Hintergrund | Sozialökologischer Umbau - Klimagerechtigkeit Gefährliche Ablenkungsmanöver

«Climate Action» heißt nicht gleich Klimagerechtigkeit

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In seiner Rede vom 3. Dezember 2020 zum Zustand des Planeten hatte Antonio Guterres in fast allen Punkten recht. Der UN-Generalsekretär präsentierte korrekte Daten zum Ausmaß der Zerstörung der natürlichen Ökosysteme und Fakten dazu, inwiefern die Natur inzwischen zurückschlägt und immer verheerendere Verwüstungen anrichtet. Letzteres trifft vor allem vulnerable Gruppen, die am allerwenigsten zu diesen Problemen beigetragen haben. Guterres traf auch den Nagel auf den Kopf, als er sagte, dass die Aktivitäten des Menschen die Hauptschuld an der Zerstörung der Erde tragen, und dass die Zeit verrinnt, die noch bleibt, um die Katastrophe abzuwenden.

Tetet Lauron lebt auf den Philippinen und ist als Beraterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig. Nessim Achouche arbeitet als Projektmanager der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel. Katja Voigt ist Projektmanagerin für Klimapolitik und Nordamerika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Nadja Charaby ist Referatsleiterin für Internationale Politik und Nordamerika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie Referentin für Klimapolitik.

Während also die Tatsachen klar auf dem Tisch liegen, stehen wir bei der Frage, was nun genau zu tun ist, an einer Weggabelung. Wir schauen zurück, um zu begreifen, wie die Regierungen und das multilaterale System sich den Weg zu einer sauberen, grünen und nachhaltigen Erholung des Planeten vorstellen – und zwar Erholung sowohl von der Pandemie als auch von den vielfältigen ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisen unserer Zeit. Wird diese derzeit allgegenwärtige Rhetorik über «climate action» tatsächlich die überfällige Transformation einläuten oder stellt der Diskurs selbst nicht eher eine gefährliche Ablenkung dar?

Welche höheren Ambitionen, und für wen?

Eigentlich sollte 2020 ein entscheidendes Jahr für den Klimaschutz werden. Fünf Jahre sind seit Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens vergangen. Laut Vertrag wäre die für November geplante 26. UN-Klimakonferenz (COP26) im schottischen Glasgow der Moment gewesen, in dem sich zeigen sollte, ob die Länder tatsächlich den Verpflichtungen nachkommen, die sie mit dem Pariser Abkommen eingegangen sind. Unter anderem haben sich die Regierungen darin verpflichtet, alle fünf Jahre neue und ambitioniertere Klimaschutzpläne vorzulegen und die vom Klimawandel schwer getroffenen Länder zu unterstützen.

Die Pandemie macht aktuell große Präsenztreffen unmöglich. Während die offiziellen Verhandlungen pausieren, gehen die Diskussionen zwischen den Regierungen und anderen Akteuren aber natürlich weiter. Das ganze Jahr über fanden unterschiedliche hochkarätige Online-Events statt - mit dem Ziel, die internationale Community zu höheren Ambitionen für eine «klimafreundliche Erholung» nach der Pandemie einzuschwören. Beispiele hierfür sind die Generalversammlung der Vereinten Nationen, der G20-Gipfel, die Race-to-Zero-Kampagne, der Finance in Common Summit, die Climate Change Dialogues und der Climate Ambition Summit.

Viele dieser Events zeigten: Der Ruf nach «Netto-Null-Emissionen» ist zu einer Beschwörungsformel geworden. Eine wachsende Anzahl von Ländern hat versprochen, ihre Kohlendioxidemissionen maßgeblich zu verringern und in den kommenden Jahren treibhausgasneutral zu werden. Inzwischen haben Staaten, die für mehr als 65 Prozent des globalen Kohlendioxidausstoßes verantwortlich sind und mehr als 70 Prozent der weltweiten Wirtschaftskraft auf sich vereinen, ambitionierte Versprechen für Treibhausgasneutralität gemacht (siehe Box).

Das Vereinigte Königreich hat 2019 als erstes Industrieland ein Gesetz zur Erreichung von Treibhausgasneutralität verabschiedet. Bis 2030 sollen die Emissionen um mindestens 68 Prozent sinken.

