Das Europäische Sozialforum (ESF) in Istanbul vom 1. bis 4. Juli bot eine Vielzahl neuer Lern-, Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten. Solidaritätsaktionen wurden für Opfer von Gewalt und ESF-Aktive zu wichtigen Erlebnissen – wie die Demonstration zum Abschiebegefängnis und die Fahrt zur Mahnwache für Familien, die aus ihren Häusern vertrieben wurden und seit zwei Jahren in Zelten hausen.
Auf keinem vorherigen ESF wurde so ernsthaft über Solidarität diskutiert wie auf dem Istanbuler. Das lag nicht allein am fehlenden Solifonds für Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern, den vor allem der WSF-Rat, die Rosa-Luxemburg-Stiftung, das Netzwerk Transform sowie Abgeordnete der Linksfraktionen im Bundestag und im Europaparlament ersetzten. Es hatte mit konkreten Analysen und Konzepten zu tun, die darauf zielen, soziale und ökologische Zerstörung zu stoppen, strukturell zurückzudrängen und letztendlich zu überwinden. So hatte etwa die Moskauer Studentin Nastja dargestellt, wie es in der politischen Auseinandersetzung um die Deutung des 65. Jahrestages des «9. Mai» in Russland um die Frage ging: Hat in erster Linie der starke Staat über das deutsche Militär gesiegt oder waren es die kämpfenden solidarischen Menschen? Christian von Planka von der schwedischen Initiative für unentgeltlichen öffentlichen Nahverkehr begründete, warum das Prinzip «Solidarität mit sozial Schwachen» – mit Einkommensschwachen in Schweden ebenso wie mit den Opfern der Umweltkrisen auf der Welt – seit Jahren die Bewegung frisch halte. Emil, der slowakische Vizepräsident von Inforce, stellte Projekte vor, die mit erneuerbaren Energien die Energiearmut und globale Erwärmung bekämpfen – lokal und global, konsequent solidarisch.
Aber auch solidarische Kritik ist sehr angebracht. Denn zwei sehr wichtige Vorhaben, die in den Jahren 2008 und 2009 vereinbart wurden, sind nicht aufgegangen – mit schweren Folgen. Nach den ambivalenten Ergebnissen des ESF von Malmö sollte der «Idee Sozialforum » zu neuer Attraktivität verholfen und das Anliegen konkretisiert werden, Europa solidarisch von links zu verändern. Mit der Entscheidung für den Ort Istanbul sollte zudem den Linken in der Türkei wirksame politische Unterstützung zukommen. Darüber hinaus sollte es darum gehen, wie die EU zu einem solidarischen globalen Akteur werden könne, der die «Kurdenfrage» und Existenzprobleme der Menschheit gerecht lösen hilft. Istanbul war jedoch insgesamt kein Fortschritt. Die zwei Hauptursachen: Die nach Malmö getroffenen Absprachen wurden nicht umgesetzt und auf die falschen Akteure im widersprüchlichen Linksspektrum der Türkei gesetzt. Zugespitzt: Man braucht sich über nur 3.000 TeilnehmerInnen nicht zu wundern, wenn man ein ESF nicht wirklich europäisch vorbereitet, weil man immer wieder zuerst überlegt, wie man im eigenen Land an politischem Einfluss gewinnen kann – und wenn man das Sozialforum als «offenen Raum» für Kommunikation, Kooperation und Absprachen nicht solidarisch mit anderen füllen und teilen, sondern besetzen will, um andere zu belehren. Die Lernbereitschaft und -fähigkeit der linken Akteure haben im Verlaufe von acht Jahren ESF-Prozess tendenziell eher ab- statt zugenommen. Dabei hatte sich doch herumgesprochen, dass wir alle Griechinnen und Griechen sind, und man wollte doch in Istanbul gemeinsamen konkreten Widerstand gegen die Krisenbearbeitung der Herrschenden leisten sowie Ansätze nachhaltiger Krisenlösungen diskutieren.
Fazit: Lieber auf ein weiteres Sozialforum verzichten als ein «Familientreffen » austragen. Oder endlich die eigene politische Defensive analysieren und sich eingestehen: Wir sind so schwach, weil wir auf keiner Ebene wirkliche Sozialforumsprozesse haben – von der lokalen bis zur europäischen und darüber hinaus. Dass die aber dringlicher denn je gebraucht werden, hat mit der Verflechtung der Finanz- und Wirtschaftskrise mit den Umwelt-, Ernährungs- und Energiekrisen zu tun, mit der globalen Reproduktionskrise.
Ein Ausgangspunkt, um aus der Misere herauszukommen, ist nunmehr, ein Ergebnis der Sozialforumsprozesse zu nutzen: Die Entstehung und Entwicklung verschiedener europäischer Netzwerke, die themenspezifisch intensiv arbeiten und zahlreiche internationale Events und Aktionen hervorgebracht haben. Sie sollten endlich wieder einmal alle zusammenkommen und nun gemeinsam längerfristige Projekte beraten, vereinbaren und realisieren. Diesbezüglicher Treffpunkt könnte die in Istanbul vereinbarte europäische «Linke Krisenbearbeitungskonferenz» Ende Oktober in Paris sein. Die Wegsteine sind klar: Aktionen gegen die herrschende Krisenbearbeitung am 29. September, Friedensaktionen im Oktober und November, Aktivitäten gegen Armut um den 17. Oktober und – weil die globale Armut sehr viel mit Naturzerstörung zu tun hat – der «Kolumbus-Tag» am 12. Oktober sowie «1000 Cancuns» für solidarische und verantwortungsvolle Klimapolitik vom 29. November bis 9. Dezember.
Judith Dellheim ist Sozialwissenschaftlerin und langjährige Aktivistin des Sozialforumsprozess
Aus: RosaLux 3-2010
Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Globalisierung - Kapitalismusanalyse Schluss mit Familientreffen
Nicht nur der EURO ist in der KRISE – auch das Europäische Sozialforum