Der Schock sitzt tief. Zwar sind die enormen Überschwemmungen in West- und Süddeutschland nicht die ersten verheerenden Hochwasser-Ereignisse. Noch nie in der jüngsten Geschichte gab es aber hierzulande eine so hohe Anzahl von Toten und Verletzten durch eine Naturkatastrophe zu beklagen. Die enormen Regenmassen kosteten über 150 Menschen das Leben. Eine Tragödie, die zuallererst Trauer und tiefstes Mitgefühl mit den Opfern und Hinterbliebenen, und zugleich eine Welle der Solidarität erzeugt hat.
Uwe Witt ist Referent für Klimaschutz und Strukturwandel im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Echtes Mitgefühl muss im nächsten Schritt jedoch nach den Ursachen fragen, nicht zuletzt, um in Zukunft Ähnliches so weit wie möglich zu vermeiden, einzugrenzen oder besser bewältigen zu können. Darum ist es alles andere als pietätlos, die verheerenden Unwetter in einen Zusammenhang mit Klimawandel und Klimaschutz zu stellen.
Natürlich sind schon aus früheren Zeiten große Überschwemmungen bekannt, auch im rheinland-pfälzischen Ahrtal, wo es aktuell die größten Verwüstungen gibt. Doch die immer schnellere Abfolge von Extremwetterereignissen, hier und weltweit, muss als Folge der Erderwärmung begriffen werden. Formal lässt sich zwar kein Einzelereignis dem Klimawandel unmittelbar zuordnen, ihre Häufung aber schon.
Im Falle der Überschwemmungen sind es zwei Faktoren, die es früher so nicht gab: Zum einen kann wärmere Luft mehr Feuchtigkeit aufnehmen, und zwar sieben Prozent je Grad. Im globalen Durchschnitt hat sich die Temperatur der erdnahen Atmosphäre und der Meere bislang um 1,1 Grad über vorindustrielle Zeiten erhöht, mit steigender Tendenz. Die Bundesrepublik liegt bei etwa 1,6 Grad plus. Somit kann sich in unseren Regionen die Luft rein rechnerisch (ebenfalls im Durchschnitt) mit rund 10 Prozent mehr Wasser aufladen.
Zum anderen – und dies ist wohl im Augenblick die Haupttriebkraft von Extremereignissen – verweilen Wetterfronten heute vielfach deutlich länger über bestimmten Gebieten als einst. Wäre selbst die feuchtere Luft wie ein normales Tiefdruckgebiet über Europa gezogen, hätten es die Menschen vielleicht nur mit einem längeren Sommer-Landregen zu tun gehabt, wenngleich auch mit einem starken. Der hätte zwar die die Pegel steigen lassen, aber keine Landstriche derart verwüstet.
Seit geraumer Zeit beginnen jedoch die mit einigem Abstand um die Pole kreisenden extrem schnellen Höhenwinde (Jetstreams genannt), in Wellen und Schleifen zu mäandern, wie manche Wasserläufe es tun. Die Ursache: Temperaturunterschiede zwischen den Polen und dem Äquator haben abgenommen, da die Pole sich fast drei Mal so schnell erwärmen wie die Tropen. Diese Temperaturunterschiede sind es aber, welche normalerweise die Düsen der Jetstreams antreiben. Aus dem ultraschnellen ursprünglich nur leicht wellenförmigen Windband, welches warme und kalte Luftmassen trennt, wird eine Art ausgeleierte Welle, die zwei Eigenschaften hat. Erstens können auf der Nordhalbkugel mit den «Wellentälern» kalte Polarströmungen bis weit in südliche Regionen vordringen, und am Wellenberg heiße bis in den hohen Norden. Zweitens bewegen sich die Wellenbänder an sich deutlich langsamer von West nach Ost. Weil die Jetstreams die wechselnden Hoch- und Tiefdruckgebiete quasi anschieben, bedeutet ihre Verlangsamung, dass ein Hoch- oder (wie nun über West- und Süddeutschland) ein Tiefdrucksystem sich – praktisch gefangen – kaum von der der Stelle bewegt. Bei warmem Wetter kann es sich unter bestimmten Bedingungen immer wieder mit Feuchtigkeit vollsaugen. Die ungeheuren Wassermassen regnen dann punktuell über einer Region ab, in der Regel einer bergigen.