2019 hat die Europäische Union auf der UN-Klimakonferenz COP25 in Madrid ihren European Green Deal vorgestellt und gelobt, dass sie ihre 27 Mitgliedsstaaten «nachhaltig, ressourceneffizient und wettbewerbsfähig» machen würde, während gleichzeitig sichergestellt sein soll, dass die Netto-Emissionen 2050 bei Null liegen werden.

Auch Japan und Korea, die drittgrößte bzw. elftgrößte Ökonomie der Welt, haben sich im vergangenen Oktober zu Treibhausgasneutralität verpflichtet. Korea kündigte zudem einen Green New Deal im Umfang von 35 Milliarden US-Dollar an, der Investitionen in Kohle beenden soll.

China kündigte im Juli an, den Peak des nationalen Kohlendioxidausstoßes noch vor 2030 erreichen und bis 2060 treibhausgasneutral werden zu wollen.

Das Netto-Null-Fieber hat sogar einige ärmere Länder wie Fidschi und die Marshallinseln befallen, die ebenfalls angekündigt haben, ihren Treibhausgasfußabtritt auf Null zu reduzieren. Interessanterweise hat Bhutan, das weltweit einzige treibhausgasnegative Land, versprochen, für alle Zeiten treibhausgasneutral zu bleiben.

Netto-Null scheint also als ein hehres Ziel zu gelten, das gemeinhin als geeignet angesehen wird, Klimaschutz zu bewirken und die Welt davor zu bewahren, die Grenze zu einer katastrophalen Temperaturerhöhung zu überschreiten. Was bedeutet Netto-Null? Dahinter steht die Idee, dass der Atmosphäre zusätzliche – das heißt in der Summe - Emissionen erspart bleiben. Aber der Teufel liegt im Detail und viele Fragen spielen in der öffentlichen Diskussion bislang nur eine untergeordnete Rolle:

So wäre es zum Beispiel interessant zu beleuchten, was die Versprechungen der größten Ökonomien der Welt genau beinhalten, vor allem für die Menschen vor Ort. Es wäre auch zu fragen, wer tatsächlich vom Europäischen Green Deal profitiert. Oder warum der britische Klimaplan so sehr dafür kritisiert wird, inkohärent zu sein und auf Atomenergie und gefährliche Technologien zur Speicherung von Kohlendioxid zu setzen. Außerdem wäre es interessant zu erfahren, ob die Netto-Null-Versprechungen die Art und Weise verändern, wie die größten Volkswirtschaften der Welt Geschäfte im Globalen Süden machen. Nach wie vor ziehen sie dort nämlich riesige Profite aus unfairen Handelsbeziehungen, die ihnen die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, den Handel mit Agrar- und anderen Produkten zu Dumpingpreisen und den Zugang zu Kohle, Öl und Gas und anderen Bodenschätzen erlauben.

Emissionen werden weiter in die Atmosphäre geblasen

Tatsächlich bedeutet Netto-Null, dass es nach wie vor Emissionen geben wird, mit der Besonderheit, dass diese mit den Ergebnissen der Kohlendioxidabscheidung aus der Atmosphäre sowie mit der negativen Emissionen aus der Aufforstung von Wäldern verrechnet werden. Zugegeben, es gibt tatsächliche Erfolge durch das Auslaufen dreckiger Industrien, durch Investitionen in erneuerbare Energien und die Renaturierung von Land. Aber die zumeist verschwiegene Seite der Medaille ist, dass das Ziel von Netto-Null-Emissionen reichen Ländern und deren Konzernen erlaubt, die Effekte ihrer dreckigen extraktivistischen und extrem profitablen Geschäftsmodelle auszublenden, sich freizukaufen und diese Praxis letztlich fortzuführen.

