Was ist «Entwicklung»? Für die Transformation der mittelosteuropäischen Länder nach 1989 ist das weltweit vorherrschende, neoliberalistische Verständnis des sogennanten Washington Consensus entscheidend. Hiernach sind globale Kapitalanleger die Akteure und Treiber von ökonomischer Prosperität und gesellschaftlichem Wohlergehen. Ihre Investitionen würden neueste Technologie und Kapital ins Land bringen, Arbeitsplätze und Kaufkraft schaffen und heimischen Firmen Aufträge geben.
Stefanie Hürtgen ist Sozialwissenschaftlerin und forscht zu Globalisierung und sozialräumlicher Fragmentierung von Arbeit und zur Frage, mit welchen solidarischen, aber auch konkurrenziellen Handlungsorientierungen Beschäftigte diesen Veränderungen begegnen. Sie ist Assistenzprofessorin im Bereich Wirtschaftsgeografie an der Universität Salzburg, assoziiertes Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Für eine kritische Analyse der Resultate dieses Entwicklungsverständnisses ist ein Blick auf den Globalen Süden sinnvoll. Hier – in der sogenannten Peripherie – wurde bereits ab den 1960er Jahren konzeptionelle Pionierarbeit mit großer Tragweite für heutige Debatten geleistet, denn der Globale Süden war als erster mit den Folgewirkungen der weltweiten neoliberalen Wende konfrontiert. Oft über sogenannte Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank, teilweise von den USA unterstützten Militärputschs (wie in Chile 1973), wurden jene Maßnahmen durchgesetzt, die seither quer über den Globus als neoliberalistische Rezepte bekannt sind. Neben der «Marktöffnung», also dem Abbau von Handels- und Investitionsbeschränkungen, sind dies erstens die Privatisierung von staatlichen Unternehmen und öffentlicher Infrastruktur (d.h. deren Bereitstellung als privatkapitalistische Anlagemöglichkeiten), zweitens die Senkung von Steuern und Abgaben vor allem für große Kapitalien und drittens Sozialstaatsabbau, um den Investoren kostengünstige, disziplinierte und flexibel einsetzbare Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Damit soll das jeweilige Land als attraktiver Standort für ausländisches Kapital aufgestellt werden bei gleichzeitiger weiterer sozialräumlicher Deregulierung nach innen, beispielsweise über die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen mit nochmaligen Steuernachlässen und typischerweise extrem erschöpfenden, kaum reproduktionssichernden Arbeitsbedingungen. Nicht von ungefähr wird diese Trias aus Privatisierung, Steuersenkung und Sozialstaatsabbau ökonomietheoretisch auch als «Angebotsorientierung» bezeichnet: Es geht darum, «Anreize» gegenüber (potenziellen) Investoren zu setzen, d.h. dem im Prinzip global tätigen, räumlich flexiblen Kapital Bedingungen anzubieten, die es zu (verstärkten) Investitionen bewegt, so dass dann «Entwicklung» in Form von Technologietransfer, «Verclusterung» des Auslandskapitals mit der heimischen Ökonomie, Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen stattfinden kann.