Knapp 50 Grad Celsius wenige Tage zuvor auf dem 50sten Breitengrad in Kanada sind wiederum nichts anderes als die Kehrseite eines solchen Prozesses. Dort war extrem heiße Luft gefangen, die zuvor in den hohen Norden durchbrach. Den glühenden Ort Lytton im Norden, über den Medien am 29. Juni 2021 berichteten, gab es schon einen Tag später nicht mehr. Er verbrannte wie Zunder, ein durch Trockenheit genährter Waldbrand griff über. Fast 31 Millionen Menschen wurden im letzten Jahr von Naturkatastrophen vertrieben, meist im eigenen Land. Sie flohen vor dem Zyklon Amphan in Asien oder wurden in Zentralamerika und der Karibik Opfer von Wirbelstürmen. Wegen Überschwemmungen mussten in Afrika und dem Mittleren Osten Millionen ihre Häuser verlassen. Die Toten im Zusammenhang mit den Katastrophen im Globalen Süden sind vielfach ungezählt. Dass auch in der Bundesrepublik der Klimawandel längst angekommen ist, zeigen einmal mehr die Juli-Fluten. Trockneten die letzten drei Dürresommer den Boden bis in tiefe Bodenschichten aus, kam nun das Wasser.
Vor diesem Hintergrund ist nicht die Frage, ob ein Wetter-Ereignis tatsächlich mit dem Klimawandel zu tun hat, sondern welches Wetterereignis nichts mit dem Klimawandel zu tun hat. Die gesamte europäische Wetterküche, so chaotisch sie ist, braut ihre Wetter schließlich vor dem Grundrauschen eines nunmehr klimawandelbedingt häufig trägeren, aber mit deutlich mehr Energie aufgeladenen Luftmassentransportes.
Die bessere Frage ist aber die, was mit aller Kraft zu tun ist, um die Prozesse zu bremsen, und sich gleichzeitig auf die Folgen des dennoch mittlerweile Unvermeidlichen einzustellen. Wir reden zunächst von Klimaschutz und Anpassung. Mit Blick auf die Zukunft steht sicher auch zur Debatte, inwieweit dies innerhalb eines profitorientierten kapitalistischen Systems überhaupt gelingen kann.
Klar ist, die immer häufiger und stärker auch auf Europa treffenden Katastrophen sind nur der Anfang des globalen Klimawandels. Noch drastischere Verwerfungen werden auf die Menschheit zukommen. Sie werden Zündstoff sein für neue Konflikte um Wasser, Boden und andere Ressourcen, vor allem im Globalen Süden, sie werden Treibstoff sein für bestehende Konflikte weltweit, auch für Migrationsbewegungen. Selbst der zwingend anstehende Strukturwandel zum Gegensteuern birgt Risiken für soziale Verwerfungen zu Lasten der Schwachen. Und dies alles vor einer Kulisse einer in den meisten Ländern ohnehin sozial tief gespaltenen Gesellschaft sowie einer ungebremsten Wachstumslogik. Darum geht es nicht nur um Klimaschutz, sondern um Klimagerechtigkeit. Die Klimafrage muss mit der sozialen Frage verbunden werden, und zwar nicht abstrakt, sondern konkret, hier und heute.
Klimaschutz an sich ist sozial. Schlicht weil er Menschenleben schützt und gegen die beschriebenen asozialen klimabedingten Verwerfungen wirkt. Das eben verabschiedete EU-Klimapaket «Fit-for-55» und das von Klimaaktivisten gerichtlich erstrittene neue deutsche Klimaschutzgesetz mögen immer noch unzureichend sein. Sie bieten aber ernstzunehmende Ansatzpunkte für eine Klimaschutzoffensive. Beide sind überdies eine enorme Herausforderung für die Gesellschaft.
Klimaneutralität in 25 Jahren, wie es etwa das deutsche Klimaschutzgesetz nun festschreibt, ist kein bürgerlicher Spaziergang, sondern ein konfliktgeladener Leistungs-Marathon. Stichworte wären hier Bewältigung des beschleunigten Strukturwandels in Kohleregionen und Automobilindustrie, Überwindung von Widerständen beim beschleunigten Ausbau von Windkraft, Verhinderung des Missbrauchs der energetischen Gebäudesanierung zur Verdrängung von Mieterinnen und Mietern.