Anstatt Produktion und Konsum zu transformieren, verlässt man sich zunehmend auf Technologien zur Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid. Anstatt sich darum zu kümmern, alle Quellen von Treibhausgasemissionen tatsächlich auf null zu reduzieren, gibt es einen großen Hype um öffentliche und private Investitionen in so genannte Nature-Based Solutions (NBS), die in Form von Naturschutzprojekten vor allem im Globalen Süden stattfinden sollen. Gelabelt werden diese als «Maßnahmen, die von der Natur inspiriert bzw. von dieser kopiert» sind. Diese Maßnahmen sollen, ganz nach dem Vorbild der Natur, einen greifbaren Nutzen bringen: die Abscheidung von Kohlendioxid, die Renaturierung von Böden oder die Regulierung des Wasserhaushalts. Den «Nature-Based Solutions» wird gar ein dreifacher Nutzen zugesprochen – Nutzen für die Umwelt, für die Ökonomie und für die Gesellschaft. In Nature-Based Solutions zu investieren soll außerdem auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht Sinn machen, vor allem für diejenigen, die auf die stabile Versorgung mit fossilen Rohstoffen angewiesen sind oder für diejenigen, die ihre Klimaziele und -versprechen einhalten müssen.

Nature-Based Solutions erlauben es dem privaten Sektor sogar, profitabel zu bleiben, während er gleichzeitig sein Image als «sauberer, grüner und nachhaltiger» Akteur aufpolieren kann. Wie lässt sich die Dreistigkeit von Big Oil anders verstehen, als dass die Konzerne die Öffentlichkeit auf diese Weise bewusst in die Irre führen wollen, wenn diese fragt: Was seid ihr bereit zu tun, um eure Emissionen zu senken?

Da gibt es auch diejenigen, die hoffen, dass die USA mit ihrem Wiedereintritt in das Pariser Abkommen frischen Wind und neue Hoffnung in den internationalen Klimaschutz bringen werden. Natürlich ist es positiv, den weltgrößten Treibhausgasemittenten zurück in der klimadiplomatischen Arena zu wissen. Dennoch sorgen sich gleichzeitig sehr viele, dass damit auch der Drive für Kohlendioxidspeicherung, Atomenergie und Kohlenstoffmärkte und Emissionshandel weiter zunehmen könnte – und damit ein Entwicklungspfad manifestiert wird, der alles andere als einem echten Green New Deal entspricht.

Palliativmaßnahmen, die den Kapitalismus «grün» machen sollen

Das Narrativ, das sich durchgesetzt hat und in die verschiedenen multilateralen Foren eingesickert ist, ist das folgende: Der Klimawandel sei ein globales Problem, an dessen Lösung sich jede*r beteiligen müsse. Untätigkeit im Angesicht der Klimakrise gilt hiernach als das größte Hindernis, und ein ambitionierteres Handeln von jeder und jedem umgekehrt als der einzige richtige Weg. Das ist der Grund, warum Länder aus dem Globalen Süden so sehr darin ermutigt werden, darüber zu berichten, ob sie bei der Reduzierung ihres Kohlendioxidfußabdrucks Fortschritte machen, und dies ganz losgelöst von der Frage, wie groß dieser eigentlich überhaupt ist. Das ist auch der Grund, warum von ärmeren Ländern zunehmend erwartet wird selbst zu schauen, wie sie die Mittel dafür aufbringen, Klimaschutzmaßnahmen zu finanzieren und sich an die Folgen des Klimawandels anpassen. Hierfür sollen sie Maßnahmen aus ihren nationalen Haushalten bezahlen, sich nach ausländischen und inländischen Investitionen umsehen oder Kredite aufnehmen. Das oben benannte Narrativ würde auch das Widerstreben der reichen industrialisierten Länder erklären, die Rechnung für die Klimaschäden und -verluste bei den Gemeinschaften im Globalen Süden zu übernehmen, die massiv unter Extremwetterereignissen, der schleichenden Degradierung ihrer Böden und dem Verschwinden nutzbarer Süßwasserressourcen leiden. Das Problem an diesem Konstrukt beziehungsweise Narrativ ist, dass es die strukturellen und historischen Wurzeln dieser Verwundbarkeit unter den Teppich kehrt. Länder im Globalen Süden haben mit Schuldenproblemen zu kämpfen, sie haben weder politischen noch fiskalischen Spielraum, den komplexen Problemen aus Klima-, Wirtschafts- und sozialen Krisen etwas entgegenzusetzen, Probleme, die durch die Pandemie zusätzlich verschärft werden.

