Nachricht | Kapitalismusanalyse - Wirtschafts- / Sozialpolitik - International / Transnational - Globalisierung - Gesellschaftstheorie - Globale Solidarität Globale Solidarität als praktische Kritik der imperialen Lebensweise

Was ein neuer Internationalismus berücksichtigen sollte

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Ulrich Brand
Ulrich Brand, Ko-Autor von «Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus». Foto: Privat.

Die kapitalistische Globalisierung und die damit einhergehenden wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ökologischen Verwerfungen sind zuvorderst eine Strategie von imperialen Staaten und des Kapitals. Sie basiert aber auch auf dem ganz normalen Alltag vieler Menschen im globalen Norden. Um einige Sachverhalte auf den Begriff zu bringen, die ein zeitgemäßer Internationalismus und globale Solidarität gegen die Zumutungen der kapitalistischen Globalisierung berücksichtigen müssen, haben Markus Wissen und ich das Konzept der «imperialen Lebensweise» vorgeschlagen.

Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und seit vielen Jahren Vertrauensdozent und Mitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Gemeinsam mit Markus Wissen verfasste er das Buch «Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus» (oekom-Verlag 2017), das 2020 in fünf anderen Sprachen erscheint. Im Juni 2020 erscheint sein neues Buch «Post-Wachstum und Gegen-Hegemonie. Klimastreiks, Krise der imperialen Lebensweise und Alternativen zur autoritären Globalisierung» (VSA-Verlag).

Möglich wird diese imperiale Lebensweise dadurch, dass Unternehmen und Beschäftigte im Produktionsprozess, der öffentliche Sektor oder Menschen im (Konsum-)Alltag der auf die billigen Ressourcen und billige Arbeitskraft andernorts zugreifen – und dieser Zugriff oft mit Leid, Ausbeutung, Erniedrigung von Menschen und ökologischer Zerstörung einhergeht. «Andernorts» bedeutet auch Zugriff innerhalb der Gesellschaften des globalen Nordens. Für die einen entsteht so Handlungsfähigkeit und materieller Wohlstand, aber auch – so politisch erkämpft und gewollt – eine funktionierende öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Für andere bedeutet es eine fortschreitende Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und eine Verfestigung von Abhängigkeitsverhältnissen.

Die Widersprüchlichkeit der imperialen Produktions- und Lebensweise liegt zum einen darin, dass viele Menschen gleichzeitig teilweise Nutzen daraus ziehen – etwa beim Kauf günstiger Produkte – und leiden, wenn sie ihre Arbeitskraft unter Bedingungen der Konkurrenz verkaufen müssen. Zum anderen erzeugt die imperiale Lebensweise zwar Zwänge, wenn ebenso gearbeitet und gelebt werden muss und Alternativen schwierig sind. Oder wenn Statuskonsum den Kauf neuer Produkte nahelegt, obwohl das gar nicht gewollt ist. Doch in der Regel – das ist ein zweiter Widerspruch – wird dieser Zwang nicht als solcher empfunden.

Diese Lebensweise ist eng verbunden mit Kolonialismus und dem sich entwickelnden Kapitalismus und setzte sich, bei allen Unterschieden, im Nachkriegskapitalismus in den Gesellschaften des globalen Nordens weitgehend durch. Durch den Globalisierungsprozess der letzten 30 Jahre wurde sie durch den verstärkten Zugriff auf Arbeitskraft und Ressourcen andernorts sowie durch die Digitalisierung mit ihrem hohen Ressourcenverbrauch weiter vertieft. Systematisch greifen die Menschen verstärkt auf Ressourcen, auf High-Tech-Geräte, aber auch auf T-Shirts, Autos, Nahrungsmittel und anderes zu, die insbesondere unterbezahlte Arbeitskräfte im Süden produzieren. Subjektiv erleben das viele Menschen als Wohlstand. Aber auch die neoliberalen Spaltungen im globalen Norden, die Ausweitung des Billiglohnsektors und verstärkte Ressourcennutzung vertiefen die imperiale Lebensweise.

