Was ist wichtig? Nach 200 Prozesstagen und fast zwei Jahren NSU-Prozess wird es zunehmend schwieriger, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zu viele Prozesstage, zu viel Stoff, zu viele Details, zu viele Zeugen, zu viel Pausen, zu viel Leerlauf und gleichzeitig zu viel Geschehen im Saal A101 in München, das sich allenfalls noch anekdotenhaft darstellen lässt.
Die Aufregung der Wochen vor dem Prozess als zwei turbulente und von allen Medien gehypte Akkreditierungsrunden uns im April 2013 in Atem hielten und als viele Medienschaffende noch dachten, mit ihrer Zulassung zum Verfahren das große Los gezogen zu haben, ist verflogen. Einige der Auserwählten sind sich unterdessen nicht mehr so sicher, ob das Losglück nicht letztlich ein Fluch war. Nicht nur der monströse Inhalt des Verfahrens, ebenso die Arbeitsbedingungen im Münchener Gerichtsbunker sind auch für hartgesottene Berichterstatterinnen und Berichterstatter enorm belastend.
Verstörend auch der Umgang des Vorsitzenden Richters Götzl mit den unterdessen rund 50 Zeuginnen und Zeugen aus der Nazi-Szene und etlichen vorgeladenen ehemaligen Nazi-V-Männern: gewiss nicht zu früh brach es am 199. Prozesstag aus Nebenklageanwalt Yavuz Narin – er vertritt die Familie Boulgarides – heraus. Er schäme sich, so bekannte Narin, wenn er außerhalb des Gerichtssaals gefragt werde, wie es sein könne, dass offensichtlich lügende Nazis stets ungeschoren den Gerichtssaal verlassen und sich im Anschluss im Internet oder in Sozialen Medien verächtlich über das „Affentheater“ in München äußern könnten. Narin sagte, er würde sich wünschen, dass Richter Götzl mal in der Weise, wie er mit ihm und anderen Nebenklage-Anwält_innen umspringe, auch mal Nazi-Zeugen auf die Hörner nehmen würde. Tatsächlich legt der große Vorsitzende, der den Prozess eisern autokratisch lenkt, eine erstaunliche und inzwischen kaum noch nachvollziehbare Langmut an den Tag, die den offenen Lügen, vorgeschobenen Erinnerungslücken, frechen Provokationen und dreisten Auftritten in keiner Weise mehr angemessen scheint.
Gegenüber der Nebenklage aber fährt der Richter schon beim geringsten Anlass einen irgendwie hilflos wirkenden Jähzorn hoch, der eher peinlich berührt als einschüchtert. Die rechte, terroraffine Szene im Lande lacht sich schon jetzt ins Fäustchen. Und das ist für den Umgang mit dieser dunkelbraunen Klientel nichts weniger als fatal.
Auch gegenüber der nach wie vor aus kaum noch nachvollziehbaren Gründen von ihrer Verteidigung zum Schweigen verdonnerten und sich stur unbekümmert gebenden Hauptangeklagten legt Richter Götzl eine exquisite Rücksichtnahme an den Tag. Ihr Wohlbefinden ist ein ums andere Mal Thema und sorgt weiter eher für Ent-, denn für die vielbeschworene Beschleunigung des Verfahrens: zuletzt reduzierte Götzl aufgrund des „psychischen Drucks“, der auf Frau Zschäpe laste, die wöchentliche Frequenz der Verhandlung von drei auf zwei Tage – mit unabsehbaren Folgen für die Gesamtdauer des Verfahrens, das schon jetzt bis Januar 2016 terminiert ist. Für alle aus allen Himmelsrichtungen zum Teil nach Tagesreisen eintreffenden Prozessbeteiligten und Dauergäste im Saal des Münchener Oberlandesgerichts schlicht ein Alptraum.
