Interview | Rosalux International - Migration / Flucht - Südosteuropa - Griechenland Der Druck auf Griechenland wird erhöht

Interview mit Maria Paraskeva über die Folgen der repressiven Wende der deutschen Migrationspolitik

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Closed Controlled Access Center auf Samos/Griechenland
«Es wird befürchtet, dass die Entscheidung Deutschlands, den Schengener Grenzkodex aufzuheben und Flüchtlinge nach Griechenland als erstem Ankunftsland zurückzuschicken, zur Überfüllung der Closed Controled Access Center (CCAC) auf den ägäischen Inseln führen wird. Die Gefängnisse erfüllen schon jetzt die EU-Aufnahmestandards nicht.» «Closed Controlled Access Center» auf Samos/Griechenland, Ministerium für Migration und Asyl, Griechenland

Die Debatte um die Verschärfung der Flüchtlings- und Migrationspolitik in Deutschland wird von der griechischen Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit und Besorgnis verfolgt. Sowohl die konservative Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis als auch Menschenrechtsorganisationen warnen vor schwerwiegenden Folgen. Boris Kanzleiter, Leiter des Athener Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sprach darüber mit der Rechts- und Migrationsexpertin Maria Paraskeva.

 
Boris Kanzleiter: Der konservative Regierungschef Kyriakos Mitsotakis hat sich dezidiert gegen die neuen Maßnahmen der Bundesregierung zur Zurückweisung von Migrant*innen und Flüchtlingen an den deutschen Grenzen ausgesprochen. Welche Position hat die griechische Regierung?

Maria Paraskeva ist Rechtsexpertin in Athen. Sie ist Autorin der Studien The Militarization of EU Borders. The Greek Case. Study within the European Context (November 2023) und The Militarization of EU Borders. The new pact on Migration and Asylum. A lost opportunity for the EU (Oktober 2024, i.E.), beide unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stifitung Griechenland.

Maria Paraskeva: Die Athener Regierung hat Deutschland signalisiert, dass sie eine unverhältnismäßige Belastung Griechenlands in Bezug auf die Einwanderung nicht akzeptieren wird. Kyriakos Mitsotakis wies insbesondere darauf hin, dass Griechenland seit Jahren eine Vorreiterrolle spiele und die EU-Grenzen entweder mit oder ohne finanzieller Unterstützung der EU schütze. Er sagt, dass der im vergangenen Frühjahr beschlossene EU-Pakt zu Migration und Asyl dabei gescheitert sei, einen fairen und effektiven Mechanismus zur obligatorischen Verteilung von ankommenden Flüchtlingen auf die Mitgliedstaaten der EU zu schaffen. In einer provokanten Erklärung behauptete Mitsotakis zudem, dass die deutsche Sozialpolitik «das Problem» geschaffen habe, indem sie attraktive Sozialleistungen für Migrant*innen anbiete. Deutschland müsse die Lage daher alleine in den Griff bekommen, ohne die anderen EU-Mitgliedstaaten zu belasten.

Mit dieser Bemerkung schürt Mitsotakis zweifellos die Ablehnung gegenüber Flüchtlingen in Griechenland. Wie argumentieren auf der anderen Seite die Menschenrechtsorganisationen gegen die Maßnahmen der deutschen Regierung?