Was aber zeigt ein Blick auf den Globalen Süden als Resultat dieser neoliberalistischen, angebotsorientierten Vorstellungen? In der breiten marxistischen, feministischen, friedens- und antimilitaristisch bewegten kritischen Entwicklungsdebatte der 1970er – deren Herzstück die sogenannte Dependenztheorie war (am bekanntesten dürfte hier André Gunder Frank sein) – lautete die übereinstimmende Diagnose: strukturelle Heterogenität. Dieser Begriff klingt nur auf den ersten Blick sperrig, gemeint ist die systematische Polarisierung neoliberalisierter Ökonomien und Gesellschaften. Denn es wäre zu einfach, die angebotsorientierten Versprechen schlicht als «falsch» zurückzuweisen. Die Einbindung in transnationale Kapitalzusammenhänge und entsprechende politische Begleitmaßnahmen schaffen durchaus technologisch moderne Produktionssektoren und auch Beschäftigtengruppen (zumeist Manager*innen oder Angestellte, aber z.T. auch im Blue-collar-Bereich) mit guten Einkommen. Diese leben dann «modern», in gut situierten (oftmals abgeschotteten) Gegenden und Stadtteilen. Allerdings bleiben die modernisierenden, «entwickelnden» Effekte zutiefst partikular, sozialräumlich begrenzt. Ökonomisch sind die Weltmarktproduktionsstätten gerade nicht national oder regional ausgerichtet, sondern in die weltweite Produktions- und Vermarktungsorganisation eingebunden; sie bleiben deshalb «Kathedralen in der Wüste», umgeben von ökonomisch schwachen, oft informell und subsistenzwirtschaftlich ausgerichteten Sektoren. Sozial steht den relativ gut situierten, städtischen Beschäftigtengruppen eine große Zahl marginalisierter, typischerweise informell tätiger Menschen gegenüber. Diese dauerhaft Prekarisierten sind aber den modernen ausländischen Produktionssektoren gerade nicht äußerlich, sondern stellen als temporäre, hochflexible und äußerst kostengünstige Arbeitskräfte einen erheblichen Standortvorteil dar. Der Industrie- und Produktionsaufbau erfolgt so wesentlich auf der Basis von Arbeitsbedingungen, die weit davon entfernt sind, die Reproduktion zu gewährleisten. Es ist der vermeintlich «traditionelle» subsistenzwirtschaftliche Sektor, von dem die Mainstreamökonomie behauptet, er sei ein Relikt der Vergangenheit, der angesichts allenfalls rudimentärer Sozialstaatlichkeit diese Beschäftigtengruppen absichert.
Um 1989 herum waren Neoliberalismus und soziale Polarisierung zuerst kein Thema. Den demonstrierenden Menschen in Leipzig und Prag oder den Solidarnosc-Vertreter*innen des «Runden Tisches» in Warschau schwebten nicht das schon thatcherisierte Großbritannien als imaginierter Horizont künftiger demokratischer Entwicklung vor, sondern ein wohlfahrtsstaatlich-sozialdemokratischer Weg wie die (vormalige) Bundesrepublik und mehr noch Schweden, gedanklich oft idealisiert oder auch «utopisch erweitert» um zusätzliche demokratische Rechte und alternative Wirtschafts- und Lebensmöglichkeiten. Rasch allerdings wurde von einer Koalition aus EU, IWF, transnationalen Kapitalvertreter*innen sowie alten und neuen «post-sozialistischen» Eliten jener eingangs erwähnte Washington Consensus durchgesetzt. Entsprechend erfolgte als erstes die «Marktöffnung»: Mittelosteuropa und die DDR wurden zum neuen Absatzmarkt der mit stagnierenden Absätzen kämpfenden westlichen Hersteller, die sich als Investoren aber bis auf einige «Filetstücke» zurückhielten. Zusammen mit oftmals (halb-)kriminell durchgesetzten Privatisierungs- und Stilllegungspolitiken kam es zu einer historisch beispiellosen Deindustrialisierung Mittelosteuropas, zu Hyperinflation infolge von Preisliberalisierung, zu Massenarbeitslosigkeit und Verarmung breiter Bevölkerungsteile.
Ab etwa Ende der 1990er Jahre änderte sich das Bild: Der angebotsorientierte Umbau – Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen, Anpassung von Investitionsbestimmungen etc. – zeigte Wirkung. Nun sorgten IWF, EU und die jeweiligen nationalen Räte der Auslandsfirmen dafür, dass noch übrig gebliebene Schutzrechte (beispielsweise bei Kündigungen) endgültig geschleift und viele hochgradig prekäre Arbeitsformen (die es in den existenziellen Krisenjahren der «Transformation» faktisch schon gegeben hatte) legalisiert wurden. Einerseits sollte Mittelosteuropa so noch vor dem Beitritt zur EU auf die europäische Vorreiterposition der Deregulierung festgelegt werden (eine Position, die zuvor Großbritannien und Irland innegehabt hatten). Andererseits war Mittelosteuropa in eben dieser Position zu einem attraktiven Standort aufgestiegen: für ausländisches Kapital waren nicht mehr nur punktuelle «Filetstücke» interessant, vielmehr wurde nun umfassend Produktion und Dienstleistung in Mittelosteuropa angesiedelt bzw. aus den westlichen Kernländern verlagert. Kredite flossen, bestimmte städtische oder touristische Zentren wurden (nicht zuletzt mit EU-Mitteln) saniert und das Bruttoinlandsprodukt stieg – über längere Zeit sogar in deutlich höherem Maße als in Westeuropa. Polen, Ungarn, Tschechien oder die baltischen Staaten wurden als neue «Tiger» Europas gefeiert; mittlerweile werden sie offiziell auch nicht mehr als «Transitionsländer» geführt, diese Phase gilt als erfolgreich abgeschlossen. Operation geglückt – so die Message. Angebotsorientierte Politik, Privatisierung, Steuersenkung und Sozialabbau sind erfolgreich! Nach einem «Tal der Tränen», einer ökonomischen Strukturanpassung mit sozialer «Durststrecke», geht es wieder aufwärts, am Ende winkt die Integration in die moderne westliche Welt und ihren Wohlstand. Das ist das Narrativ, das seither von immer weiteren «Transitionsländern» (beispielsweise des ehemaligen Jugoslawien) vorangestellt wird, wenn sie transnationales Kapital umgarnen, Gewerkschaften und soziale Proteste unterdrücken und Arbeitsgesetze zahnlos machen.
