Die Wissenschaftlerinnen Dina Wahba und Nayera Abdelrahman denken mit ihrer Arbeit neu über Migration und home making nach. Sie wollen den engen Rahmen der Wissenschaft verlassen und breiter in die Gesellschaft wirken. Ihr Anliegen ist es, geschützte Räume für persönliche Begegnungen und kreative Ausdrucksformen im Kontext von Exil und Migration zu schaffen.
Ein Workshop im März 2019 in Berlin war der Auftakt zu einer Serie von home making Veranstaltungen. Mit Podcasts, Installationen und Storytelling waren junge Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Künstler*innen dazu angeregt, ihre Erfahrungen einzubringen und neue Ideen zu den Themen Identität, Zuhause und Zugehörigkeit zu entwickeln. Zum Abschluss des Workshops stellte eine Gruppe ihre künstlerische Installation vor, bei der sie Erinnerungsstücke mit meist weggeworfenen Gegenständen aus Berlin verbunden hat: « … Wir haben uns erlaubt, uns mit unseren Körpern und Gedanken zu verbinden und uns von unseren Erinnerungen inspirieren zu lassen, unseren Erfahrungen von Aufbruch und Veränderung, ebenso wie von den Objekten um uns herum (...) Unsere Hoffnung war groß – die größte wohl die Hoffnung auf ein Zuhause, auf Schutz und auf Sicherheit. Aber wir waren auch von den kleinsten Dingen inspiriert, wie zum Beispiel den Quasten am Schleier von Hanaa’s Großmutter, die im Nildelta in Ägypten lebte. Diese haben wir mit Flaschendeckeln verarbeitet, die wir am Maybachufer aufgesammelt hatten.»
Tanja Tabbara sprach mit beiden über ihren Workshop in Berlin.
Tanja Tabbara: Euer Workshop und die öffentliche Veranstaltung zu Exil und home making im März in Berlin waren ein voller Erfolg. Wie kamt Ihr auf die Idee zu diesem Workshop?
Dina Wahba: Wir leben beide seit zwei Jahren in Berlin. Es ging uns darum, unsere eigene Erfahrung und die Erfahrungen der Menschen um uns herum besser zu verstehen. Wir wollten auch herausfinden, ob insbesondere bei jungen Wissenschaftler*innen grundsätzlich ein Interesse besteht, sich etwas experimenteller zu versuchen, jenseits der Wissenschaftsinstitutionen und gemeinsam etwas zu machen, was Wissenschaft mit künstlerischen Ausdruckformen verbindet.
Nayera Abdelrahman: Der Workshop war eine gute Gelegenheit, unsere eigenen Kapazitäten in einer neuen Umgebung zu testen - in Berlin und nicht in Kairo, wo wir herkommen. Es war für uns eine Herausforderung, etwas außerhalb unserer Komfortzone zu gestalten.
Warum habt Ihr euch entschieden, mit Installationen, Podcasts und Storytelling zu arbeiten?
Nayera: Mich haben ähnliche Workshops in Ägypten dazu inspiriert, die die besonderen Geschichten marginalisierter Gemeinschaften mit unterschiedlichen geschichtlichen Quellen untersuchen und die diese Geschichten dann neu erzählen und mit künstlerischen Mitteln zu Leben erwecken. Wir wollten die Wissenschaft aus der Ecke des «geschriebenen Wortes» herausrücken.
Dina: Wir wollten mit dem Workshop das Bild des/der objektiven Wissenschaftlers/Wissenschaftlerin, der/die ein wissenschaftliches Objekt analysiert, dekonstruieren. Stattdessen haben wir uns selbst in die Forschung eingebracht und unsere eigenen Erfahrungen und Interessen untersucht, um so einen anderen Blick auf uns selbst zu gewinnen. Wie passen unsere eigenen Geschichten zu denen unseres Gegenübers? Der Workshop war auch in sich selbst eine home making Erfahrung für uns. Es war ein Weg, Berlin zu unserem Zuhause zu machen.
