Nachricht | Sorgende Städte

Vergesellschaftet die Care-Arbeit!

Information

Die erfolgreiche Kampagne von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» strahlt über Berlin hinaus. An vielen Orten formieren sich Bündnisse, um wichtige Teile der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand zurückzuholen. Denn nach Jahren zerstörerischer Privatisierungspolitik ist offensichtlich geworden, dass diese nicht länger dem Markt überlassen werden können. Nicht zufällig finden viele dieser Kämpfe im Bereich sozialer Reproduktion statt. Geht es bei Wohnraum, Krankenhäusern, Energieversorgung oder Nahverkehr doch um Infrastrukturen, die zum einen unverzichtbar sind und zum anderen nur lokal genutzt werden können. Das sich dort verwertende Kapital kann den Standort nicht einfach verlagern – entsprechend sind die Bedingungen für Kämpfe um Rekommunalisierung oder Vergesellschaftung tendenziell günstiger (vgl. Hoffrogge 2021).

Gleichzeitig hat die Pandemie einmal mehr ins Bewusstsein gerufen, welche gesellschaftlichen Arbeiten im engen Sinne «systemrelevant» sind und folglich als «sozialisierungsreif» gelten müssen. Neben den genannten sind das vor allem Pflege, Erziehung, Bildung, Ernährung, Reinigung und Betreuung, all jene Tätigkeiten also, die klassischerweise von Frauen und zu großen Teilen im privaten Haushalt erledigt werden.

Das gesamte Feld der Sorgearbeiten zu vergesellschaften, steht jedoch bisher nicht auf der Agenda von Anti-Privatisierungs-Bündnissen. Warum ist das so? Warum wäre es nötig? Und wie könnten Projekte oder Kampagnen für eine «Sorgende Stadt» entstehen, die eine Vergesellschaftung aller Care-Arbeiten vorantreiben?

Sorgen mit der Sorge

Care-Arbeit gilt unter kapitalistischen Verhältnissen als privat und als Frauensache. Historische Kämpfe um Professionalisierung waren zwar durchaus erfolgreich, dennoch liegt der riesige Bereich unentlohnter, häuslicher Sorge-Arbeiten[1] weiterhin in der Verantwortung der Einzelnen. Hinzu kommt, dass mit den neoliberalen Politiken die Löhne, Arbeits- und Reproduktionsbedingungen der Haushalte unter Druck geraten sind. Professionelle Angebote können den Bedarf, der dadurch entsteht, dass Frauen inzwischen mehrheitlich erwerbstätig sein müssen, kaum mehr decken. Denn auch hier haben Marktsteuerung und Ökonomisierung die Bedingungen verschlechtert: Es fehlt eigentlich in allen Bereichen sozialer Dienstleistungen an qualifiziertem Personal und an bedarfsdeckenden Angeboten. In der Konsequenz wird Sorge erneut und zwar doppelt ins Private verschoben. Manche Lücken können dadurch gestopft werden, dass Babysitting, Nachhilfe, Reinigungsdienste oder 24-Stunden-Pflege formell oder informell und häufig zu schlechten Bedingungen eingekauft werden. Wer sich das nicht leisten kann, muss sich auf die Familie oder soziale Netzwerke verlassen. Die finanziellen und die emotionalen Kosten werden in beiden Fällen individualisiert. Unter Bedingungen der Corona-Krise war dies täglich zu beobachten: Alleinerziehende verloren ihre Jobs, alte Menschen vereinsamten und vor allem Frauen erledigten Bildung, Erziehung und Erwerbsarbeit vom heimischen Küchentisch aus. Die Krise im Bereich sozialer Reproduktion spitzt sich zu und sie betrifft wachsende Bevölkerungsteile (Winker 2015). Bisherige Notlösungen kommen an ihre Grenzen.

Das Private ist (noch nicht) politisch

Die Tatsache, dass Care-Arbeit in privater Verantwortung liegt und in der scheinbar natürlichen Zuständigkeit von Frauen, macht Veränderungen in diesem Bereich seit jeher kompliziert. Räumliche Vereinzelung, mangelnde Organisierungserfahrung und fehlende Produktionsmacht machen es denen, die unbezahlt oder prekär Sorgearbeit leisten, oft schwer, sich zu wehren und bessere Bedingungen einzufordern – sei es mehr Geld oder eine Umverteilung der Arbeit.

Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Alex Wischnewski ist Leiterin des Dialogprogramms Globaler Feminismus der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires.

