechnen. Dennoch hat dieser Markt für viele Konzerne eine enorme Bedeutung und könnte rasant wachsen – wenn sich nicht ausgerechnet Klimaschützer und Wissenschaftler dagegenstellen würden. Und zwar weil diese freiwilligen Kompensations-Systeme ähnlich manipulations- und betrugsanfällig sind wie einst der berüchtigte CDM (siehe auch Kasten).

Zwei Jahre Druck von US-Regierung und Konzernstiftungen

Die Science Based Targets Initiative (SBTi) – zu Deutsch «Initiative für wissenschaftsbasierte Ziele» mit Sitz in London könnte man als Gegenmodell zur CO2-Kompensation verstehen: Klimaschutzstrategien für die eigene Unternehmensführung, validiert von den SBTi-Experten, statt Flucht in den obskuren Kohlenstoffmarkt mit Auslandsprojekten. Gegründet wurde sie von einer Koalition von Nichtregierungsorganisationen. Forschungseinrichtungen wie das Word Ressources Institut und Umweltorganisationen wie der WWF sind für dieses Ziel dort Mitglied. Die SBTi vergibt Siegel, wenn Unternehmen geprüfte Klimaschutzstrategien vorlegen. Die Firmen müssen sie entlang wissenschaftlich ausgearbeiteter SBTi-Leitlinien und -Methodenvorgaben für ihre Wertschöpfungskette nachweisen. Mehr als 8.000 Unternehmen weltweit haben bereits ihre Klimaziele durch die SBTi validieren lassen, damit setzt die Non-Profit-Organisation die globalen Leitstandards in diesem Bereich.

In den letzten Monaten drohte nun ein Strategiewechsel, nach Beobachtern vor allem auf Druck aus den USA. Ein aktueller Artikel der ZEIT zeichnet detailliert nach, wie es dazu kam, und wie der Druck vorerst abgewendet werde konnte. Eine Schlüsselrolle spielt dabei John Kerry, ehemaliger US-Präsidentschaftskandidat der Demokraten und bis März 2024 Klimabeauftragter unter Jo Biden. Bereits im Herbst 2022 lud er, auch auf Wunsch der Rockerfeller-Stiftung, zu einem Treffen im exklusiven Yale Club in Manhattan. Gäste waren unter anderem hochrangige Manager von General Motors, Goldman Sachs oder der einflussreichen Klimastiftung von Amazon-Chef Jeff Bezos, des Bezos Earth Fund. Kerry warb dafür, dass US-Unternehmen einen Teil ihrer Treibhausgasemissionen künftig im Ausland kompensieren können sollten.

Auch Vertreter*innen der renommierten SBTi waren Gast in dieser Runde, obgleich ihre Regeln eine solcherart Kompensationen gar nicht zulassen. Die SBTi ins Boot zu bekommen dürfte aus Kerrys Sicht aber wichtig gewesen sein, denn sie ist es, die nach strengen Regeln die begehrtesten Klimaschutzsiegel für Firmen, Städte oder Organisationen vergibt. Bislang verleiht sie diese aber eben bezogen auf Klimaschutzanstrengungen im jeweiligen Unternehmen und bei Zulieferern, und eben nicht in Form der Zertifizierung von Emissionsgutschriften für Kompensations-Projekte irgendwo anders in der Welt. Laut ZEIT-Bericht geht aus den Präsentationen in Manhattan hervor, dass auch der SBTi nun Kompensationsmodelle als legitime Methode anerkennen müsse. Die Forderung bleibt nicht ohne Wirkung: Der damalige SBTi-Chef Luiz Amaral wird anschließend in einer internem E-Mail die Risiken und Chancen eines solchen Weges für SBTi abwägen.

Bis ins Frühjahr 2024 hinein werden über verschiedene Kanäle immer wieder entsprechende Erwartungen an die Organisation formuliert. Amaral zeigt sich zumindest offen, wohl auch um den Einfluss des SBTi in den USA weiter zu sichern. Bereits im Jahr 2023, nach einem weiteren Treffen mit Kerry, beruft Amral zum brisanten Thema eine Forschungsinitiative mit externen Berater*innen ein, um Optionen der Öffnung zu prüfen.

