Kommentar | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Soziale Bewegungen / Organisierung - Rassismus / Neonazismus - Partizipation / Bürgerrechte - Krieg / Frieden - Kampf gegen Rechts - Antisemitismus «Wir können froh sein, dass wir eine Antifa haben»

Ein Nachruf auf Esther Bejarano von Anika Taschke

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Autorin

Anika Taschke,

Portrait Esther Bejarano
Esther Bejarano im Januar 2020 Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung

Esther Bejarano war KZ-Überlebende, Antifaschistin und Kommunistin. Sie verstarb am 10. Juli 2021 im Alter von 96 Jahren. Es ist eine Zeit um innezuhalten, zurückzublicken und dann in die vor uns liegende Arbeit einzusteigen – weitermachen.

Esther Bejarano, geborene Loewy, wurde 1924 im Saarland als Tochter jüdischer Eltern geboren. Als die antisemitische Stimmung im Land zunahm, versuchte die Familie wiederholt auszureisen, doch Esther und ihren Eltern gelang es nicht. Ihr Bruder schaffte es in die USA, eine Schwester wanderte nach Palästina aus. Mit dem Verbot jüdischer Schulen und anderer jüdischer Einrichtungen kam Esther ins Lager Ahrensdorf und später ins Lager Landwerk Neuendorf, wo sie für Fleurop Zwangsarbeit leisten musste. Esthers Eltern wurden in Kowno in Litauen von den Nazis umgebracht. Ihre zweite Schwester Ruth, die ebenfalls versuchte nach Palästina auszureisen, wurde in Auschwitz ermordet.

Der Blumenladen, in dem Esther einige Zeit arbeiten musste, schloss und Esther wurde in das Sammellager in der Großen Hamburger Straße in Berlin gebracht. Von dort aus wurde sie am 19. April 1943 mit dem 37.Osttransport nach Auschwitz deportiert. An diesem Tag wurden insgesamt 153 Menschen aus dem Lager Landwerk Neuendorf mit ihr nach Auschwitz geschickt. Sie überlebte die grauenhafte Fahrt im überfüllten Viehwagon, ohne Essen und umgeben von vielen bereits verstorbenen Menschen. Im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurde sie als Häftling 41948 registriert.

Anika Taschke ist stellvertretende Vorsitzende des deutschen Mauthausen Komitees und Referentin für Zeitgeschichte in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Dieser Artikel wurde im Jacobin Magazin erstveröffentlicht.

Ihr musikalisches Talent und ein wenig Glück verhalfen ihr ins Mädchenorchester von Auschwitz – eine Perversität der Nazis im Lager. Das Orchester musste Konzerte geben wenn etwa hochrangige Politiker und ihre Familien zu einem offiziellen Besuch geladen waren oder auch zu persönlichen Feierlichkeiten der Nazis. Vor allem aber mussten sie den Ein- und Ausmarsch der Häftlinge durch das Lagertor begleiten. Das Orchester ermöglichte den Mädchen und Frauen oft eine bessere Ernährung, Kleidung und Unterbringung. An einem Ort wie Auschwitz konnte das die Chance des Überlebens erhöhen.

In Interviews beschrieb Esther oft die Verzweiflung vieler ihrer Mithäftlinge. Viele nahmen sich vor ihren Augen das Leben: Selbstmord am elektrischen Zaun, der um das Lager gespannt wurde. Viele andere Freundinnen von ihr verstarben im Vernichtungslager aufgrund von Unterernährung, Krankheiten, Folter oder härtester körperlicher Zwangsarbeit. In Auschwitz wurden etwa 1,3 Millionen Menschen von den Nazis umgebracht.

Diese systematische Vernichtung von Leben, das die Nazis als «nicht wert» erachteten, insbesondere die Vernichtung der Jüdinnen und Juden, bleibt bis heute ein einzigartig grauenvolles Verbrechen ohne Präzedenz in der menschlichen Geschichte. Die Kolonialmächte und insbesondere die kolonialen Unterfangen in Nord- und Südamerika und später in Afrika waren zwar auch mit der massenhaften Vernichtung von menschlichem Leben und ganzen Zivilisationen verbunden, doch erst im Nationalsozialismus erhob ein Staat die systematische Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen zum Regierungsprogramm. Der Holocaust der Nazis entzog sich jeglicher militärischer oder wirtschaftlicher Logik – bis heute steht er für den beispiellosen Schrecken der faschistischen Ideologie und mahnt jede nachfolgende Generation von Antifaschistinnen und Antifaschisten, wachsam und wehrhaft zu bleiben.           

