Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Deutsch-deutsche Geschichte - Antisemitismus Gerhard Hanloser (Hrsg.): Linker Antisemitismus?, Wien 2020.

Dass es «linken Antisemitismus» gibt – wer wollte das bezweifeln? Trotz der Präsenz des Schlagworts ist er wie fast jede Antisemitismusdiagnose jedoch alles andere als unumstritten.

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Peter Ullrich,

Dass es «linken Antisemitismus» gibt – wer wollte das bezweifeln? Jahrzehnte der kontroversen Debatte und der linken Selbstkritik, der massenmedialen Bewegungsschelte wie der wissenschaftlichen Untersuchung haben dafür gesorgt, dass der Topos gleichsam ins Alltagsbewusstsein eingesickert ist. Es gibt ihn schlicht. Und zwar äußerst häufig in dieser Form – nicht nur als «Antisemitismus von links» oder linke «Anschlussfähigkeit an Antisemitismus» –, sondern als «linken Antisemitismus». Dieser wird im Diskurs in vielfältiger Form diagnostiziert und angeprangert: Neben offenen und klar erkennbaren Phänomenen wie antijüdischer Gewalt oder ebensolchen Ressentiments erscheint er auch als «verkürzte» oder «personalisierende» Kapitalismuskritik, als Antiamerikanismus, Verschwörungsdenken oder – derzeit besonders im Fokus: als Israelfeindschaft, nicht zuletzt der israelkritischen Bewegung «Boycott – Divestment – Sanctions» (BDS).

Trotz der Präsenz des Schlagworts ist «linker Antisemitismus» wie fast jede Antisemitismusdiagnose jedoch alles andere als unumstritten.[1] Das gilt für die Deutungen der relevanten politischen Akteur/innen genauso wie für die wissenschaftliche Debatte um das Thema. Die bedenklichste Antwort auf die Entwicklung des Topos ist die schlichte Negierung des Zusammenhangs Antisemitismus und Linke, wie sie in politischer Tendenzliteratur anzutreffen ist. Gegen beachtliche Evidenz wird dann doch nur der strategische Mehrwert des Antisemitismusvorwurfs betont,[2] der brüsk und ohne ernste Prüfung zurückgewiesen wird. Das erlebt man gerade im Streit um den ehemaligen Vorsitzenden der britischen Labour Party Jeremy Corbyn, bei dem eine Seite dem vorübergehend aus der Partei suspendierten Spitzenpolitiker Antisemitismus vorwirft und die andere eine Kampagne gegen die Parteilinke vermutet – gegenseitige Verständigung ausgeschlossen, obwohl beide Seiten nicht nur unrecht haben. Eine der klügeren möglichen Umgangsweisen mit dem Topos besteht in der Analyse seines Zustandekommens und im Nachverfolgen seiner diskursiven Eigendynamik, seiner Verfestigung, ja teilweisen Erstarrung zur Ideologie und zum Ticketdenken. Vor allem in diesem Sinne muss das Fragezeichen hinter dem Buchtitel «Linker Antisemitismus?» verstanden werden. Der zu besprechende Band wurde herausgegeben von dem in Berlin lebenden, als Lehrer und Publizist tätigen Soziologen und Historiker Gerhard Hanloser, der schon mit verschiedenen Büchern im Themenkreis auf sich aufmerksam gemacht hat, unter anderem mit der ersten umfassenden Bestandsaufnahme zur sogenannten «antideutschen» Strömung der Linken im Jahre 2004.[3]