Bei vielen Mitarbeiter*innen und Berater*innen des SBTi führt das Ganze zu Irritationen, bei manchen zur Wut. Zum einen, weil sie im Kompensationsmodell eine gefährliche Ablenkung vom Weg sehen, nach dem Firmen ihre Treibhausgasemissionen durch eigene Anstrengungen reduzieren müssen. «Wir wissen, dass die meisten Kompensationsgutschriften Schrott sind», wird etwa im ZEIT-Artikel eine Person zitiert. Zum anderen, weil die SBTi-Statuten eigentlich vorsehen, dass sich das Management aus der fachlich-technischen Arbeit heraushält. Das sei vielmehr die Domäne der Wissenschaftler*innen und entsprechenden Beiträte.

Hierbei besonders bizarr: Der einflussreiche Bezos Earth Fund wird nicht nur Partner der Kerry-Initiative. Er ist auch einer der großen Finanziers des SBTi. In Emails kontaktierte der Chef der Bezos-Stiftung Andrew Steer die SBTi und schilderte laut ZEIT, dass einige US-Unternehmen besorgt seien über die fehlende Flexibilität der Organisation bezüglich der Kompensation. Namentlich erwähnt dabei wird der Amazon-Konzern, der Jeff Bezos gehört.

Erfolgreicher Widerstand aus Wissenschaft und Klimaschutzbewegung

Der offensichtliche Interessenkonflikt spitzt sich in einem Statement des SBTi-Vorstands vom 9. April dieses Jahres zu, der einen Sturm der Entrüstung bei den SBTi-Mitarbeitern provoziert, einige drohen gar mit Kündigung. Obwohl Studien und Analysen, die die SBTi inzwischen ausgewertet hat, ergeben haben, dass nur die Hälfte der eingereichten Dokumente über Kompensationsprojekte überhaupt eine Klimaschutzwirksamkeit zeigt, wird im Statement – vorbei an den technischen und wissenschaftlichen Gremien der Organisation – angekündigt, man wolle CO2-Kompensationen künftig unter bestimmten Bedingungen erlauben. Auffällig: Kurz zuvor gab es laut einem Artikel der Financial Times ein Treffen in London, bei dem neben dem Bezos-Fund auch der SBTi teilnahm.

Nicht nur innerhalb des SBTi, auch in der internationalen Szene der einschlägigen Klimaexperten ist die Aufruhr enorm. Sie ist so gewaltig, dass SBTi-Chef Amaral Ende Juli zurückritt. Der Spuk endet mit neuen Papieren des Vorstands, die sich wieder auf der alten Linie bewegen.

Ein Aufweichen der Standards dieses zentralen Akteurs zu Gunsten eines dubiosen CO2-Kompensationsmarktes konnte dieses Mal abgewendet werden. Doch der Druck von Unternehmen, auf solcherart oft minderwertiger Projekte begehrte Zertifizierungsstempel zu bekommen, dürfte bestehen bleiben. Nicht zuletzt deshalb, weil sich so überkommene Geschäftsmodelle gewinnbringend verlängern lassen.

Warum sind CO2-Kompensationsgeschäfte so anfällig für Manipulation und Betrug

Die Grundidee der CO2-Kompensation im freiwilligen CO2-Markt besteht darin, dass eine Emissionsgutschrift auf ein Selbstverpflichtungsziel eines Unternehmens angerechnet wird. Dabei repräsentiert im Idealfall eine Tonne CO2-Äquivalent Emissionen, die der Atmosphäre anderorts entzogen oder (gegenüber einer sonst erwarteten Entwicklung) nicht hinzugefügt wurden. Oft geschieht das im freiwilligen Markt in der Forstwirtschaft oder bei Projekten für erneuerbare Energien. Aber gerade im Forstsektor ist der Interpretationsspielraum groß, der über etwaige CO2-Minderungen entscheidet. Bleibt eine Neuanpflanzung 20, 40 oder 60 Jahre stehen, oder brennt sie schon in drei Jahren wegen Blitzschlags in einer Dürreperiode ab? Wie viel CO2 wird im Zuge des Klimawandels tatsächlich in aufwachsendem Holz dauerhaft zusätzlich gebunden, wie verändert sich dabei die CO2-Bindung des Bodens? Noch krasser bei Projekten die vorgeben, Abholzungen zu verhindern, und sich dies anrechnen lassen als CO2-Gutschrift in Höhe fiktiv abgeholzter Bäume. Nicht selten gab es dort vor Ort gar keine Pläne zur Entwaldung.