Die Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Maßnahmen ebenfalls, allerdings aus der ganz anderen Perspektive des Flüchtlingsschutzes. Sie befürchten, dass die Maßnahmen den Druck auf die Grenzverfahren in Griechenland erhöhen und die legalen Zugangswege zu Asylverfahren weiter einschränken. Sie warnen, dass die gestiegene Verantwortung als Ersteinreiseland in Griechenland zu noch mehr illegalen Pushbacks durch die Küstenwache oder Grenzpolizei führen kann, um die Zahl der Personen zu verringern, die im Rahmen des Grenzverfahrens abgefertigt werden müssen. Es wird befürchtet, dass die Entscheidung Deutschlands, den Schengener Grenzkodex aufzuheben und Flüchtlinge nach Griechenland als erstem Ankunftsland zurückzuschicken, zur Überfüllung der Closed Controled Access Center (CCAC) auf den ägäischen Inseln führen wird. Die Gefängnisse erfüllen schon jetzt die EU-Aufnahmestandards nicht. Flüchtlinge und abgelehnte Asylbewerber*innen, die sich in Griechenland aufhalten, sind aufgrund komplexer und langwieriger Verfahren und struktureller Diskriminierung von den meisten Sozialleistungen ausgeschlossen. Es wird also eine Verschärfung ihrer ohnehin schlechten Situation befürchtet.

Wie fügen sich die neuen Maßnahmen der deutschen Bundesregierung Ihrer Meinung nach in die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ein, die im Frühjahr von der EU beschlossen wurde?

Deutschland führt wieder Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen durch. Gleichzeitig kündigte Deutschland an, die Verfahren der Dublin-Verordnung zu beschleunigen, um schneller zu prüfen, ob die Person, die in das Land einreist, bereits in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt hat. In einem solchen Fall könnte die Person nach Vereinbarung mit dem Land, in dem sie den ersten Asylantrag gestellt hat oder in den Schengen-Raum eingereist ist, zurückgeschickt werden. Diese Maßnahmen verdeutlichen den Zusammenhang zwischen dem Schengener Kodex und der Dublin-Verordnung. Beide wurden in den langwierigen Verhandlungen über den EU-Pakt zu Migration und Asyl, der die Mitgliedstaaten gespalten hat, geändert.

Der Schengen-Raum ist ein gemeinsamer europäischer Raum ohne Binnengrenzen und war der Grund für die Einrichtung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, um die Verfahren innerhalb dieses Raums zu regeln, zu harmonisieren und zu koordinieren. Sowohl der Schengener Kodex als auch die Dublin-Verordnung sind in der Vergangenheit kritisiert und geändert worden. Während der Verhandlungen über den Pakt wurde die Notwendigkeit einer Reform der Dublin-Verordnung allgemein anerkannt. Die seit langem erwarteten Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) trugen jedoch kaum zur Einführung eines solidarischen Umverteilungsmechanismus bei, und die Verantwortung für die Prüfung von Asylanträgen liegt nach wie vor bei den Mitgliedstaaten, in die die Flüchtlinge zuerst einreisen.

Darüber hinaus führt der Schengener Kodex den Begriff «ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Sicherheit» ein, der als letztes Mittel in Ausnahmesituationen angewendet werden kann. Da der Schengener Kodex den Mitgliedstaaten die Wiedereinführung von Grenzkontrollen auf eigenen Beschluss und nur nach Mitteilung an die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission erlaubt, wurden Bedenken hinsichtlich der Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit solcher Maßnahmen laut. Dennoch ist der Pakt «zerbrechlich», und die Mitgliedstaaten werden ihre Umsetzungspläne im Juni 2026 vorlegen. Das Risiko von Kettenreaktionen nach der vorübergehenden Aufhebung von Schengen durch Deutschland unter Berufung auf eine Sicherheitsbedrohung könnte zum Zusammenbruch des Pakts führen. In einem solchen Fall stellt sich die Frage, ob der Fall des einen (Dublin) einen schrittweisen Fall des anderen (Schengen) nach sich ziehen wird.

Ich glaube nicht, dass das Schengen-System wirklich am Ende ist.

Befürchten Sie tatsächlich ein Ende des Schengen-Systems, in dem die Kontrollen an den Binnengrenzen der EU in den letzten Jahrzehnten schrittweise abgeschafft wurden?