Allerdings betonen kritische Stimmen aus Mittelosteuropa und der ehemaligen DDR ganz ähnlich wie zuvor jene im Globalen Süden, dass die Wachstumsstatistiken die entscheidende Dynamik der osteuropäischen Transformation verdecken: das eklatante Auseinanderklaffen der sozialräumlichen Lebensbedingungen in der Region. Rainer Land kennzeichnet die Ökonomie Ostdeutschlands als fragmentiert, andere Wissenschaftler*innen sprechen für Polen, Ungarn oder Tschechien von polarisierter Entwicklung oder einer «Dualisierung» von Ökonomie und Gesellschaft. Kurz: trotz ihrer Vergangenheit als Industriegesellschaften ist die strukturelle Heterogenität in Mittelosteuropa angekommen. Wie bereits im Globalen Süden sehen wir das frappierende Nebeneinander schicken städtischen Lebens und infrastrukturell völlig vernachlässigter Gegenden gleich «nebenan». Wie schon im Globalen Süden gibt es technisch hochmoderne Industrien (Automobil, Elektronik, Softwareentwicklung u.a.), die aber selbst dort, wo sie «Cluster» bilden, als «Kathedralen» aus einem kaum entwickelten Hinterland herausragen. Und wie schon im Globalen Süden haben wir es nun auch in Mittelosteuropa mit einer Kapitalakkumulation zu tun, die für weite Teile der Lohnabhängigen Lohnarbeit von den notwendigen Bedingungen ihrer sozialen Reproduktion abkoppelt. Während besser gestellte Beschäftigte mittlerweile dem Westen vergleichbare Einkommen erhalten, sind Löhne unterhalb der Existenzsicherung vor allem im Bluecollar-Bereich weitgehende Normalität. Hinzu kommt die nun auch rechtliche «Normalisierung» von massiver Prekarität und Flexibilität der Arbeitsbedingungen – erneut also nicht als «Randphänomen», sondern im Herzen des modernen Auslandssektors angesiedelt, wo sie nicht selten 50 Prozent und mehr der Beschäftigten betrifft. Und erneut sind die Sicherungen durch den Sozialstaat so unzureichend, dass die familiären, subsistenz- und schattenwirtschaftlichen Strukturen zum zentralen Anker werden, sich «über Wasser zu halten» (neben den verschiedensten Formen der Armutsmigration).
Was also ist neoliberalistische Entwicklung? Mit dem Entwicklungsgeographen Fred Scholz können wir verallgemeinern: es ist fragmentierende Entwicklung. Die politische Orientierung auf Anreize und Angebote für Kapitalprofitabilität sprengt die Gesellschaften nah- und fernräumlich auseinander – längst übrigens auch schon im Westen. Mittelosteuropa ist hier nicht Nachzügler und Schulkind; vielmehr erweist sich die vermeintliche Peripherie als Avantgarde. Wir sollten sehr genau hinsehen und vor allem: die kritischen Debatten und Bewegungen dort endlich als auch für uns unmittelbar relevante zur Kenntnis nehmen.