Hinzu kommt, dass der Gegner in diesem Kampf weniger leicht auszumachen ist als etwa in der Mietenpolitik, wo finanzialisierte Wohnungsunternehmen eine klarere politische Angriffsfläche bieten. Vielmehr verläuft eine Spaltungslinie durch die Klasse hindurch. Die herrschenden Geschlechterverhältnisse sowie Unterschiede im Aufenthaltsstatus und beim Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren die Bildung eines handlungsfähigen Kollektivsubjekts. Denn Teile der Klasse profitieren durchaus von den aktuellen Arrangements oder haben zumindest ein weniger dringliches Veränderungsinteresse: Die schlecht bezahlte oder unbezahlte Arbeitskraft von anderen macht es ihnen im bestehenden System leichter, ihre eigene Reproduktion zu organisieren.

Dabei läge eine riesige Chance darin, Anti-Privatisierungskämpfe auf das gesamte Feld der Sorge auszuweiten und dies als strategischen Ansatzpunkt verbindender Klassenpolitiken zu entwickeln. Die Kämpfe in der professionellen Care-Arbeit – vor allem in der Pflege – konnten in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielen. Warum nicht hier gemeinsam nächste Schritte gehen? Feministische und antirassistische Anliegen sowie Kämpfe um gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit können sich dabei gegenseitig verstärken – und zwar mit einer klaren Transformationsperspektive: Ein Infrastruktursozialismus (vgl. IfG 2020), der nicht nur professionelle, sondern auch private Sorge in gesellschaftliche Verantwortung nimmt, entzieht dem profitgetriebenen und patriarchalen System die Grundlage. Er stellt ihm die Orientierung auf ein gutes Leben entgegen.

Eigentumsordnung stürzen – Geschlechterverhältnisse aufheben

Eine solche Sozialisierung des Care-Bereichs wirkt in einem doppelten Sinne: Vergesellschaftung zielt darauf, wichtige gesellschaftliche Sektoren gemeinwirtschaftlich zu organisieren und die herrschaftliche Eigentumsordnung als ein zentrales Moment von Klassenverhältnissen umzuwälzen. Im Fall der Sorgearbeit bedeutet das, nicht nur das Privateigentum an Krankenhäusern etc. und die marktförmige Organisation von Altenpflege, Kinderbetreuung oder haushaltsnahen Dienstleistungen aufzuheben, sondern auch und insbesondere, Care-Arbeit aus der privaten Regulierung innerhalb der Familien und der Haushalte sowie aus der damit historisch eng verschränkten geschlechtlichen Zuweisung zu befreien.

Eine Vergesellschaftung von Sorge zielt also auch darauf, eine geschlechtliche Arbeitsteilung hinter sich zu lassen, die überhaupt erst die binäre Anordnung von Geschlecht nach sich zieht und damit eine wesentliche Grundlage hierarchischer Geschlechterverhältnisse bildet. Der Sorgebereich muss also auch in diesem Sinne umfassend in gesellschaftliche Verantwortung genommen werden: Care-Tätigkeiten können nicht länger Frauen (unentloht und im Privaten) überantwortet werden, da ihnen das häufig (ökonomische) Selbstständigkeit und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten nimmt. Was ansteht, ist in Anlehnung an Janine Brodie also eine «doppelte Ent-Privatisierung».

Care in gesellschaftlicher Verantwortung

Aber was genau würde es heißen, Sorge in gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen und sie damit demokratisch zu reorganisieren? Zunächst muss es darum gehen, neue öffentliche Infrastrukturen auf- und auszubauen. Wir brauchen mehr Kitas, Stadttteil-, Familien- und Gesundheitszentren, Pflegestützpunkte, Großküchen, Jugend- und Obdachlosentreffs etc. Diese sind so einzurichten, dass sie ganz unterschiedliche und sich über den Lebenslauf verändernde Bedürfnislagen berücksichtigen. Eine One-Fits-All-Sozialpolitik war gestern. Wir brauchen Arrangements, die auch auf besondere Bedürfnisse und lokale Bedingungen eingehen und die einen Zugang für bislang häufig vergessene Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Das betrifft etwa Mehr-Eltern-Familien oder Care-Communities sowie eine umfassende Krankenversorgung für Menschen ohne Papiere oder für Transpersonen. Entsprechend ist es zentral, auch Selbstorganisierung und kollektive Lösungen praktisch zu unterstützen, ohne sie – wie aktuell durch die Förderung vom «Ehrenamt» von staatlicher Seite geschehen – als Lückenfüller für mangelhafte öffentliche Angebote zu instrumentalisieren (Haubner 2017).