Das aktuelle Buch lässt sich vor allem als «Gegen-Skizze» – so der Untertitel eines Beitrags – gegen die skizzierte Entwicklung zum erstarrten Topos lesen. Es fragt, wie aus dem Begriffspaar links/jüdisch – der moderne Antisemitismus hielt Sozialismus und Kommunismus für genuin jüdisch – das Begriffspaar links/antisemitisch im Gegenwartsdiskurs werden konnte. Es ist eine Spurensuche nach Verschüttetem im Diskurs über «linken Antisemitismus», der «längst zur Ideologie geronnen scheint» (S. 7). Und die Suche fördert Erstaunliches zutage. Nicht mittels reflexionsfeindlicher Moralisierung, sondern mittels historischer Kontextualisierung in den strategischen Konstellationen ihrer Zeit wird die Geschichte der (überwiegend bundesrepublikanischen) Linken, ihres Antizionismus und gegebenenfalls Antisemitismus gegen den Strich gelesen. Dabei werden die bekannten «Ursünden», klar antisemitische Aktionen von links, etwa die Bombe im jüdischen Gemeindehaus oder Ulrike Meinhofs Lob der Mörder der israelischen Olympiamannschaft, von den Autor/innen keinesfalls bestritten oder relativiert. Doch gegen völlig verselbstständigte Allgemeinplätze zeigen die Beiträge von Herausgeber Gerhard Hanloser und Karin Wetterau an Quellen, beispielsweise aus linken Presse-Erzeugnissen und Lebenserinnerungen, wie wenig Rückhalt diese Ereignisse schon damals in der linken Debatte hatten und wie viel Abscheu, Kritik und Distanzierung sie auch auslösten.

Wie die ohne Zweifel berechtigte Kritik an mancher Aktion der antiimperialistischen Linken im Nachhinein zu einer Vereindeutigung des Charakters des Kritisierten als klar antisemitisch beitrug, wird, im Anschluss an frühere Arbeiten,[4] eindrucksvoll an verschiedenen Beispielen belegt. Zu nennen ist neben dem Fall der doch nicht so eindeutigen «Selektion» der jüdischen Passagier/innen durch deutsche Terrorist/innen in der von Palästinenser/innen und deutschen Militanten entführten Air-France-Maschine die besondere deutsche Rezeption des Theaterstücks «Die Stadt, der Müll und der Tod» von Rainer Werner Fassbinder, das, so Peter Menne, nur hier und zwar fälschlicherweise als antisemitisch rezipiert wurde. Ein weiteres wichtiges Mittel der historischen Kontextualisierung ist der Blick auf die Urheber/innen und Popularisierer/innen des Verdikts «linker Antisemitismus», vom rechtskonservativen Joachim Fest (so Peter Menne über dessen Prägung des deutschen Fassbinderbildes) und dessen Links-Rechts-Hufeisenideologie bis zum Verfassungsschutz, wie sie Markus Mohr in seinem Beitrag über die Debatte zum israelfeindlichen und zum Boykott aufrufenden Hamburger Hafenstraßenwandbild der späten 1980er-Jahre aufspürt.

Quer zu diesem argumentativen Hauptstrang liegen Beiträge, die Einzelaspekte oder Kontexte der Debatte sezieren. Dazu gehört Moshe Zuckermanns etwas schwerfälliger Beitrag zur Begriffsgeschichte des «selbsthassenden Juden», der gleichwohl eine wahre Fundgrube von Bonmots ist, die seine Analysen verdichten und auf den Punkt bringen, insbesondere hinsichtlich des Verfalls des Topos «von einer Diagnose moderner Pathologie zur Denunziationsformel gegenüber kritischen Juden und Israelis» (S. 277). Über die Anwender/innen des Topos beispielsweise konstatiert Zuckermann, die Verstehensantagonismen der Debatte wunderbar zusammenfassend: «Es will ihnen schlicht nicht in den Sinn kommen, dass Juden sich der Politik des zionistischen Staates aus universellen humanistischen, völkerrechtskompatiblen und freiheitlich ausgerichteten Gründen widersetzen können.»

Weniger überzeugend ist die theoretische Auseinandersetzung Karl Reitters mit einem Manifest der Kritiker/innen des «linken Antisemitismus» – Moishe Postones vielfach wiederaufgelegtem Aufsatz «Nationalsozialismus und Antisemitismus».[5] Naheliegende zentrale Einwände gegen Postones Text, nicht zuletzt die fast hermetischen Ableitungsketten und die fragwürdige historische Basis seiner deterministischen wertkritischen Argumentation, dass Antisemitismus dem Kapitalverhältnis notwendig entspringe, sind Reitter nur eine kurze Erwähnung wert. Immerhin ist Postones Text Ausgangspunkt einer einschneidenden Erweiterung des Antisemitismusbegriffs in Teilen der politischen Linken wie der Antisemitismusforschung auf Phänomene, die dem Antisemitismus strukturähnlich sind, die aber kein jüdisches Anderes als Feindbild haben («struktureller Antisemitismus»). Reitter widmet sich stattdessen vor allem Postones aus seiner Sicht falschen Marx-Rezeption, insbesondere der Ersetzung der Marx’schen Kategorien privat/gesellschaftlich durch konkret/abstrakt bei Postone. Das überzeugt als Fundamentaleinwand wohl nur Leser/innen, denen die Referenz auf Marx (in korrekter Exegese) allein schon Wahrheitskriterium genug ist. Gegen Postones einflussreichen Text ist der Vorwurf bloß «falscher» Marx-Rezeption (über die im Übrigen auch unter Expert/innen kaum Einigkeit herzustellen sein wird) aber ein recht schwaches Argument.