Bewusstsein versus Einkommen

Die imperiale Lebensweise bedeutet nicht, dass alle Menschen im Norden gleich leben. Studien belegen vielmehr, dass die Größe des ökologischen Fußabdrucks weniger vom Bewusstsein abhängt, sondern vor allem vom Einkommen. Wer ein höheres Einkommen hat, kann vermehrt auf jene Produkte und Dienstleistungen zurückgreifen, die unter sozial und ökologisch problematischen Bedingungen produziert werden. Und wie gesagt: Die imperiale Lebensweise, wie sie hierzulande gelebt wird, ist eine statusorientierte Lebensweise, die nicht nur die Umwelt zerstört, sondern auf sozialer Ungleichheit basiert und sie verschärft. Die Mittelschichten grenzen sich gegen die unteren Schichten bewusst ab, indem sie zeigen, dass sie sich aufgrund ihres hohen Einkommens ein Auto und viel Konsum leisten können. Das führt dazu, dass Menschen mit weniger Geld umso mehr ausgeschlossen werden und sich auch ausgeschlossen fühlen.

Diese Produktions- und Lebensweise kommt deutlich an globale ökologische Grenzen. Auch früher gab es immer wieder Regionen, die in bestimmten Konstellationen ökologisch kollabierten. Doch heute hat die ökologische Gefahr eine globale Dimension. In gewisser Weise siegt sich die imperiale Lebensweise «zu Tode». Und sie produziert in Zeiten der Krise einen dritten Widerspruch, der es politisch in sich hat: Vor allem im globalen Norden wirkt diese Lebensweise in Zeiten der Krise stabilisierend, denn die relativ billigen Lebensmittel werden über den Weltmarkt weiterhin in die Metropolen geschaufelt. Gleichzeitig verschärfen sich andernorts die politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen und damit die Ursachen von Konflikten und Flucht.
Die imperiale Lebensweise basiert aber auch darauf, dass ihre Voraussetzungen und negativen Folgen unsichtbar sind oder ignoriert werden.

Der Schriftsteller Ilija Trojanow verwies vor einigen Jahren in einem Artikel der österreichischen Tageszeitung Der Standard auf eine von 20 Regierungen in Auftrag gegebenen Studie der deutschen Registrierungsagentur für Sozial- und Wirtschaftsdaten. Sie kam zu folgendem Ergebnis: Wenn die globalen Durchschnittstemperaturen so stiegen wie zuletzt, würden bis zum Jahre 2030 mehr als hundert Millionen Menschen an den direkten Folgen – Dürre, Trinkwassermangel, Ernteausfall, Armut und Krankheit – sterben. «100 Millionen sind keine Bagatelle», so Trojanow, «100 Millionen sind mehr als die Opfer beider Weltkriege. Falls Sie diese Nachricht nicht wahrgenommen haben, grämen Sie sich nicht. Sie wurde ihnen vorenthalten. Der Grund liegt weniger in der Abgeklärtheit, mit der wir der Apokalypse ins Auge blicken, da uns seit Jahren Hollywood und andere popkulturelle Industrien an ihre Allgegenwart gewöhnt haben, sondern wohl eher in einem Nebensatz des Berichts, der leicht zu übersehen wäre: ‹Mehr als 90 Prozent dieser Toten werden Bewohner von Entwicklungsländern sein.› Nun ja, es wird die anderen treffen.»

Mit dem Begriff imperiale Lebensweise lassen sich auch rechtskonservative und rechtsextreme Politiken in Europa und den USA besser verstehen. In Zeiten sozialer Spaltung und Verunsicherung verheißen sie mit ihrem politischen Angebot, durch Migrations-, Handels- und Außenpolitik zuvorderst die Interessen derer zu verteidigen, die in den kapitalistischen Zentren leben. Die anderen Weltregionen sollen in ihrer Rolle als Zulieferer von billigen Waren bleiben und Hilfe suchende Menschen werden abgewiesen. Die imperiale Lebensweise zeigt aber auch an, dass sich diese Lebensweise über den Aufstieg von Schwellenländern wie China oder Brasilien ganz dynamisch auch in der Bevölkerung des globalen Südens verallgemeinert. Sie macht die Ausweitung des Kapitalismus für immer mehr Menschen attraktiv. Entscheidend für die Reproduktion der imperialen Lebensweise ist eine global und jeweils innergesellschaftlich ungleiche Konstellation – entlang von Klassen, Geschlechtern, Race, aber eben auch verallgemeinerten Produktions- und Konsummustern.

Alternativen aufzeigen

Ich bin hin und wieder in Ecuador. Dort habe ich erlebt, wie schnell in Zeiten hoher Erdölpreise und damit möglichen Lohnerhöhungen und wachsender Deviseneinnahmen des Staates die Anzahl der Autos und insbesondere der SUVs zunimmt. Auch dort greift die imperiale Lebensweise sofort.