Die Vergesellschaftung von Sorge bedeutet also längst nicht nur einen Eigentumswechsel von privat zu öffentlich, nicht «Verstaatlichung» allein (vgl. Candeias u.a. in diesem Heft). Vielmehr geht es um die gesellschaftliche Verfügung der Vielen über die Bedingungen sozialer Reproduktion. Das setzt voraus, dass der tatsächliche gesellschaftliche Bedarf ermittelt wird – zum Beispiel in Form einer demokratischen Planung unter Beteilung aller, die davon betroffen sind. Geeignete Beratungs- und Entscheidungsstrukturen etwa in Form lokaler Care-Räte, in denen diejenigen sitzen, die mitentscheiden sollen, müssten erst entwickelt werden (vgl. Buckmiller in diesem Heft). All das kann schließlich nur gelingen, wenn es auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung insgesamt gibt. Nur durch eine radikale Verkürzung der Lohnarbeit kann Sorgearbeit geleistet werden, ohne Erschöpfung zu produzieren.

«Sorgende Stadt» – Warum nicht?

Gute Sorgestrukturen müssen vor Ort verfügbar sein. Auch wenn sie kollektiv oder gemeinwirtschaftlich organisiert werden, sollen sie im sozialen Nahraum bleiben. Für all jene, die sich gegen Privatisierungen auf lokaler Ebene einsetzen, kann die «Sorgende Stadt» eine Vision, ein produktives Leitbild sein, das verschiedene Ansätze, Ansprüche und Akteur*innen bündelt. Es ist zu klären: Wie können kommunale und freigemeinnützige Träger, Beschäftigte, Nachbar*innen und lokale Politik zusammenarbeiten und wohnortnahe Sorgestrukturen entwickeln? Wie können die vorhandenen Infrastrukturen demokratisch umgebaut und unter kollektive Kontrolle gebracht werden? Wie muss eine Stadt konkret aussehen, die sich an den Bedürfnissen aller ihrer Bewohner*innen ausrichtet? Wie können wir vor Ort ansetzen, um die Logik der Privatisierung zu brechen und Einstiege in ein feministisches und sozialistisches Transformationsprojekt zu finden?

Vorkämpfer*innen aus der ganzen Welt

Die gute Nachricht ist: Es gibt bereits Ansätze und Erfahrungen, von denen sich lernen lässt und die für hiesige Projekte fruchtbar gemacht werden können. Die interessantesten Beispiele stammen aus den munizipalistischen Bewegungen im Spanischen Staat.

Barcelona

Die linke Stadtregierung von Barcelona en Comú legte 2017 als eine wesentliche Säule ihres «rebellischen Regierens» ein «Maßnahmenpaket für eine Demokratisierung der Sorge in der Stadt Barcelona» vor.[2] Es stützt sich auf Erkenntnisse eines marxistischen Feminismus, der auch die ökonomische Bedeutung von Care-Arbeit für Volkswirtschaften betont. Entsprechend zielt das Maßnahmenpaket darauf, Sorgearbeit ins Zentrum einer kommunalen Wirtschaftspolitik zu stellen, statt sie entweder als Privatangelegenheit oder lediglich als Aspekt einer paternalistischen und tendenziell passivierenden Sozialpolitik zu behandeln. Wirtschaftspolische Maßnahmen sollten entsprechend über Fragen der Unternehmens- und Arbeitsmarktpolitik hinausgehen, auf den gesamten (auch unentlohnten) Care-Sektor ausgeweitet werden und Ansätze einer solidarischen Ökonomie, der Selbstorganisierung und von Genossenschaften privilegieren. So, die Überlegung, lasse sich auch einer zunehmenden Feminisierung von Armut entgegentreten.

Um einen echten Paradigmenwechsel auch mit Blick auf das Verwaltungshandeln zu ermöglichen, siedelte Bürgermeisterin Ada Colau die Ausarbeitung des Maßnahmenpakets strategisch nicht im Bereich Feminismus an, sondern übertrug sie dem Dezernat für Gemein-, Sozial- und Solidarwirtschaft», der eng mit dem Bereich «Arbeit- und Wirschaftspolitik» kooperierte. Unter Beteilung aller anderen betroffenen Ressorts sollte ein «Präzedenzfall für eine öffentliche Sorgepolitik» (Ezquerra/Keller 2022, 4) geschaffen werden, die alle Care-Bereiche einschließt und vorsieht, sie auf die verschiedenen Akteure – also Staat, Markt, Privathaushalte und gemeinwirtschaftliche Strukturen – neu zu verteilen. Im Kern ging es darum, konkrete Verbesserungen im Alltag mit dem Fernziel einer geschlechtergerechten Sorge-Ökonomie zu verbinden.

