Mario Keßlers Buch ist ein Standardwerk. Es ist umfang- und materialreich, gut zu lesen und, was es besonders auszeichnet, international, ja transnational ausgerichtet. Im Gegensatz zu den verschiedenen personenbezogenen oder länderspezifischen Untersuchungen widmet es sich der Politik der II. und III. Internationalen im Zeitraum zwischen 1897 (Erster Zionistenkongress) und 1933, also einer für die Formierung der Arbeiter*innenbewegung durchaus entscheidenden Phase. Im Zentrum stehen Fragen nach dem Zusammenhang zwischen ideologischen Differenzierungen und Organisation. Es geht also um die Gliederung der Arbeiter*innenbewegung und ihrer Parteien in verschiedene Strömungen, Netzwerke und formale Zusammenschlüsse, deren interne Kämpfe und Auseinandersetzungen sowie um ihr Werben um Außenstehende – und zwar immer mit Hinblick auf das Verhältnis zum Zionismus als Idee und reale Bewegung.
Der historische Ausgangspunkt, in einem einleitenden Kapitel dargestellt (die weiteren Kapitel sind chronologisch und thematisch untergliedert), ist das linke Assimilationskonzept, aus dem angesichts der Hoffnung auf die nahende Weltrevolution eine große Distanz zum Zionismus resultierte. Dieser wurde von Marxist*innen mehrheitlich als Spaltungsideologie abgelehnt. Viele Sozialist*innen hofften zudem, die Antisemit*innen am Ende doch noch für den Sozialismus gewinnen zu können. Erst nach und nach wurde ihnen der Charakter des Antisemitismus (auf den die zionistische Bewegung ja reagierte) zumindest teilweise bewusst. So kam es insbesondere ab den 1890er Jahren zu seiner klaren Verurteilung durch eine Reihe von sozialistischen Führern, darunter Friedrich Engels, August Bebel, Karl Kautsky und Paul Lafargue, während sich in Osteuropa, wo die meisten europäischen Jüdinnen und Juden unter meist miserablen Bedingungen lebten, eine jüdische Arbeiter*innenbewegung herausbildete.
Ausführlich wird geschildert, wie sich die russische Sozialdemokratie darüber stritt, inwiefern es eigene jüdische Parteigliederung geben sollte (Kontroverse zwischen Lenin und dem jüdischen und gleichzeitig antizionistischen BUND um kulturelle Autonomie in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR); später Herausbildung der zionistischen Arbeiterpartei Poale Zion). Zudem wird beschrieben, wie sich die Lage der Jüdinnen und Juden nach der Oktoberrevolution radikal veränderte. Bedeutete die Revolution zunächst die Befreiung von der Angst vor weiteren Pogromen sowie die Besserung ihrer sozialen Lage, blieb auch in der kommunistischen Sowjetunion die «jüdische Frage» stets virulent. Hiervon zeugen Projekte wie das der jüdischen Republik Birobidschan, der gescheiterte Versuch einer administrativen und autoritären innersowjetischen Lösung durch Bevölkerungsverschiebung, und schließlich auch der offene antijüdische Terror in Stalins «Säuberungskampagnen».
Für Westeuropa wird gezeigt, wie sich innerhalb der auch international tonangebenden SPD neben dem Antizionismus ab etwa 1908 nach und nach prozionistische Strömungen herausbildeten. Solche Positionen traten besonders unter rechten Theoretiker*innen auf, die auch eine revisionistische Kolonialpolitik entwarfen. Darin scheint auch eine wesentliche Voraussetzung des Bedeutungswandels zu liegen, dem der Zionismus für die Sozialdemokratie unterworfen war. Die nichtkommunistische Arbeiter*innenbewegung, wie sie aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war, unterschied sich von ihren marxistischen Vorläufern an zwei entscheidenden Punkten: erstens durch die Abkehr vom Prinzip des Klassenkampfes und zweitens durch die Abwendung vom Internationalismus hin zu einer national ausgerichteten Reformpolitik, wozu die Zustimmung zum Krieg den Grundstein gelegt hatte. Mit dieser neuen Politik wurde die ehemals klare antikolonialistische Linie aufgegeben und im weiteren Verlauf sogar das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Die stärkste Unterstützung für den Zionismus erwuchs in der britischen Labour Party. Die kommunistische Bewegung (die Komintern und ihre palästinensische Sektion) hingegen trat zunehmend für den Kampf gegen «Imperialismus» und «Zionismus» und für ein Bündnis mit dem arabischen Nationalismus ein.
Die Spaltung der II. Internationalen durch den Ersten Weltkrieg in einen kommunistischen und einen sozialistischen Flügel äußerte sich dann auch immer mehr in der Haltung zur Palästinafrage, was in höchst unterschiedlichen Bewertungen der Ereignisse in Palästina deutlich wurde: Prozionistische Vertreter*innen innerhalb der Sozialistischen Arbeiterinternationale (sozialdemokratisch) verurteilten die antijüdischen Ausschreitungen des Jahres 1929 in Palästina als Aktionen religiöser «Fanatiker» und reaktionärer «Effendis». Die III. (kommunistische) Internationale deutete die Ereignisse als fortschrittlichen antikolonialen Befreiungskampf der arabischen Massen und negierte die Rolle der klerikal-feudalen arabischen Führung, deren politische Ziele wohl kaum Anknüpfungspunkte für den Kommunismus boten.
Gegen Ende des Buches nimmt die Schilderung der (gegensätzlichen) Aktivitäten der beiden großen Strömungen der Arbeiter*innenbewegung und ihrer jeweiligen Assoziierten vor Ort in Palästina immer mehr Raum ein und wird zum wichtigsten Thema (den realen Fortgang des Zionismus von einer Idee zu einem tatsächlich sich vollziehenden Besiedlungsprojekt reflektierend). Den traurigen Schlusspunkt bildet das absolute Versagen der europäischen Arbeiter*innenbewegung angesichts des aufstrebenden Nationalsozialismus, das Kessler nur recht knapp analysiert. Der erst viel zu spät aufgenommene gemeinsame Kampf sollte die Linken letztlich dazu zwingen, ihre bisherigen Positionierungen zum Zionismus grundlegend auf den Prüfstand zu stellen.
Keßler, Mario: Zionismus und internationale Arbeiterbewegung. 1897 bis 1933, Berlin 1994: Akademie-Verlag.