Ich glaube nicht, dass das Schengen-System wirklich am Ende ist. Es ist nicht das erste Mal, dass Deutschland oder andere Mitgliedstaaten die Freizügigkeit vorübergehend abschaffen und für einen Zeitraum von sechs Monaten Grenzkontrollen einführen, um sie dann wieder einzustellen. Die meisten EU Mitgliedstaaten sind dem Raum der Freizügigkeit beigetreten, und erst dieses Jahr wurden Bulgarien und Rumänien als Mitglieder aufgenommen. Der Schengen-Raum wird als Notwendigkeit angesehen, und die Mitgliedstaaten werden ihn nicht so einfach aufgeben. Eine ernste Sorge ist allerdings, wie andere Mitgliedstaaten auf die deutsche Entscheidung reagieren und ob sie dem deutschen Beispiel folgen werden. Das Risiko von Kettenreaktionen anderer Mitgliedstaaten, die eine Art von Sicherheitsbedrohung geltend machen, ist sogar noch alarmierender.

Mit großer Sorge wird in Griechenland auf den Nahen Osten geblickt. Die Zerstörung des Gazastreifens durch die israelische Armee hat bis zu zwei Millionen Palästinenser*innen obdachlos gemacht. Auch im Libanon sind Hundertausende auf der Flucht, darunter mindestens 300.000 Flüchtlinge, die ursprünglich aus Syrien geflohen sind. Wird es zu einer neuen Flüchtlingsbewegung über das Mittelmeer kommen, wie im griechischen Medien befürchtet wird?

In einem Interview mit Euronews sagte Ivo Freijsen, der UNHCR-Vertreter im Libanon, dass die einfachste Möglichkeit für diejenigen, die vor dem israelischen Vormarsch in das Land fliehen, darin bestünde, irgendwo anders im Libanon hinzugehen oder die Grenze nach Syrien zu überqueren. «Ansonsten besteht die Möglichkeit, mit dem Boot nach Zypern oder Europa zu gelangen», sagte er. Freijsen betonte, dass es heutzutage viel teurer, riskanter, logistisch schwieriger und weniger sicher sei, Europa als Ziel zu wählen. Trotz der damit verbundenen Kosten sei dies für viele jedoch immer noch eine Option. In diesem Sinne scheint auch die griechische Regierung eine neue Flüchtlingswelle zu befürchten. Daher erwägen die Behörden, die Kapazität der bestehenden Flüchtlingseinrichtungen zu erweitern und die Sicherheit der Grenzen zu verstärken. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Befürchtungen bestätigen und wie in einem solchen Falle der neue Pakt der EU umgesetzt werden würde.

Griechenland hat es versäumt, eine unabhängige und effektive Überwachung von Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen und Migrant*innen zu gewährleisten.

Im Februar verabschiedete das Europäische Parlament mehrheitlich eine Entschließung, in der es seine «tiefe Besorgnis über die sehr ernsten Bedrohungen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte» in Griechenland zum Ausdruck brachte. Dies betrifft auch die Situation von Migrant*innen und Flüchtlingen. Wie ist der Stand der juristischen Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen durch die griechischen Behörden wie die Küstenwache und die Polizei?

Griechenland hat es versäumt, eine unabhängige und effektive Überwachung von Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen und Migrant*innen zu gewährleisten. Es wurden ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Einklang mit den europäischen und internationalen Rechtsstandards geäußert. Aus diesem Grund gibt es neben der in Ihrer Frage erwähnten Entschließung des Europäischen Parlaments mehrere strategische Rechtsstreitigkeiten, die hauptsächlich von zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt werden, vor nationalen und EU-Gerichten. Ein solcher Fall ist die Schiffskatastrophe von Pylos, bei der vergangenes Jahr – mutmaßlich infolge des Vorgehens der griechischen Küstenwache – über 600 Flüchtlinge ertrunken sind. All diese Rechtsstreitigkeiten zeigen allerdings, dass der Rechtsweg aufgrund des Mangels an wirksamen und fairen Ermittlungen durch die zuständigen griechischen Behörden wenige Resultate zeigt.