Was hat euch insbesondere in Bezug auf Gender im Kontext von Migration und home making interessiert?
Es ist faszinierend zu sehen, wie das Konzept von «Zuhause» extrem geschlechtsspezifisch ist. In Ägypten zum Beispiel ist seit Jahrhunderten das Zuhause der Bereich der Frauen. Es ist ein begrenzter Raum im patriarchalischen System. Als ich jetzt nach Deutschland kam und mir hier mein Zuhause geschaffen habe, habe ich angefangen, zu denken, dass es komplizierter ist, als nur zu sehen, dass im Machtkampf der Geschlechter das Zuhause den Frauen gehört. Geschlechtergleichheit im häuslichen Bereich ist durchaus eine Möglichkeit. Das kann ermächtigend sein. Insbesondere im Migrationskontext wo ich erlebt habe wie Frauen bestimmte Aspekte ihres früheren Zuhauses reproduziert haben. Im Workshop haben wir diskutiert, wie einige von uns gerne bestimmte Aspekte ihres früheren Zuhauses, zum Beispiel ein bestimmtes Gefühl von Wärme und Herzlichkeit, reproduzieren wollen aber nicht die Gendernormen mit denen wir aufgewachsen sind. Gemeinsam haben wir darüber nachgedacht und dabei versucht stereotype Vorstellungen von «das ist das Patariarchat» versus « das ist die Freiheit» oder «das ist Deutschland» versus «das ist Ägypten» zu vermeiden. Wir waren interessiert daran, die genauen Machtdynamiken zu verstehen.
Ihr habt den Workshop zu einem Raum erklärt, bei dem Dinge «verlernt» werden sollen oder dürfen. Was meint Ihr damit?
Dina: Die deutschen und niederländischen Teilnehmer*innen waren alle Wissenschaftler*innen, die zum Nahen Osten arbeiten. Es war interessant zu sehen, wie sie ihren Platz in der Gruppe ausgehandelt und gefunden haben und wie sie über ihre eigenen Standpunkte als Wissenschaftler*innen und als Europäer*innen nachgedacht haben. Sie fühlten sich aufgehoben genug, ihre eigenen Privilegien und Haltungen kritisch zu hinterfragen. Einmal kam es zu einer Szene, wo eine Ägypterin darüber sprach, wie sehr sie unter Rassismus in Deutschland litt. Am Ende des Gesprächs weinte der deutsche Teilnehmer. Es war ein herzzerreißender Moment als die junge Frau sagte, wie traurig sie jede Mal wurde, wenn sie ihr gemeinsames Podcast, auf das beide sehr stolz waren, anhörte. Beeindruckt hat mich, dass es uns gelungen war, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen sich wirklich zuhörten. Von Anfang an war uns sehr wichtig und haben wir betont, dass es nicht darum gehen dürfte, die Erfahrungen anderer zu bewerten.
Nayera: Das Persönliche ist politisch. Die meisten Podcasts und Geschichten, die während des Workshops entwickelt wurden waren persönliche Geschichten. Und durch diese Geschichten wurden Machtverhältnisse umgedreht. Wir leben in Berlin und daher ist die Wissenschaft natürlich entsprechend sehr westlich orientiert. Aber im Workshop hatten wir Gelegenheit anders zu denken. Für viele der teilnehmenden Wissenschaftler*innen war es das erste Mal, dass sie die Möglichkeit hatten sich anders als nur über das Schreiben auszudrücken, indem sie eine Installation gemacht oder eine Geschichte erzählt haben und Teil eines Gruppenprozesses waren.
Ihr habt auch über die Themen Gewalt, Trauma und homelessness gesprochen. Könnt Ihr dazu mehr sagen?
