Die Härte der deutschen nahostpolitischen und Antisemitismusdebatte ist wohl allen gewahr. Erinnerungs- und nahostpolitische Deutungen prallen aufeinander, Verständigung scheint fast unmöglich. Stattdessen: Hass, Hetze, Shitstorms, Opferkonkurrenz, organisiertes Missverstehen. Dies rührt aus dem Spannungsverhältnis von gegenwärtigen nahostpolitischen Positionierungen und dem Hintergrund der deutschen Geschichte - namentlich den Bestrebungen um Wiedergewinnung von internationaler Anerkennung des NS-Nachfolgestaats, die sich unter anderem im besonders engen Verhältnis zu Israel und der philosemitischen Überhöhung dieser gesuchten Nähe ausdrückt.
»Campuskriege« in den USA
Trotzdem ist Deutschland keineswegs das einzige Land, in dem sich eine solche bipolare Konfliktkonstellation in mit aller Härte ausgetragenen Auseinandersetzungen ausdrückt. Eine ähnlich zugespitzte Unversöhnlichkeit der Lager findet sich auch in den USA - besonders im Umfeld der Hochschulen, wo Studierende, Forschende, Lehrende, um ihr Prestige besorgte Präsidien und zivilgesellschaftliche sowie Lobbygruppen aller Art eine aufgeheizte Debatte über Israel und Palästina führen.
Diese »campus wars« untersucht Kenneth in seinem aktuellen Buch und gibt nebenbei Einblicke in verschiedenste andere Schauplätze, in denen der weltweite Nahostkonflikt zweiter Ordnung - der Zusammenstoß der Solidaritätsgruppen - ausgetragen wird: Etwa in den Ablauf der UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban von 2001, wo Palästinasolidarität und Antizionismus die Agenda prägten - oder in den Prozess der Entstehung der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).
Stern hat viel Spannendes zu berichten. Als US-amerikanischer Menschenrechtsanwalt war er viele Jahre der Antisemitismusexperte des American Jewish Committee - einer Organisation, die sich, so der Autor, von einem kritischen Thinktank zu einer bloßen Israellobby-Organisation entwickelt habe. Bekannt ist Stern zudem als einer der wichtigsten Urheber jener umkämpften IHRA-Antisemitismusdefinition - und mittlerweile als einer der schärfsten Kritiker ihres Missbrauchs als ein Instrument, mit dessen Hilfe die Meinungsfreiheit für nahostpolitische Positionierungen beschnitten wird. Im vorliegenden Buch berichtet er vor allem aus seiner Perspektive als Beteiligter - Streiter wie Vermittler - über eine Vielzahl von Ereignissen und Entwicklungen dieses Metakonflikts, die in ihrer Bedeutung weit über die US-Hochschulen hinausreichen.
Das Buch beginnt mit einer Einführung in die Hate Studies, was ihm einen akademischeren Anschein gibt als angemessen wäre. Was als aktuelle Theorie präsentiert wird, sind eigentlich altbekannte Ergebnisse der sozialpsychologischen Social Identity Theory der 1970er und 1980er, die gleichwohl bedeutsam für das Verständnis der beschriebenen Konflikte bleiben: Wir fühlen mehr als wir denken, nehmen selektiv wahr, neigen zur Selbstbestätigung und bilden identitätsstabilisierende Gruppen. Diesen schenkt man stets mehr Glauben als anderen, womöglich gegnerischen Gruppen und sichert die Lagerbildung durch Rituale der Abgrenzung und Überhöhung von Symbolen.
Diese Konzepte tauchen im weiteren Text nicht mehr auf - aber ihr Wirken ist in der Beschreibung jeder Debatte zu spüren. Israel ist, so Stern, für viele Jüdinnen und Juden zu einem Anker solcher Identitätsbildungsprozesse geworden, angesichts der Heterogenität jüdischer Lebenswelten vielleicht sogar zu dem wichtigsten. Das zeigt sich als starke - und mehrheitliche - Pro-Israel-Orientierung genauso wie beim dezidierten Antizionismus vieler Jüdinnen und Juden.
Für die Redefreiheit
Umso bemerkenswerter, dass der Autor nicht zum Opfer dieser Mechanismen wird. Stern ist allein schon wegen seiner so selten gewordenen Haltung zu schätzen, die jede Zeile seines Buches prägt: Er ist klar in seiner Positionierung und seinem Einsatz gegen Antisemitismus, ob er sich direkt gegen Juden richtet oder in versteckter Form an Israel abarbeitet. Er ist sich zugleich im Klaren darüber, dass die israelische Besatzungspolitik immenses Leid für die Bevölkerung der palästinensischen Gebiete birgt - und dieses Leid völlig verständlicherweise auch dezidierte und zugespitzte Kritik an Israel hervorbringt. Zudem streitet er kompromisslos für eine Meinungs- und Redefreiheit, die auch unappetitliche Meinungen aushält.