Dabei durften andere Tendenzen in der Verhandlungsführung des Vorsitzenden durchaus hoffnungsfroh stimmen: auch Götzl scheint inzwischen klar zu sein, dass die hartleibige Grundthese der Anklage, es habe sich beim NSU um eine isolierte Dreierzelle gehandelt und ein winziges Unterstützer_innen-Umfeld, so keinesfalls haltbar ist. Sonst hätte er die zahlreichen Szene-Zeugen ja auch nicht geladen, die er dann irgendwie lustlos und langatmig bei ihren unverschämten Auftritten gewähren lässt. Auch dem Verdacht, dass zumindest Teile des Verfassungsschutz genannten Inlandsgeheimdienstes tiefer in das Geschehen verstrickt sein könnten als es die Begriffe „Pannen“ und „Versagen“ suggerieren, gibt der Vorsitzende mehr Raum als der Bundesanwaltschaft lieb sein kann: vom besonders zwielichtigen hessischen Landesamt lud Götzl Mitarbeiter bis hinauf zum damaligen Behördenleiter mit dem sprechenden Namen Irrgang vor.
Diejenigen aber, die große Hoffnungen auf den Prozess und die Aufklärung der Verbrechen der Nazi-Terroristen gelegt hatte, bleiben dem Verfahren weitgehend fern. Für die Angehörigen der Mordopfer und die Betroffenen der Bombenanschläge des NSU bleibt der Prozess in dieser Form eine Zumutung. Ihre Ansprüche und Forderungen bleiben höchstens Randnotiz, die Aufmerksamkeit für ihre Leiden ist am Schwinden. Zu Beginn des Jahres rückte die „Abarbeitung“ des Nagelbombenanschlages in der Keupstraße noch einmal den Horror der Anschläge und das Trauma der vielen Betroffenen in den Mittelpunkt. Als Wochen später zum 190. Prozesstag am 5. März 2015 noch einmal ein psychiatrischer Gutachter über die Verletzungen und schwerwiegenden psychischen Folgen der Bombe für den am schwersten Verletzten berichtete, aus dessen Körper neun 10 Zentimeter lange Zimmermannsnägel entfernt werden mussten, nahm kaum jemand den in diesem Bericht enthaltenen Skandal zur Kenntnis: dass nämlich der 2004 schwer Verletzte und Traumatisierte 8 (in Worten: acht) Jahre lang um seine Anerkennung als Opfer gemäß Opferentschädigungsgesetz (OEG) kämpfen musste. Acht Jahre: unfassbar.
Für zusätzliche Irritation sorgen die bizarren Erkenntnisse der neu eingesetzten Parlamentarischen Untersuchungsaausschüsse der „zweiten Welle“ in Baden Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen, die bestimmte Ermittlungsaspekte, die im Prozess in München schon abgeschlossen waren, neu aufrollen und zu Erkenntnissen kommen, die zum Teil über die Ergebnisse des Münchener Verfahrens hinausgehen oder andere – für die Beurteilung des monströsen NSU-Komplexes – hochbrisante Dinge zutage fördern. Das Innen des in seinem Betonsarkophag hermetisch inszenierten Münchener Verfahrens scheint in keinem Zusammenhang mit dem Geschehen außerhalb zu stehen und das führt zu einer verstörenden Ungleichzeitigkeit, die angesichts weiterer Untersuchungsausschüsse wie etwa den Neuauflagen in Sachsen und Thüringen eher noch zunehmen dürfte.
Und schließlich die viel beschworene gesellschaftliche Auseinandersetzung über Rassismus, Alltagsrassismus, staatlichen und institutionellen Rassismus, über die verheerende Rolle der Inlandsgeheimdienste in einer offenen Gesellschaft und angemessene Konsequenzen aus der NSU-Katastrophe für diese Dienste? Fehlanzeige! Außer einer ganzen Reihe, zum Teil ausgezeichneter künstlerischer und theatraler Versuche des Umgangs mit dem Horror NSU gibt es wenig wirklich greifbare und angemessene politische Reaktionen. Im Gegenteil: es drängt sich der Verdacht auf, dass den Inlandsgeheimdiensten nichts besseres hat passieren können als der NSU: sie kommen nicht nur nahezu ungeschoren davon, sondern etliche Verantwortliche haben steile Karrieren gemacht und die Dienste werden mit zusätzlichen Millionenbudgets, Personalaufstockungen und neuen, sehr weit gehenden Kompetenzen ausgestattet.
Zwei Jahre Prozess, 200 Prozesstage: definitiv kein Grund zum Feiern oder für entspanntes Zurücklehnen.