Dina: Die Träume und Erwartungen im Migrationsprozess waren ein wichtiges Thema. Auch wenn es darum ging, Exil aus hoffnungsvoller Perspektive zu betrachten, wollten wir nicht die damit verbundenen gewaltsamen Erfahrungen ignorieren. Als wir die Träume eines besseren Zuhauses diskutiert haben, haben wir auch die Traumata auf dem Weg dahin besprochen. Insbesondere auch, wie ein Trauma zu dem Gefühl von Heimatlosigkeit oder Heimatverlust führen kann. Und wie du dich in deinem eigenen Land im Exil fühlen kannst. Es gibt Menschen, die zwar kein physisches Exil in einem anderen Land erlebt haben, aber die sich aufgrund der Gewalt, die sie in ihrem eigenen Land erlebt haben, heimatlos fühlten. Für sie wurde der Gedanke zu migrieren und sich in einem anderen Land ein Zuhause zu schaffen zu einer ermächtigenden Vorstellung. Es war uns wichtig zu sehen, wie Migration ermächtigend sein kann, wenn du eine Erfahrung der Entfremdung in deinem eigenen Land durchgemacht hast.
Wir waren auch neugierig, die Chancen und Möglichkeiten zu betrachten, die sich mit Migration ergeben. Besonders als Frauen kämpfen wir oft damit, uns in unserem Körper zu Hause zu fühlen. Daher wollten wir auch allen die Gelegenheit geben, über die Möglichkeiten, sich in einer neuen Umgebung neu zu erfinden, zu sprechen.
Über welche spezifischen home making Praktiken habt ihr gesprochen?
Nayera: Aus meiner eigenen Erfahrung: Wo immer ich hingehe habe ich das Bedürfnis, etwas an die Wand zu hängen. Das hat eine Geschichte, da ich in Ägypten manchmal das Gefühl hatte, dass mir der Raum in dem ich lebte, nicht gehörte. Wenn ich heute auf Reisen bin muss ich immer zuerst mein Zimmer verändern. Was mir fehlt sind die Geräusche, oder sagen wir besser, der Lärm in Ägypten! Es ist mir daher ein Bedürfnis, immer viele Freunde zu mir einzuladen. Ich mag es nicht, alleine zu Hause zu sein. Wenn mein Mann nicht da ist lade ich jemanden ein. Ich bin in einem Haus aufgewachsen, das immer voller Menschen war.
Dina: Essen ist sehr wichtig für uns. Während des Workshops haben wir jeden Tag diskutiert, was wir zu Mittag essen wollten und wir haben die Teilnehmer*innen eingeladen, ihr eigenes Essen mitzubringen, was immer jemanden an zu Hause erinnert hat.
Was hat euch im Kontext von home making am meisten interessiert?
Dina: Für mich war die Diskussion in Deutschland um die «Parallelgesellschaft» wichtig. Darum haben wir bei einer Sitzung die Sonnenallee (Straße in Berlin-Neukölln, auf die sich manchmal als «arabische Straße» bezogen wird – Anm.d.V.) diskutiert. Wir alle engagieren uns auf unterschiedlichste Art und Weise um diesen Ort zu unserem Zuhause zu machen. Es geht nicht darum, sich herauszuziehen oder zu versuchen, eine Parallelgesellschaft aufzubauen, sondern etwas von sich einzubringen um diesen Ort zum eigenen Zuhause zu machen. Wir romantisieren nicht alle home making Praktiken. Wir sind sehr kritisch, was unsere eigene Gesellschaft angeht, Aber man muss anerkennen, dass es bei bestimmten Praktiken, wie in der Gastronomie, oft darum geht, sich den Ort anzueignen.
