Nachricht | Migration / Flucht - Osteuropa Wenn plötzlich Weltpolitik hinzukommt

Bemerkungen zur aktuellen Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus

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Holger Politt,

Noch vor einigen Jahren gehörte es in der politischen Diskussion in Polen zum guten Ton, die Perspektive der viel beschworenen Osterweiterung der Europäischen Union offenzuhalten. Quer durch nahezu alle politischen Lager wurde gerne darauf verwiesen, dass eine Osterweiterung der EU erst abgeschlossen sein könne, wenn eines Tages auch die Ukraine und Belarus der Gemeinschaft angehörten. Untersetzt wurde und wird eine solche Position mit dem Verweis auf die Geschichte, dass es sich einst um einen zusammenhängenden politischen Raum gehandelt habe. Erst der Aufstieg Zarenrusslands zur europäischen Macht nach den polnischen Teilungen und später die Gründung der Sowjetunion hätten diesen historischen Raum getrennt und ihm ein anderes, strikter vom europäischen Westen getrenntes Gepräge gegeben. So weit, so gut – interessant daran ist aber auf jeden Fall, dass sich in dieser Frage führende Köpfe eben quer durch die politischen Lager, von nationalkonservativ bis links, einig wussten.

Holger Politt ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Polens Hauptstadt Warschau.

Jetzt ist es plötzlich anders, denn eine Mehrheit im Sejm (der unteren, wichtigeren Kammer im Parlament) hat sich für den Bau einer massiven Befestigung an der Grenze zu Belarus ausgesprochen. Auf etwa 150 Kilometern soll nun an der insgesamt über 400 Kilometer langen Grenze zum Nachbarland ein Mauerwerk errichtet werden, mit dem natürlich eine ganz andere Botschaft in die Welt gesetzt wird als mit jenen feinen Sonntagsreden von einem großen historischen Raum. Mehr sogar: Noch vor einem Jahr drängte die in ihrem Ausmaß unerwartete Protestwelle in Belarus gegen die Wahlfälschung der Lukaschenko-Regierung das Land deutlicher nach Westen, also hin zur benachbarten EU. Wer hätte damals vermuten können, dass nun wenige Zeit später über handfeste Abgrenzung, über unüberwindliches Mauerwerk zwischen Polen und Belarus gesprochen und entschieden wird!

Spielball der großen Politik

Die Furcht vor Menschen, die über Belarus ohne entsprechende Einreisedokumente in den Schengenraum der EU gelangen wollen – der polnische Grenzschutz spricht von bislang über 30.000 Versuchen dieserart seit August, die verhindert worden seien –, haben für diesen Sinneswandel in der herrschenden Politik gesorgt. Die Regierung in Minsk lässt – beispielsweise im Irak – großzügig Reisedokumente ausstellen, um die Menschen dann, wenn sie in Minsk eintreffen, postwendend an die westliche Grenze zu bringen. Anfangs wurde auf die leicht zu überwindende grüne Grenze zu den EU-Ländern Lettland, Litauen und Polen spekuliert. Bereits in den Sommerwochen setzten auf der EU-Seite indes schrittweise Gegenmaßnahmen mit Grenzbefestigungen ein, zunächst in Litauen und Lettland, später auch in Polen. Die aus Minsk an die Grenze gebrachten Menschen, die in die EU einreisen wollen, sollen jetzt an der Grenze abgehalten werden; zumindest soll Minsk ernsthaft bedeutet werden, dass man sich auf gar keinen Fall erpressen lassen werde. Insofern sind die Menschen, so sie an der Grenze festgesetzt werden und weder vor noch zurück können, plötzlich zum Spielball der großen Politik geworden.

Die polnische Regierung veranlasste die Absperrung mit Stacheldraht und verhängte im Grenzgebiet einen befristeten Ausnahmezustand, sodass seitdem die journalistische Berichterstattung aus dem Grenzgebiet immens erschwert, wenn nicht sogar vollständig verhindert wird. Ein weitgehendes Zutrittsverbot gilt auch für diejenigen, die in unmittelbarer, tatkräftiger Weise den an der Grenze festsitzenden Menschen zu helfen versuchen.

Die Regierung kann politisch für sich verbuchen, in dieser sensiblen Frage den Zusammenhalt der demokratischen Opposition aufgebrochen zu haben. Die gemäßigten Agrarier der PSL, die den konservativen Flügel im Oppositionsbogen bilden, haben sich bei den Abstimmungen im Parlament zur Grenzsituation auf die Seite der Regierung geschlagen, was für manche Beobachter doch ein wenig überraschend kam. Allerdings hat sich das nationalkonservative Regierungslager insgesamt andere Zustimmungswerte in der Bevölkerung versprochen, glaubte man doch, mit dem harten und entschlossenen Durchgreifen wieder zusätzliches Wasser auf die eigenen politischen Mühlen zu bekommen, überhaupt aus der Zwickmühle zwischen EU-Mitgliedschaft und nationaler Politik herauszukommen, in die man sich im Laufe der letzten Monate immer mehr hineinmanövriert hat. Losungen wie nationale Souveränität und nationale Identität, für die das Regierungslager seit 2015 gleichermaßen entschieden wie geschlossen steht, sollten in den Vordergrund geschoben werden, um andere Konfliktlinien in der Gesellschaft zu überdecken.

Es geht auch anders

Doch einer wichtigen Mehrheit in der Bevölkerung ist bewusst, dass die im Zusammenhang mit der jetzigen Grenzsituation entstehenden Fragen nicht ohne ein enges Zusammenwirken mit den anderen EU-Mitgliedern und überhaupt mit Brüssel zu lösen sein werden. Insofern wirft das überraschende Urteil des Verfassungstribunals vom 7. Oktober 2021 noch ein ganz anderes Licht auf die Sache. Wenn EU-Recht immer zurückzutreten habe, sobald es der Verfassungsordnung im Lande widerspreche, dann mutet das entschiedene Vorgehen der nationalkonservativen Regierung an der Grenze zu Belarus doch eher wie ein Spielen mit den Muskeln des Nationalstaats an, der seine Souveränität, die angeblich dort bedroht wird, nun mit allen Mitteln zu schützen sucht.

Bereits im Oktober kam es in den großen Städten zu Protestaktionen gegen das Vorgehen der Regierung an der Grenze, die vor allem von einem liberalen bis linksgerichteten Spektrum getragen wurden, allerdings ihrem Umfang nach noch eindeutig im Schatten der großen Massenproteste gegen die EU-Entscheidung des Verfassungstribunals und gegen das faktische Abtreibungsverbot stehen. Dennoch haben diese mutigen Aktionen einen tieferen Sinn, denn sie zeigen verlässlich an, wie sehr die polnische Gesellschaft auch in der nicht einfachen Frage von Migration und Einwanderung in den zurückliegenden Jahren gereift ist und dass sich die Gesellschaft nicht mehr so einfach übertölpeln lässt, wenn an höherer Stelle ungeniert von einer Gefahr gesprochen wird, weil flüchtende Menschen, die in die EU wollen, nichts als Krankheiten und Chaos mit sich brächten. Dieses widerständige Zeichen aus der polnischen Zivilgesellschaft lässt jedenfalls hoffen, dass es auch anders geht.