Gleichzeitig hält der sich globalisierende Kapitalismus viele Menschen unter katastrophalen Lebensbedingungen. Aus einer geopolitischen Perspektive verstärken wirtschaftliche Globalisierung und die globale Ausweitung der imperialen Lebensweise den Bedarf an natürlichen Ressourcen in Ländern des globalen Südens. Die Konkurrenz um Land, etwa in Afrika, nimmt zu. Damit verstärken sich – dies ist ein vierter Widerspruch der imperialen Lebensweise - «öko-imperiale Spannungen». Im Globalisierungsprozess der Nahrungsmittelindustrie werden Menschen von ihrem Land vertrieben, auf dem sie sich selbst ernähren konnten, um auf eben diesem Land Palmöl, Zuckerrohr oder Soja für die globalen Industrien und den Konsum im Norden anzubauen. Wenn sie sich dann erniedrigt und entrechtet für kaum mehr als 2 US-Dollar am Tag als Plantagenarbeiter*innen auf ihrem früheren Land verdingen, gelten sie in der Weltbank-Statistik als «aus der Armut befreit». Die bittere Lebensrealität von immer mehr Menschen ist den Globalisierungsapologeten entgegenzuhalten, die uns mit Statistiken glauben machen wollen, die materielle Armut auf der Welt habe abgenommen.

Die Analyse aktueller Dynamiken sollte uns motivieren, nach Widersprüchen, Widerständen und Alternativen zur imperialen Lebensweise zu suchen und sie zu stärken. Zahlreiche spannende Diskussionen auf Workshops und bei Buchvorstellungen haben meinem Ko-Autor Markus Wissen und mir deutlich gemacht, dass der Begriff der imperialen Lebensweise das Unbehagen vieler Menschen trifft. Junge Menschen engagieren sich in Schreibwerkstätten zum Thema imperiale Lebensweise, um gemeinsam mit anderen die Welt besser zu begreifen und zu verändern können. Unbehagen an autoritären politischen Tendenzen, zunehmender sozialer Polarisierung und Bereicherung der Eliten. Globale Solidarität auf der Höhe der Zeit zu entwickeln bedeutet, den sich globalisierenden Kapitalismus als multiples Herrschaftsverhältnis zu verstehen und zu verändern. Das scheint heute schwierig, da der dominante Globalisierungsdiskurs darin besteht, die Fahnen wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit und des Standortwettbewerbs hochzuhalten. Das Versprechen «Wenn wir am Standort zusammenhalten, leben wir besser» ist nicht weit weg von «America First!».

Wie können Alternativen zur imperialen Produktions- und Lebensweise aussehen? Es gibt vielfältige Widerstände und Vorschläge, etwa wie soziale Rechte verteidigt werden können, ohne dies auf Kosten anderer zu tun, sondern indem sie die Mächtigen und die mit ihnen verbundenen Herrschaftsverhältnisse infrage stellen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung und ihre weltweiten Partner*innen sind Teil dieser praktischen Suche nach Alternativen. Vor allem aber bedarf es einer sehr grundlegenden Transformation des dominanten nördlichen Entwicklungsmodells. Viele Menschen haben 2015 im «Sommer der Migration» gezeigt, dass sie bereit sind, ihre Komfortzone zu verlassen. Der Umbau des Ernährungssystems in eine ökologische Landwirtschaft bedeutet eine andere Ernährungsweise und ein anderes, nicht industriell-globales Produktionssystem.

Dabei geht es auch darum zu zeigen, dass solche Entwicklungen ohne Konflikte und Kämpfe nicht zu haben sind. Eine wichtige aktuelle Erfahrung ist der Kampf der «Ende Gelände»-Bewegung um den Ausstieg aus der Braunkohleförderung und -verstromung in Deutschland. Die muss Hand in Hand gehen mit dem Ausstieg aus den Kohleimporten aus Kolumbien und überall dort, wo die Kohleförderung sozial und ökologisch desaströs ist. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Schließlich: Globale Solidarität ist keine mit «dem» Süden. Es bedarf auch der Kritik an der imperialen Lebensweise der Ober- und Mittelschichten in den Ländern des globalen Südens. Denn diese Lebensweise stabilisiert Herrschaftsverhältnisse und schafft durchaus Konsens – allerdings auch dort zu Lasten der Ärmeren und der Natur. Eine Kritik, die nicht schick grün-alternativ und überheblich von Menschen und Organisationen aus dem globalen Norden vorgetragen wird, sondern in emanzipatorischer Absicht, darf auch davor nicht Halt machen.