Im Lager erkrankte Esther schwer, wurde versorgt und im November 1943 mit einigen anderen «arischen» Frauen in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verlegt. Da ihre Großmutter keine Jüdin war, wurde Esther als sogenannte «Vierteljüdin» eingestuft. In Ravensbrück musste sie für das Unternehmen Siemens Zwangsarbeit verrichten – ganz praktischen Widerstand leistete sie dort, indem sie kleinere Arbeiten sabotierte.

Mit dem Vorrücken der Roten Armee im Osten wurden viele Lager evakuiert und noch arbeitsfähige Häftlinge auf Todesmärsche geschickt. Dies geschah auch in Auschwitz – als das Lager am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde, befanden sich im Lager viele Kranke und Schwache. Aus diesem Grund beharrte Esther stets darauf, dass der 27. Januar für sie kein Tag der Befreiung war. Der Tag der Befreiung kann nur der 8. Mai sein. Sie selbst erlebte ihre Befreiung in Lübz, einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern. Während des Todesmarsches floh sie mit einer kleinen Gruppe und traf im Ort Lübz auf russische und amerikanische Soldaten. Dort erfuhr sie, dass der Krieg vorbei war. Gemeinsam feierten sie: Die Soldaten zündeten ein Bild von Hitler an, sie lagen sich in den Armen, Häftlinge tanzten und Esther Loewy spielte auf einem Akkordeon, das sie von einem Amerikaner geschenkt bekommen hatte.

Ein kämpferisches Leben    

Nach dem Krieg suchte Esther ihre Eltern. So erfuhr sie von ihrem Tod. Sie fand die Adresse ihres Bruders in den USA und die ihrer Schwester in Palästina und entschloss im Sommer 1945, nach Israel auszuwandern. In Tel Aviv schloss sie ein Gesangsstudium ab, sang im Arbeiterchor Ron, musste Militärdienst leisten und heiratete 1950 ihren Mann Nissim Bejarano. 1960 kehrten Esther und Nissim mit den Kindern Edna und Joram in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Esther hatte noch die deutsche Staatsbürgerschaft. Nissim wollte aus gesundheitlichen Gründen und aufgrund seiner pazifistischen Überzeugungen nicht weiter in Israel bleiben. Später im Leben äußerte sich Esther immer wieder kritisch über die Behandlung der palästinensischen Bevölkerung durch den israelischen Staat – in ihren Augen eine «Katastrophe».      

Ihr Weg führte die Familie nach Hamburg, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Esther eröffnete in Hamburg ein Modegeschäft, sang in einer Band und trat später der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) bei. Als ein NPD-Stand vor ihrer Boutique aufgebaute wurde und die Polizei versuchte, Gegendemonstrierende an ihrem Protest zu hindern, wurde sie laut. Sie habe noch nie verstanden, warum man Nazis schützt – egal ob «neu» oder «alt».

Im Jahr 1986 gründete sie das Auschwitz Komitee der BRD. Es war eine Organisation für Überlebende, ehemalige Häftlinge der Konzentrationslager und deren Familien sowie Angehörige der Ermordeten. Heute ist das Komitee für diejenigen offen, die das Erbe der Häftlinge und Opfer von Auschwitz weitertragen wollen. Esther fing an, ihre Geschichte zu erzählen. Als Zeitzeugin brachte sie ihre Erlebnisse jungen Menschen in Gesprächen näher, um vor einer Wiederholung zu warnen und zu mahnen.

Esther Bejarano engagierte sich in Hamburg und später deutschlandweit gegen den grassierenden Rechtsruck, gegen die NPD, die AfD und alle anderen rechten Parteien, die auf dem Weg waren, wieder in die Parlamente einzuziehen. 2004 hielt sie auf einer Gegenkundgebung zu einem Naziaufmarsch eine Rede – die Polizei zielte damals mit ihrem Wasserwerfer direkt auf den Wagen, in dem Esther saß. Sie erlebte viel in diesen Jahren und doch ließ sie sich nie unterkriegen. Mit einer unendlichen Kraft, viel Mut und ihrer unermüdlichen Art ging sie durch das Leben. Auch zu aktuellen politischen Konflikten hatte sie stets eine Meinung und gab diese auch lautstark bekannt.