Die Aufnahme von Krediten zur Überbrückung von Budgetdefiziten ist inzwischen der Standardweg der «Entwicklungsländer», obgleich die Budgetdefizite Folge ungleicher Handelsbeziehungen und Investitionsabkommen sind. Die Folge ist ein Teufelskreis: Länder nehmen Kredite auf, um weiter Waren importieren zu können, Infrastrukturprojekte zu finanzieren, die Raten ihrer laufenden Kredite zu bedienen und – nun auch das noch – die Maßnahmen für die Eindämmung von Covid-19 zu stemmen. Zusätzlich erhöht sich der Druck auf die sogenannten Entwicklungsländer, ihre Wirtschaft auf nachhaltigere Produktion und nachhaltigeren Konsum umzustellen.

Diese Lage ist kein Fall von politischer Unfähigkeit, sondern vielmehr die verquere inhärente Logik einer kaputten globalen Wirtschafts-, Handels- und Finanzarchitektur. In einer Situation, in der Covid-19 und ein sich beschleunigender ökonomischer Niedergang die existierenden Verwundbarkeiten im gesamten Globalen Süden und Norden vergrößert haben, ist die Unfähigkeit des vorherrschenden Entwicklungsparadigmas, gerechte und tragfähige Antworten auf die multiplen Krisen unserer Zeit zu bieten, deutlicher geworden als jemals zuvor. Als kurzfristige Lösung bieten die Banken den Ländern des Globalen Südens eine zeitlich begrenzte Aussetzung der Kreditraten, und neue Kreditpakete mit strengen Konditionen werden bereits vorbereitet.

Alte Bräuche im neuen Gewand

2020 konnte man die Europäische Union zudem bei der Entwicklung ihres grünen Elixiers beobachten. Der European Green Deal, das Flaggschiff-Programm der neu gewählten EU-Kommission, soll die EU bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt machen. Unglücklicherweise trägt auch dieser knackige Titel des Programms nicht dazu bei, ein dem bevorstehenden Klimakollaps angemessenen Maßnahmenkatalog vorzulegen. Dazu sind zwei Dinge zu sagen:

  • Das Netto-Null-Ziel ist eine Chimäre, die sich auf technologische Wunderlösungen verlässt und das Business-as-usual weiter florieren lässt. 2050 ist zu spät, das entspricht nicht dem, was man Europas fairen Anteil an der Bewältigung der Klimakrise nennen könnte. 
  • Das Programm des European Green Deal, so wie es aktuell gestrickt ist, basiert es auf einer eurozentrischen Sicht auf Klimaschutz und ist weit davon entfernt ein Programm zu sein, das im Einklang mit den Aussagen der Wissenschaft und den Prinzipien der Fairness ist.

Zum Beispiel steht die Fortführung der europäischen Freihandelsabkommen, wie das 2020 mit Vietnam abgeschlossene Abkommen oder das EU-Mercosur-Abkommen, im klaren Widerspruch zu den erklärten Zielen des European Green Deal. Die Klimafolgen und sozialen Auswirkungen des Mercosur-Abkommens wären dramatisch für die Region Südamerika und würden vor allem indigene Gemeinschaften und ihre Umwelt treffen.

Die Zustimmung des Europäischen Parlaments im vergangenen Jahr  zu den Leitlinien für die Gemeinsamen Europäische Agrarpolitik (GAP) von 2021 bis 2027 ist ein anderes Beispiel für die Gefahren des Europäischen Green Deal und stellt diesen als eine leere Hülse bloß voller falscher Versprechungen in Sachen Klimaschutz bloß. Dafür, dass im Vorfeld große Veränderungen für diesen Sektor angekündigt worden waren, der allein für zehn Prozent der Treibhausgasemissionen der EU verantwortlich ist, sieht die neue Gemeinsame Agrarpolitik der alten verdächtig ähnlich. Nach wie vor werden die Mittel aus einem der größten Einzelhaushalte des EU-Budgets nicht so umverteilt, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft dadurch maßgeblich gefördert würde. Noch immer werden zwei Prozent der größten europäischen Agrarbetriebe den Löwenanteil des Geldes bekommen. In ähnlicher Weise werden die unzureichenden Programme für die Ökologisierung der Landwirtschaft den größten Agrarkonzernen erlauben, ihre Aktivitäten einem Greenwashing zu unterziehen, ohne dass dadurch ein systemischer Wandel in der europäischen Landwirtschaft angestoßen würde. Schließlich wird der Schub für die Elektromobilität und der damit verbundene steigende Bedarf an Batterien die Ausbeutung von Ressourcen in Lateinamerika und Südostasien (wo sich die globalen Lithiumvorkommen konzentrieren) massiv vorantreiben. Und auch der Ruf nach einem Import von sauberer Energie aus Nordafrika, die dann in Europa in Wasserstoff umgewandelt werden soll, ist ein weiterer Beleg für die gefährlichen Einschränkungen und neokolonialen Tendenzen des European Green Deal.