Mit seinem antithetischen Ansatz, der einer verirrten Debatte als Korrektiv dienen möchte, begibt sich der Sammelband jedoch auf eine Gratwanderung, läuft Gefahr selbst zur Apologie zu werden, so wenn der Begriff des «israelbezogenen Antisemitismus» (u. a. S. 80) nur in distanzierenden Anführungszeichen erscheint. Man merkt dem Buch, trotz der beeindruckenden Belesenheit, die insbesondere der Quellenapparat von Hanlosers eigenen Beiträgen dokumentiert, an, dass es kein rein wissenschaftliches sein soll, sondern im Grunde auch eine engagierte politische Streitschrift ist. Das ist stellenweise schade, wenn beispielsweise starke Aussagen zur internationalen Fassbinder-Rezeption nicht mit Quellen belegt werden (S. 192), oder wenn – in fast allen Beiträgen – eine systematische Darstellung der Forschungsliteratur zugunsten eher eklektischer Nutzung unterbleibt. Diese Literatur zum Themenkomplex Linke – Nahostkonflikt – Antisemitismus ist, das ist zuzugestehen, mittlerweile kaum mehr überschaubar, hat aber durchaus unterscheidbare Ansätze hervorgebracht. Für die Lesefreude abträglich sind auch einige Redundanzen zwischen den Beiträgen der Autor/innen und der aus vielen Stellen sprechende Überzeugungswunsch. Manche Textteile mäandern so zwischen Exzerpt, Bericht und der prompten Gabe einer «korrekten» politischen Interpretation. Hier fühlt man sich als Leser/in bisweilen eher belehrt als angeregt. Doch anregend bleibt das Buch trotz gewisser Monita als korrigierende Perspektive auf die Geschichte der bundesrepublikanischen Linken und ihres Verhältnisses zu Israel und Antisemitismus und dabei als reiche Fundgrube für überraschende Quellen und pointierte Analysen zu einem noch immer schwierigen und umkämpften Themenfeld. Die vorgelegte «Gegen-Skizze» wäre damit eine Blaupause für weitere systematische historische Untersuchungen, die bisherigen Standardwerken[6] neue Perspektiven hinzufügen und auch manche entgegensetzen kann.
 


[1] Dafür steht mittlerweile eine Vielzahl an Publikationen; für die allgemeine Debatte vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.), Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen, Berlin 2020; für die Debatte um die politische Linke vgl. den Literaturüberblick von Peter Ullrich, Nahostkonflikt, Antisemitismus. Wegweiser durch eine Debatte. Eine kommentierte Bibliografie, 3. Aufl. Berlin 2014, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Analysen/Analyse_Linke-u-Nahostkonflikt.pdf (02.01.2020).
[2] Wolfgang Gehrcke, Rufmord. Die Antisemitismus-Kampagne gegen links, Köln 2015.
[3] Gerhard Hanloser (Hrsg.), "Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik, Münster 2004.
[4] Alexander Sedlmaier / Freia Anders, Unternehmen Entebbe 1976. Quellenkritische Perspektiven auf eine Flugzeugentführung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 22 (2013), S. 267–289; Markus Mohr (Hrsg.), Legenden um Entebbe. Ein Akt der Luftpiraterie und seine Dimensionen in der politischen Diskussion, Münster 2016.
[5] Unter anderem erschienen als Moishe Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus, in: Michael Werz (Hrsg.), Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frankfurt am Main 1995, S. 29–43.
[6] Insbesondere Martin Kloke: Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1994.
 


Hanloser, Gerhard (Hrsg.): Linker Antisemitismus?, Wien 2020: Mandelbaum (304 S., 22 €).
 


Die Besprechung erschien erstmals am 02.02.2021 auf der Informations- und Kommunikationsplattform H-Soz-Kult.