Vermutlich ist auch das ein Grund, warum sie nie zur Gedenkstunde am 27. Januar in den Deutschen Bundestag eingeladen wurde oder gar eine Rede halten durfte. Esther protestierte gegen die Geflüchteten- und Migrationspolitik Deutschlands, kritisierte den Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen und hier vor Ort. Zudem setzte sie sich stets für einen gerechten Frieden im Nahen Osten ein. Als die VVN-BdA ihre Gemeinnützigkeit verlor, schrieb sie empörte Brief an Politikerinnen und Politiker und verwies immer wieder auf die Wichtigkeit der Arbeit der VVN-BdA. Olaf Scholz mahnte sie mit folgenden Worten: «Das Haus brennt und Sie sperren die Feuerwehr aus.» Als Überlebende von Auschwitz hatte sie eine starke Stimme. Doch bequem wurde sie nie – sie mischte sich stets in politische Debatten ein, bewegte unzählige Menschen mit ihrer Geschichte und ihrem Aktivismus. Bei gemeinsamen Auftritten mit der Hip-Hop Band Microphone Mafia sang sie jiddische Lieder und tanzte ausgelassen.

Den nachfolgenden Generationen sagte sie: «Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah.» Bis zuletzt kämpfte sie für eine aktive Erinnerungskultur, den Erhalt und die Entstehung von Erinnerungsorten – Orte wie das Zwangsarbeitslager von Rhein-Metall in Unterlüß oder den Hannoversche Bahnhof in Hamburg. Es sind Orte wie diese, an denen Initiativen seit Jahren um eine Aufarbeitung kämpfen – und ignoriert werden. Insbesondere bei dem Einsatz von Zwangsarbeit für Unternehmen, die noch heute erfolgreich weiter betrieben werden, hängt die Aufarbeitung hinterher. Und eine Skandalisierung bleibt oft aus. Noch immer verschließen Unternehmen ihre Archive und kaufen unternehmenseigene Recherche-Teams.    

Wir machen weiter

Mit Esther verlässt uns eine laute und starke Stimme, die auf Ungerechtigkeiten hinweisen konnte und es stets tat. Sie hinterlässt eine große Lücke, die es nun zu füllen gilt. In Kreuzberg tauchte am Tag ihres Todes ein Plakat auf: «Esther wir machen weiter, wir sind da, versprochen! Aber ohne dich wird es schwerer. Deine Antifas.» Das Plakat spricht mir aus der Seele – denn Esthers Worte waren von Gewicht, ihre Kraft beeindruckte und ihr Netzwerk war unendlich groß. Nun heißt es innehalten und Abschied nehmen von einer großartigen Frau, die den Kampf für eine gerechtere Welt nie aufgab.

Und dann heißt es: weitermachen! Jetzt braucht es erst recht diejenigen, die gegen Nazis, Rassismus und Antisemitismus auf die Straße gehen. Es braucht diejenigen, die die Verbrechen der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten nie vergessen, die Geschichten und Namen der Opfer weitertragen und um den Erhalt von Erinnerungsorten kämpfen. Das verlangt Kraft, Mut und Zusammenhalt, denn Antifaschismus war und ist bis heute keine Selbstverständlichkeit und wird von konservativen, regierenden Politikerinnen und Politikern weiter konsequent geahndet und bekämpft: sei es mit dem Entzug der Gemeinnützigkeit, Extremismusklauseln oder Wasserwerfern.

Im Sinne des Buchenwaldschwurs heißt es nun 76 Jahre nach dem Ende des Faschismus: «Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.» Aber genauso gilt es auch, für einen 8. Mai als bundesweiten Feiertag zu streiten und für eine friedliche Welt ohne Waffen- und Rüstungsexporte. Wir machen weiter, liebe Esther! Danke, dass Du den Weg mit uns bis hierher gegangen bist.