Das Weltwirtschaftsforum stellt ganz klar fest: «Um die Welt auf bessere Weise wiederaufzubauen, müssen wir den Kapitalismus neu erfinden.» Die dahinter stehende Vision des multilateralen Systems für eine klimaresistente Zukunft nach der Pandemie ist jedoch nur eine aufgewärmte Version des bestehenden Kapitalismus - der zwar angeblich gesünder, fairer und grüner sein soll, aber im Kern derselbe bleibt und die ungezügelte Produktion und den schrankenlosen Konsum nicht in Frage stellt. Dieses Denken setzt voraus, dass das kapitalistische System so optimiert werden könne, dass es die heraufziehenden Schrecken der Klimakrise eindämmen wird. Es wird so getan, als ob das kapitalistische System die Macht und die Möglichkeit hätte, die Klimakrise abzuwenden, dadurch dass einfach neue ökonomische Aktivitäten, Innovationen und technologische Lösungen organisiert werden.

Aber: Der Kapitalismus kann nicht grün gemacht werden, und man kann nicht erwarten, dass Märkte, Konzerne und Institutionen tatsächliche und dauerhafte Lösungen für die Probleme liefern, die sie selbst geschaffen und verstärkt haben. Das ist der Grund, warum im Rahmen des vorherrschenden Entwicklungsmodells die Rufe nach mehr Solidarität, internationaler Kooperation, einer klimafreundlichen Erholung der Wirtschaft und selbst nach Netto-Null-Emissionen und Nature-Based Solutions hohl klingen. Unter kapitalistischen Rahmenbedingungen stellen derartige «climate action»-Maßnahmen also eine gefährliche Ablenkung dar.

Das Gegenmittel heißt Systemwandel

«Handeln für den Klimaschutz» sollte nicht länger als Vorwand für noch mehr klimaschädliche, treibhausgasintensive Entwicklungspfade missbraucht werden, die zudem die bestehenden Ungleichheiten aus der Zeit vor der Pandemie reproduzieren. Was wir brauchen, sind systemische Lösungen, die tatsächlich zu den komplexen strukturellen Verwicklungen und dem Ausmaß der ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Krisen passen. Das derzeit bei internationalen Zusammenkünften sehr beliebte Erzählen von Mini-Erfolgsgeschichtchen über Kommunen oder Gemeinden, die sich im Bereich umweltfreundlicher Produktion oder grünem Abfallmanagement engagieren, lenkt leider von der Bedeutung struktureller Probleme sowie der dringenden Notwendigkeit einer Demokratisierung globaler ökonomischer Machtstrukturen ab. Werden nicht gleichzeitig die verwobenen Krisen, die das kapitalistische System entfacht, angegangen, sind diese Geschichtchen nichts weiter als Verniedlichungen des Problems.

An dieser Stelle wird auch deutlich, inwiefern die Pandemie einen entscheidenden gesellschaftlichen Tipping Point darstellt. Die Probleme der Pandemie, die Art und Weise, wie sie sich rasend schnell über den Globus ausgebreitet und verletzliche und marginalisierte Menschen so viel härter getroffen hat, ist ein Warnruf, der auf die gravierenden Fehler im System hinweist.