Wir hatten zwei Vorträge über die Sonnenallee, einen von einem türkischen Wissenschaftler, Samil Sarikaya, der u.a. über die Spannungen zwischen den arabischen und türkischen Gemeinschaften sprach. Und Iskandar Abdalla, ein ägyptischer Wissenschaftler, sprach darüber wie wir anders denken müssen bei dieser Straße. Wie wichtig es ist, andere Geschichten vorzustellen, die den Narrativen der Mainstreammedien über die Sonnenallee als «no go» Gegend etwas entgegen setzen. Er hat uns die Geschichten der Mainstreammedien über die arabischen Clans vorgestellt. Dann hat er uns ein sehr schönes künstlerisches Foto von einem Baum mit gefärbten Blättern gezeigt, dass er im Herbst in der Sonnenallee aufgenommen hatte. Das ist auch die Sonnenallee, hat er gesagt. Du kannst eine «no go» Gegend mit arabischen Clans in die Sonnenallee projizieren, aber auch die Schönheit des Ortes.
Nayera: Jede Darstellung ist auch eine falsche Darstellung ... Wir wollten die Probleme des wirklichen Lebens visualisieren, wie die Situation der Arbeiter in der Sonnenallee, die bei ihrer Arbeit nicht gut behandelt und auf dem Schwarzmarkt nicht gut bezahlt werden.
Habt Ihr auch über die zunehmende Stärke von rechtsradikalen Bewegungen gesprochen? Haben die Leute Angst?
Nayera: Wir haben natürlich über home making in einem politischen Kontext gesprochen. Es war klar, dass viele von uns einen sehr kritischen Blick auf das Konzept von «Heimatd haben.
Dina: Aber wir haben auch die Erfahrung von Rassismus in unseren eigenen Gemeinschaften angeschaut. Es war uns wichtig, uns selbst nicht zu romantisieren, sondern auch hier kritisch zu sein. Die weiblichen Workshop Teilnehmerinnen waren sehr deutlich hinsichtlich der verschieden Formen von Rassismus in unseren eigenen Gemeinschaften. An dieser Stelle kommt Intersektionalität ins Spiel. Viele Frauen haben sowohl Rassismus als auch Sexismus erfahren und – um nur ein Beispiel zu nennen – ziehen es daher vor, die Sonnenallee zu meiden. Trotzdem, es ist wichtig, auch Erfahrungen von Rassismus in Deutschland anzuerkennen – aus jedermann’s Perspektive.
Wie wollt ihr weiter machen?
Wir sind interessiert daran, kollektiv und kreativ zu denken und zu arbeiten. Wie können wir Wissen produzieren ohne in eine populistische Falle zu gehen? Wie können wir uns aus der akademischen Blase heraus bewegen und uns engagieren? Das sind Fragen, denen wir nachgehen wollen. Darum wollen wir, anstatt nur zu schreiben und zu veröffentlichen, auch in der Zukunft Räume für Wissensproduktion und Diskussionen anbieten, die dann hoffentlich auch in eine größere gesellschaftliche Bewegung einfließen können.
Dina Wahba promoviert gerade an der Freien Universität Berlin zu «Politics, Emotion and Affect within the dynamics of tahrir square». Dina ist Frauenrechtsaktivistin, die zu einer Reihe von Gender Themen gearbeitet hat, wie sexueller Gewalt, politischer Partizipation und Ermächtigung. Ihre kürzlich veröffentlichte Masterarbeit trägt den Titel «Gendering the Egyptian Revolution».
Nayera Abdelrahman promoviert an der Berliner Graduiertenschule für muslimische Gesellschaften und Kultur an der Freien Universität Berlin. Ihr Forschungsprojekt untersucht das Konzept von «Zuhause» anhand der Zwangsumsiedelungen von Suezkanaldörfern in Ägypten 1967. Nayera hat die ersten Geschichtsworkshops in Ägypten co-organisiert (Ehky ya tarikh), um die sozialen und politischen Geschichten marginalisierter Gemeinschaften in Ägypten zu untersuchen, die mit künstlerischen Mitteln nacherzählt wurden.
Interview und Übersetzung: Tanja Tabbara, Rosa-Luxemburg-Stiftung
Das Interview ist zuerst erschienen bei «Wir machen das».