Die Bundesregierung diskutiert seit Wochen eine Erhöhung des Mindestlohns. Kräftig soll sie ausfallen. Von 9,19 auf zwölf Euro – wenn es nach dem Willen der SPD geht.Für die führende Hartz-IV-Partei ein riesiges Eingeständnis, 15 Jahre etwas falsch gemacht zu haben. Zugeben will sie das natürlich nicht. Der andere Teil der «Groko» will eigentlich keine Erhöhung und verschanzt sich hinter der regierungsamtlichen Mindestlohnkommission, mit der das Ziel der SPD voraussichtlich wohl nicht zu erreichen sein wird.
Thomas Händel ist stellvertrender Vorsitzender der RLS. Von 2009 bis 2019 war er Abgeordneter im Europaparlament und Vorsitzender des Beschäftigungsausschusses.
Was dann wann kommt, steht in den Sternen. Doch selbst mit den zwölf Euro wäre das Klassenziel nicht erreicht. Wollte man wirklich einen armutsfesten Mindestlohn konstituieren, wären 13 Euro anzustreben. Das ist beileibe keine Feilscherei um den einen Euro, sondern die Höhe eines armutsfesten Mindestlohns nach OECD-Kriterien. Demnach gilt als armutsfest ein Verdienst von 60 Prozent des jeweiligen nationalen Nettoäquivalenzeinkommens. In Deutschland wären das entsprechend der Definition des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung 60 Prozent des nationalen Durchschnittsverdienstes, also 2.262 Euro monatlich.
Selbst der Wirtschaftsflügel der CDU wackelt. Einzig das neoliberale Bollwerk FDP steht wie ein Fels in der Brandung und selbstredend die Wirtschaftsverbände. Wieder hören wir die ewige Ode «vom Standortnachteil und dem drohenden Niedergang», würde dieses Vorhaben Realität. Das ist nicht neu, aber immer noch falsch. Gleiches wurde bereits bei der Einführung des jetzigen Mindestlohns prognostiziert. Den «schlechten Zustand» kann man die letzten Jahre verfolgen. Von drohendem Ruin keine Rede.
Missachtet wird dabei die ökonomische Schulweisheit, dass in einer Volkswirtschaft das Einkommen der Einen immer auch das Auskommen der Anderen ist. Zwar wird zum Beispiel die berühmte Semmel durch den höheren Mindestlohn geringfügig teurer. Das wird über den Preis weiter gegeben und trifft natürlich auch diejenigen, die von dem höheren Mindestlohn selbst partizipieren. Da sich deren Einkommen durch einen höheren Mindestlohn auch verbessert hat, bleibt das ein Null-Summen-Spiel. Und für Höherverdienende werden ein bis zwei Cent kaum ins Gewicht fallen.
Wesentliches Instrument der Armutsbekämpfung
Etliche Studien versuchen nun den Nachweis, die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns führe zwar zu einer Erhöhung der Bruttostundenlöhne der betroffenen Arbeitnehmer*innen, nicht jedoch zu höheren Monatseinkommen, da im Gegenzug die Wochenarbeitszeit sinken würde. Den Nachweis dafür bleiben sie aber schuldig. Zumindest in Deutschland lag laut Statistischem Bundesamt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit vollzeitbeschäftigter Erwerbstätiger 2018 bei 41 Stunden und ist seit 1991 damit weitestgehend stabil. Und was das Argument betrifft, die Armutsgefährdung nähme durch den Mindestlohn bzw. dessen Erhöhung ebenfalls nicht ab: In den Ländern Europas, die heute schon mindestens in die Nähe dieses Mindestlohnniveaus kommen - Luxemburg, Portugal, Slowenien und Frankreich – ist auch die Armutsgefährdungsquote unterdurchschnittlich niedrig.
Vermutet hatten die Forscher, ein Anstieg der Beschäftigung ginge mit einem geringeren Armutsrisiko einher. Tatsächlich ist aber der Anteil sogenannter atypisch Beschäftigter gestiegen, die in Teilzeit, Leiharbeit, befristet oder als Minijobber arbeiten. Neben einer geringeren Arbeitszeit gehen diese Beschäftigungsverhältnisse oft mit niedrigeren Löhnen einher.
Europa verzeichnet seit der neoliberalen Deregulierung der Arbeitsmärkte einen Anstieg der prekären Beschäftigung auf rund 40 Prozent - häufig gekennzeichnet durch Armutslöhne. Seit 2008 ist die Quote der von Armut bedrohten Menschen gerade einmal von 23,7 auf 22,5 Prozent zurückgegangen.
Europäisches Mindestlohnniveau
Ein wesentliches Instrument dagegen wäre die Einführung eines europäischen Mindestlohnniveaus. Lägen die Löhne künftig auf einem Niveau von 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnittsverdienstes, wäre die Not, aus Armut auswandern zu müssen, geringer. Der Nachschub von billigen Arbeitskräften, die trotz deutschem Mindestlohn, aber völlig unzureichender Kontrolle der staatlichen Aufsichtsbehörden, in Hinterhofbuden, in etlichen Betrieben der Gastronomie und Hotellerie zu Armutslöhnen arbeiten müssen, wäre wenigstens gemindert.