So macht er sich gegen die vor allem durch im US-Hochschulwesen verbreitete Tendenz stark, mittels Sprachregelungen Studierende vor womöglich Irritierendem zu schützen - durch »Safe Spaces«, »Triggerwarnungen« und das Konstatieren von »Mikroaggressionen«. Die Universität sei genau dazu da: zu stören, die Komfortzone zu verlassen, zu reizen; freilich in Form der Debatte, des auch kontroversen Meinungsstreits - nicht in Form von Diskriminierung.
Sterns Berichte zu Vorfällen an den Hochschulen zeigen, wo die Grenze überschritten wird: Wenn beide Seiten versuchen, missliebige Personen zu verdrängen und ihre Positionen zu unterdrücken - die Liste ist nicht kurz, die Intensität von Hetze und Drohung beachtlich. Im Agieren beider Seiten sieht er eine strukturelle Symmetrie, was er etwa an der Reaktion pro-israelischer Organisationen gegenüber Vorstößen eines akademischen Israel-Boykotts beschreibt, die insbesondere im Wissenschaftsbetrieb Großbritanniens einige Unterstützung gefunden hatte: Unter anderem die Anti-Defamation-League rief zum Gegenboykott auf.
Stern hält all dem immer wieder ein »third narrative« dagegen: eine dritte Position, die sich der Polarisierung entzieht. In diesem Sinne hat sich Stern auch selbst eingebracht und etwa 2014 eine Koalition renommierter Intellektueller aufgebaut, die sich klar gegen den akademischen Boykott gegen Israelis wendet und zugleich klar Stellung gegen die Besatzung bezieht.
Aufschlussreich ist der Einblick in die Entstehungsgeschichte jener Arbeitsdefinition aus erster Hand. Stern erklärt deren starke Betonung antisemitischer Phänomene im Antizionismus mit der Angst davor, dass sich erneut die Durban-Formel »Zionismus = Rassismus« durchsetzen könnte - was mit aller Macht zu verhindern sei. Trotzdem gehört er zu denen, die jene »Arbeitsdefinition« als einen Aufschlag verstehen, der weiterer Arbeit bedürfe: Nicht zuletzt, wo die Definition immer öfter herangezogen wird, um Meinungen auszuschließen, indem man Aussagen, die der Definition oder ihrer Kasuistik entsprechen, als konkrete Diskriminierung begreift.
Dem widerspricht Stern aus zwei Gründen: Erstens könne man Meinungen nicht verbieten, sondern bestenfalls argumentativ stellen. Und zweitens ist er sich klar darüber, dass die Definition eindeutige Einordnungen von Ereignissen oft nicht ermöglicht. Ausführlich erläutert er das am Beispiel des so beliebten wie vagen IHRA-Kriteriums der »doppelten Standards«, das Kritik an Israel als antisemitisch einstuft, wenn die Kritisierenden in anderen, womöglich vergleichbaren Konflikten indifferent seien. Doch sieht Stern ebenso klar, dass eine Diskussion um Grauzonen nicht geführt wird, weil die Definition in Teilen der jüdischen Community unhinterfragbar geworden sei. Wie strategisch dabei agiert werden kann, zeigt Stern anhand des wohlwollenden Stillhaltens etablierter jüdischer Akteure gegenüber offensichtlich rechtsradikalen und antisemitischen Äußerungen des US-Präsidenten Donald Trump - schließlich geriert sich dieser als Freund Israels.
Psychologische Reduktion
Zu den Schwächen des Buches gehört die Vielzahl an Erzählungen, stets in einer etwas eitlen Ich-Form à la »Da rief mich XY an«. Man wünscht sich mehr Systematik, Arbeit am Begriff und Strukturierung. Auch fällt ein gewisser Reduktionismus auf: Sterns sozialpsychologischer Ansatz ist nah am Alltagsverstand, vielleicht typisch für einen stets an Motiven interessierten Juristen. Doch bleibt so einiges unterbelichtet, etwa die Bedeutung staatlicher Akteure und ihrer Macht- und Legitimationsinteressen, die formative Rolle von Organisationen wie Medien und Interessensgruppen sowie die Eigendynamik eines »toxischen« Konfliktdiskurses: die Tendenz, sich vom Ausgangsgegenstand zu lösen und sich als Streit sui generis mit anderen Anerkennungskämpfen zu verbinden.
Das Buch ist ein Aufruf: Wir sollen die Komplexität des Konfliktes in Nahost und der Deutungskämpfe darum anerkennen, analysieren und diskutieren, über Lagergrenzen hinweg - hart in der Sache, aber ohne Diskursräume zu schließen und darauf zu hoffen, dass das eigene Lager fest zusammensteht und am Ende obsiegt. Das ist ein universalistischer Horizont, dem man sich nur anschließen kann - und der es wünschenswert macht, dass dieses Buch bald ins Deutsche übersetzt wird.
Kenneth Stern: The Conflict over the Conflict: The Israel/Palestine Campus Debate, Toronto 2020: University of Toronto Press (296 S., 30 €).
Die Besprechung erschien erstmals am 18.12.2020 in der Tageszeitung nd.