Es sind die jahrelang verpassten Chancen, das unentwegte Bremsen der herrschenden Politik und der Konzernlobbyisten vom Schlage des Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet, die diese Prozesse nun zusätzlich erschweren, weil sie jetzt in kürzerer Zeit vollzogen werden müssen. Es ist zudem die bis heute weitgehend fehlende Untersetzung der Klimapolitik mit sozial ausgewogenen Maßnahmen und Instrumenten, die bei manchen potentiell vom Wandel Betroffenen zumindest Misstrauen säht.
Ausdrücklich muss darum endlich Sozialpolitik integraler Bestandteil jeder ernsthaften Klimaschutzpolitik werden, und zwar auf drei Ebenen: Erstens in den Umsetzungsprogrammen selbst, etwa durch die finanzielle und mietrechtliche Absicherung der teuren energetischen Gebäudesanierung. Zweitens durch das Schaffen von bezahlbaren Alternativen zum klimaschädlichen Alten. Etwa durch den massiven Ausbau eines attraktiven und preiswerten ÖPNV- und Bahnangebots, um den Autoverkehr zurückdrängen zu können. Drittens, und das wird oft vergessen, durch mehr Gerechtigkeit auch auf jenen Ebenen, die nicht unmittelbar mit Klimaschutz zu tun haben. Wer etwa um seine Wohnung bangt, oder darum, ob die Haushaltskasse fürs Ferienlager des Kindes reicht, oder wem eine Armutsrente droht – der- oder diejenige könnte den Umbau eher als Bedrohung empfinden denn als Zukunftschance.
Weil die bereits ausgestoßenen Treibhausgase noch lange in der Erdatmosphäre verweilen und global mindestens bis Mitte des Jahrhunderts weitere dazu kommen, geht es nicht nur um Treibhausgasminderung, sondern auch um Anpassung an den sich bereits vollziehenden Klimawandel. Die Industriestaaten haben hier als Hauptverursacher zunächst eine historische Bringschuld gegenüber den Ländern des Globalen Südens; Transferleistungen in diese Regionen sind darum zu erhöhen.
Doch nicht nur dort muss angepasst werden, auch zu Hause. Frischluftschneisen in Städten müssen erhalten oder wiederhergestellt, Häuser sind besser gegen Hitzewellen zu schützen und versiegelte Flächen zu öffnen. Flüssen ist mehr Raum zu geben um die Hochwasserspitzen abzuschneiden, Bebauungspläne und Flussbauwerke sind zu hinterfragen.
Selbst mit den genannten Maßnahmen wird sich nicht jede Katastrophe vermeiden lassen. Darum muss nunmehr sorgfältig untersucht werden, ob die Kommunikationskanäle, Vorwarn- und Alarmsysteme (auch grenzüberschreitend) den wachsenden neuen Anforderungen gewachsen sind. Nach Berichten gibt es zumindest Hinweise darauf, dass dies aktuell nicht überall der Fall war.
Nicht zuletzt ist eine neue Debatte darüber zu führen, wie mit den Menschen und ihrem Vermögen umzugehen ist, die Opfer von solch verheerenden Ereignissen werden. Ob eine in jedem Fall uneingeschränkte und unkonditionierte Ersatzpflicht des Staates auch für alle unversicherten Elementarschäden – wie sie gerade verschiedentlich gefordert wird – ein gut durchdachter Weg ist, bleibt zu diskutieren. Dennoch müssen Wiederaufbauhilfen äußerst großzügig ausfallen sowie vor allem in der ersten Phase schnell und unbürokratisch ausgezahlt werden.
Für dies alles sind neue Standards auszuhandeln, die den Menschen helfen. Es ist zu befürchten, dass künftig Umweltkatastrophen immer mehr Bereiche heimsuchen, die Jahrhunderte lang als vergleichsweise sicher galten. Man kann vielleicht gegen ein Jahrhundert-Hochwasser Vorsorge leisten, nicht aber gegen «Jahrtausend-Hochwässer». Vor allem, wenn sie die Menschen klimawandelbedingt nun mehrmals im Jahrhundert heimsuchen.