Ein neuer Anlauf
Die neue Kommission scheint nun - trotz widriger politischer Verhältnisse und verschlechterter Mehrheitsverhältnisseim Europa-Parlament - entschlossen, das Thema angehen zu wollen. Der neue Kommissar für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, der Luxemburger Nicolas Schmit, äußert sich in erfrischender Klarheit: «Die Würde der Arbeit ist heilig. Innerhalb der ersten 100 Tage meines Mandats werde ich ein Rechtsinstrument vorschlagen, um sicherzustellen, dass jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen fairen Mindestlohn hat. Dies sollte ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, wo immer sie arbeiten. Mindestlöhne sollten gemäß den nationalen Traditionen durch Tarifverträge oder gesetzliche Bestimmungen festgelegt werden. Ich glaube fest an den Wert des sozialen Dialogs zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, den Menschen, die ihren Sektor und ihre Region am besten kennen. (...) Bis 2024 sollte jede/r ArbeitnehmerIn einen fairen Mindestlohn haben."
Und an anderer Stelle stellt Schmit klar: "Es geht nicht darum, ein einziges EU-Lohnniveau festzulegen." Er lege besonderes Augenmerk auf die Sozialmodelle der verschiedenen Mitgliedstaaten. "Wir haben ... in fast jedem Land eine Art Mindesteinkommen. Aber sie sind sehr unterschiedlich, sehr niedrig in einigen, höher in anderen, und man könnte sagen, das ist Subsidiarität: Nein, es gibt Gemeinsamkeiten und ein gemeinsames Interesse daran, jedem europäischen Bürger ein menschenwürdiges Leben zu garantieren. (...) Dieser Rahmen für Mindestlöhne wird also keineswegs - ich sage es ganz klar - das System der Tarifverhandlungen in Frage stellen.» (Zitate aus der Anhörung Nicolas Schmitim Europaparlament, 1.10.2019)
Es tut sich was
Ein Europäischer Mindestlohn kann natürlich kein nominal einheitlicher Mindestlohn sein. Laut dem jüngsten WSI-Mindestlohnbericht bewegen sich die nationalen Mindestlöhne innerhalb der EU derzeit in einer Bandbreite vonrundzwölf Euro pro Stunde in Luxemburg und weniger als zwei Euro pro Stunde in Bulgarien - eine extrem große Spanne. Laut «europäischer Säule sozialer Rechte» sollen Mindestlöhne allen Beschäftigten in der Union einen «angemessenen Lebensstandard» ermöglichen. Die jetzigen nationalen Mindestlöhne in vielen EU-Staaten sind Armutslöhne, liegen sie doch unter dem jeweiligen Existenzminimum. Ziel einer europäischen Mindestlohnpolitik muss es sein, überall existenzsichernde Mindestlöhne durchzusetzen.
Dafür braucht man ein Maß. Pragmatisch könnte dies dadurch erreicht werden, dass alle Mindestlöhne in der EU auf 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnittsverdienstes angehoben werden – wie dies auch vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) gefordert wird.
Offensichtlich fruchten die Argumente zur Armutsbekämpfung - zwar langsam aber merklich.
Laut EU-Transparency-Register wurden in den letzten Jahren in mehreren Ländern die Mindestlöhne angehoben. Die gesetzlichen Mindestlöhne stiegen zwischen 2017 und 2018 in fast allen Ländern - mit Ausnahme von Deutschland, Griechenland, Luxemburg und Belgien.
Estland verabschiedete 2018 eine Erhöhung des Mindestlohns, Irland ebenfalls. Spanien hat mit einem Gesetz, das mit den Sozialpartnern vereinbart wurde, den Mindestlohn 2018 gegenüber 2017 um vier Prozent angehoben, und für 2019 wurden weitere Anhebungen vorgeschlagen. In Kroatien wurden neben der Anhebung des Mindestlohns zusätzliche Einkünfte aus Überstunden, Nachtarbeit oder Ferienarbeit aus der Definition des Mindestlohns ausgenommen.
Lettland, Ungarn und die Slowakei und Bulgarien haben den Mindestlohn angehoben, das Vereinigte Königreich erhöhte den sogenannten nationalen Lebensunterhaltslohn und den nationalen Mindestlohn für junge Arbeitnehmer*innen.
In den Niederlanden wurde der Mindestlohn für junge Arbeitnehmer*innen angehoben, in Deutschland ein Mindestlohn für Leiharbeitnehmer*innen eingeführt.
Es kommt also etwas in Bewegung
Nun könnte der Eindruck entstehen, angesichts der beschriebenen Entwicklungen sei gar kein Handlungsdruck gegeben. Mitnichten: Selbst nach den Anhebungen der letzten Jahre sind die meisten Mindestverdienste zum Teil immer noch meilenweit von der Armutsgrenze entfernt.
Ein europäischer Rahmen oder eine Richtlinie über ein Mindestlohn-Niveau ist also dringend nötig.
Und ganz im Gegensatz zur land- und partei-läufigen Haltung, in diesem Europa könne man «politisch ja ohnehin nix bewegen»: Wenn sich schon ein veritabler EU-Kommissar an die Spitze der Bewegung stellt, verdient er unsere volle Unterstützung - aus Berlin und aus dem Europäischen Parlament.
Vielleicht geht ja doch was in Richtung soziales Europa.