Konzerne werden von der öffentlichen Hand gerettet, extraktivistische Projekte werden weiter vorangetrieben und Verhandlungen über Handelsabkommen fortgesetzt, obwohl es genügend Warnrufe gibt, diese angesichts zunehmender Bedenken um eine «Impfstoff-Apartheid» jetzt auszusetzen. Untergraben diese Praxen doch auch komplett jeglichen Geist von internationaler Zusammenarbeit und Solidarität. Aber es gibt alternative Ansätze: So fordern zivigesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen eine gerechte Erholung der Wirtschaft (engl. «just recovery»), die Menschen und Erde ins Zentrum des Handelns stellt. Sie fordern zudem die alte Normalität zurückzulassen und so stark wie nie zuvor auf Solidarität zu setzen. Sie fordern, dass Verantwortung übernommen wird und Lösungen auf den Tisch kommen, welche die schädlichen systemischen und strukturellen Wurzeln beseitigen.

Während 2019 und bis Anfang 2020 hinein eine sehr große Zahl von Menschen auf die Straße ging, sehen sich Klimaaktivist*innen nun mit den Herausforderungen von Lockdowns konfrontiert. Unter diesen Bedingungen zu mobilisieren und zu organisieren, braucht äußerst kreative und innovative Methoden. Nur so kann es gelingen, innerhalb der Bewegungen miteinander im Kontakt zu bleiben, die Öffentlichkeit anzusprechen und Entscheider*innen zu erreichen. Mit einer sehr internetaffinen Generation von Klimaaktivist*innen kann genau dies aber auch der Moment sein, der zeigen wird, inwiefern die verschiedenen sozialen Bewegungen sich, über die Generationen hinweg, gegenüber der anachronistischen Welt traditioneller politischer Denkmuster, alter Männerbünde und konventioneller Herangehensweisen durchsetzen können.

Und mehr noch, es passiert sowohl im Globalen Norden als auch im Süden. Das konnte man das ganze vergangene Jahr über in den verschiedensten Aktionen von Bewegungen und Zivilgesellschaft für mehr Klimagerechtigkeit sehen. Neben mehreren globalen Klimastreiks – online, als Fahrraddemo oder Sit-ins mit Abstand – gab es eine ganze Reihe digitaler Konferenzen, bei denen es um eine gerechte Erholung der Wirtschaft («just recovery»), Green New Deals, echte Nullemissionsziele, Degrowth, gerechte Klimafinanzierung und andere Fragen der Klimagerechtigkeit ging. Nur ein Beispiel: Rund 8.000 Teilnehmende registrierten sich für den Gipfel «From the Ground Up Global Gathering for Climate Justice». Dieser fand im vergangenen November während des Zeitraums als Online-Veranstaltung statt, in dem eigentlich die 26. UN-Klimakonferenz in Glasgow hätte stattfinden sollen. Organisiert von der COP26 Coalition aus Großbritannien war der Gipfel für Aktivist*innen aus aller Welt ein empowerndes Momentum. Er bot Vertreter*innen aus dem Globalen Süden und Frontline Communities Raum für ihre Anliegen und Botschaften. Nicht zuletzt war das Event ein Anlass für verschiedenste thematische Veranstaltungen, für Mobilisierungsplanungen, für die Strategieentwicklung und Gelegenheiten, um voneinander zu lernen. Zur selben Zeit organisierten junge Menschen aus aller Welt die «Mock COP 26», bei der eine Deklaration verabschiedet wurde. Diese Netzwerk- und Strategie-Events werden die Basis für die Klimagerechtigkeitskämpfe im Jahr 2021 bilden. Bewegungen, Graswurzelgruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen werden sich in den nächsten Monaten darauf vorbereiten, bei den Verhandler*innen der 26. UN-Klimakonferenz Ende des Jahres in Glasgow (unabhängig davon, in welcher Form die Konferenz stattfinden wird) aber auch bei sich zuhause Druck für mehr Klimagerechtigkeit zu machen.

In seiner Rede hatte UN-Generalsekretär Antonio Guterres in fast allen Punkten recht. Bis auf die Aussage, dass es eine klimafreundliche Erholung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht einfach dadurch geben wird, dass man einen «grünen Hebel», umlegt. Diese klimafreundliche Erholung wird nur dadurch kommen, dass man eine andere Welt möglich macht. Und Klimagerechtigkeit ist der einzige Impfstoff für unseren kranken Planeten. Wir haben gerade erst begonnen.