Selbst die Anrechnung von Kompensationsprojekten, die im Aufbau von Ökostromanlagen im globalen Süden bestehen, wird mittlerweile kritisch betrachtet. Denn Wind- und Solarkraft sind mittlerweile weltweit so preiswert, dass sie häufig auch ohne «Hilfe von außen» rentabel sind; sie würden in den Zielländern in absehbarer Zeit ohnehin errichtet und fossile Erzeugung verdrängen. Mithin ist der Klimaschutzeffekt eines Kompensationsprojektes nicht wirklich «zusätzlich» zu einer Entwicklung, die es dort ansonsten gegeben hätte. Die Zusätzlichkeit wäre aber die logische Voraussetzung dafür, sich den Klimaschutzeffekt andernorts zur Erfüllung eigener Klimaschutzziele anrechnen zu lassen. Der Informationsdienst Bloomberg berichtete im August, dass der Integrity Council for the Voluntary Carbon Market (ICVCM) – eine von der Industrie geführten Organisation, die globale Standards im freiwilligen Kohlenstoffmarkt durchsetzen will – daraus Konsequenzen gezogen hat. ICVCM wolle den Markt von solchen «minderwertigen Gutschriften» säubern. Die Organisation habe beschlossen, dass ihr Label Core Carbon Principles (CCP) nicht für Emissionsgutschriften verwendet werden kann, die «im Rahmen bestehender Methoden für erneuerbare Energien» ausgestellt wurden. Der Schritt beträfe laut ICVCM etwa 236 Millionen Kredite oder 32 Prozent des Marktes.

Mit Blick auf all die vorgenannten kritischen Punkte, die in der Fachwelt unter «fehlende Klimaschutz-Integrität» zusammengefasst werden, ergab kürzlich ein SBTi-Synthesebericht bestehender Forschungsergebnisse, dass nur 12 bis 33 Prozent der Emissionsgutschriften den von Unternehmen angegebenen Klimanutzen tatsächlich erbrachten.

Eine zweite Problematik betrifft potentielle Doppelausweisungen von CO2-Einsparungen (selbst wenn sie real erbracht wurden). Seit dem Pariser Klimaschutzabkommen haben auch Länder des globalen Südens Emissionsziele, die als Selbstverpflichtungen in so genannten NDCs dem UN-Mechanismus gemeldet werden. Nutzt etwa in einem fiktiven Beispiel ein deutscher Automobilkonzern im freiwilligen Kohlenstoffmarkt Emissionsgutschriften aus Aufforstungs-Projekten in Kenia, um das Unternehmen klimafreundlich zu rechnen, müssten eigentlich parallel entsprechende UN-Emissionsrechte von Kenia an das Land des Firmensitzes, also Deutschland, übertragen werden. Mit anderen Worten dürfte sich Kenia bei seiner jährlichen Treibhausgasbilanz nicht das Minderungsvolumen auf die eigene NDC-Zielerfüllung im Rahmen der UN anrechnen lassen. Um solche Transfers zu gewährleisten, müssten Verträge zwischen Projektteilnehmern und involvierten Staaten abgeschlossen werden, bei denen am Ende so genannte ITMOs (übertragene Minderungsergebnisse) über die Grenzen wandern. Dummerweise haben Länder wie Kenia null Interesse daran, wegen privaten Geschäften ein Teil ihres zulässigen Emissionsbudgets in Form der ITMOs ans Ausland abzugeben. Schließlich müssten sie dann zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um ihr eigenes NDC gegenüber der UN zu erfüllen.

Das Ganze führt dann zwar nicht automatisch zu Doppelzählungen von Klimaschutzbeiträgen in den UN-Bilanzen, die auf den NDCs basieren. Schließlich nutzt im Beispiel der deutsche Automobilkonzern die Emissionsgutschriften «nur» in der Außendarstellung des Unternehmens, nicht aber in der Emissionsbilanzierung gegenüber staatlichen Stellen. Die in Kenia erbrachte Minderung würde so auch nicht Deutschland zugeschrieben. Die rein privaten Emissionsgutschriften eines beliebigen Zertifizierers im freiwilligen Kohlenstoffmarkt kann der Konzern nämlich nicht zur Verpflichtungserfüllung im EU-Emissionshandel nutzen, wie es seinerzeit bei den oben genannten CDM-Zertifikaten mit UN-Siegel möglich war. Dennoch würden ohne ITMO-Transfer sowohl Kenia als Staat als auch deutsche Autobauer dieselbe Emissionsminderung für sich in Anspruch nehmen, wenngleich auch letztere nur dazu, um Kunden und Investoren rechnerisch eine klimafreundliche Unternehmensentwicklung vorzugaukeln.

Kompensationsgeschäfte sind also höchst problematisch. Organisationen wie der WWF oder das NewClimate Institute, die selbst in Beratungsgremien des SBTi sitzen, wenden sich deshalb strikt gegen den Einsatz von CO2-Gutschriften im freiwilligen Markt (wie übrigens auch gegen vergleichbare Instrumente, die erneut auf UN-Ebene diskutiert werden). Die Befürchtung sind Greenwashing und nachlassende Anstrengungen bei Unternehmen, die eigene Wertschöpfungskette von Treibhausgasemissionen frei zu machen. Sie unterstützen viel mehr die Erarbeitung anspruchsvoller und überprüfbarer Dekarbonisierungs-Strategien im eigenen Unternehmen unter Einbeziehung von Zulieferern von Vorprodukten, Energie und Rohstoffen mit entsprechenden wissenschaftlichen Standards.

Dieser Ansatz reicht übrigens über die gegenwärtige Treibhausgasregulierung in Europa hinaus. Denn der Europäische Emissionshandel (ETS-1) beispielsweise ist inzwischen zwar recht erfolgreich. Er presst aber lediglich die direkten fossilen Emissionen von Energieerzeugern und Industrie in ein jährlich enger und teurer werdendes Korsett. Treibhausgasemissionen im Zusammenhang mit Lieferketten, Vertrieb und Produktnutzung hingegen, oder auch nicht dem ETS-1 unterliegende Firmen und Organisationen, bleiben weitgehend außen vor. Diese Lücke wollen Organisationen, wie SBTi, GHG Protokoll oder ISO Net Zero Guideline, mit ihren Planungs- und Zertifizierungsansätzen für Unternehmen, Organisationen und Städten, helfen, zu schließen – und zwar jenseits jeglicher CO2-Kompensationen. Sie sehen diesen Ansatz im Klimaschutz nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu staatlich veranlassten Klimaschutzmaßnahmen, die selbstverständlich strikter werden müssen.


[1] Um die Verwirrung zu vollenden: Neben dem EU-ETS 1 wird es ab 2027 einen EU-weiten Emissionshandel für die Sektoren Wärme und Verkehr geben (EU-ETS 2). Daneben können gegenwärtig Mineralölkonzerne im Rahmen der EU-CO2-Regulierung für den Kraftstoffsektor begrenzt (in Höhe von 1,2-Prozentpunkten) Emissionsgutschriften aus speziellen Klimaschutzprojekten (Upstream Emission Reduction – UERV) zur Erfüllung ihrer Treibhausgasminderungsquote nutzen. Auch dies hat nichts mit dem ETS-1 oder CDM zu tun, und ebenfalls nichts mit dem «freiwilligen Markt». Zuletzt berichteten Medien über Betrügereien in diesem UEVR-CO2-Markt: Klimaschutzprojekte in China – die es nie gab – wurden in Deutschland abgerechnet. Die Bundesregierung hat daraufhin im Juli 2024 für die Bundesrepublik die Anrechenbarkeit auf die Treibhausgasminderungsquote im Kraftstoffsektor gestoppt. Dieser Markt ist nicht Gegenstand dieses Artikels.