Die meisten Projekte des 68 Einzelmaßnahmen umfassenden Plans betrafen eine «Sozialisierung der Sorgearbeit» (ebd., 16) und waren darauf gerichtet, neue öffentliche Infrastrukturen wie Familienzentren und Krippen zu schaffen, bestehende auszubauen und den Zugang für vulnerable Gruppen zu erweitern. Eine neu eingeführte «Care-Karte» (tarjeta cuidadora) entlastete Menschen mit besonderer häuslicher Sorgeverantwortung durch einen privilegierten Zugang zu städtischen Sorge-Infrastrukturen und sozialen Diensten. Ein weiteres Maßnahmenbündel zielte darauf, gemeinwirtschaftliche Projekte sowie Initiativen der Selbstorganisierung logistisch und finanziell zu unterstützen, etwa Mehrgenerationenhäuser. Schließlich sollte über veränderte Vergaberichtlinien auch auf private Träger insbesondere in der Altenpflege eingewirkt werden, um die dortige Qualität der Pflege und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Schließlich wurde – um diesen Umbau konkret anzuleiten und entsprechend durch Öffentlichkeitsarbeit zu begleiten – in jedem Stadt-Bezirk eine Stelle für eine*n Fachreferent*in für Care-Ökonomie geschaffen.

Als Manko wird jedoch betrachtet, dass keine der Maßnahmen explizit eine Rekommunalisierung der derzeit profiwirtschaftlich organisierten Unternehmen insbesondere in der Altenpflege vorsah.

Madrid

Ähnliche Ansätze verfolgten auch andere munizipalistische Stadtregierungen im Spanischen Staat. So verabschiedete in Madrid die von dem Parteienbündnis Ahora Madrid angeführte Linksregierung in ihrer Amtszeit (2015 bis 2019) einen ähnlichen Aktionsplan mit dem Titel «Stadt der Sorge» (Ciudad del Cuidado 2015).[3] Mit dem Ziel, Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, setzte er ebenfalls darauf, die gesellschaftliche und kommunale Verantwortung für Sorgearbeit zu stärken. Neben einer Umverteilung von Sorgearbeit und einer Verbesserung der Angebote fokussierte der Plan insbesondere auf Fragen demokratischer Teilhabe und in diesem Sinne auch auf die Unterstützung lokaler Selbstorganisierung. Bereits bestehende soziale Praxen und Initiativen geteilter Sorgearbeit erhielten praktische Hilfe, um ihre Arbeit weiterzuentwickeln. Beispielhaft steht dafür ein Modellprojekt gegen «nicht-selbstgewählte Einsamkeit». Um die soziale Isolation von Menschen zu überwinden, wurden gezielt nachbarschaftliche Beziehungen und soziale Netzwerke im Stadtteil gefördert. Damit sollte außerdem das gesamte soziale Gefüge gestärkt werden, ausgehend von der Annahme, dass (basis)demokratische Entscheidungsprozesse und eine partizipative Bedarfsplanung als Momente einer «Sorgenden Stadt» ohne ein solches nicht funktionieren können.

Der Madrider Aktionsplan umfasste außerdem verschiedene Projekte und Initiativen einer feministischen Stadtplanung. Eine geschlechter- und sorgesensible Gestaltung der Stadt transformiert auch die Nutzung des öffentlichen Raums, was wiederum Veränderungen im Alltag der Menschen und in ihren sozialen Beziehungen ermöglicht: Eltern lernen sich etwa auf dem Spielplatz kennen. Wenn dieser nicht in einem abgegrenzten Eck versteckt ist, sondern integraler Teil eines Stadtplatzes oder Parks, in dem es auch Angebote für andere Generationen und Interessengruppen gibt, kommen die Eltern auch mit Nachbar*innen und älteren Menschen in Kontakt. Breite und ausgeleuchtete Wege mit einsehbarer Begrünung geben insbesondere Frauen und queeren Menschen ein besseres Sicherheitsgefühl. So können sie sich freier bewegen und den öffentlichen Raum für sich nutzen. Eine feministische Stadt- und Verkehrsplanung (vgl. Alljets 2019) kann nicht nur die Lebensqualität von marginalisierten oder vulnerablen Gruppen verbessern, sondern auch andere soziale Beziehungen möglich machen. Sie kann eine Basis sowohl für geteilte Sorgearbeit jenseits öffentlicher Infrastruktur als auch für direktdemokratische Mitbestimmung und Planung bilden.

Lateinamerika

Auch in Lateinamerika finden im Anschluss an die erstarkenden feministischen Mobilisierungen verstärkt Debatten um Sorgeverhältnisse und die Bedingungen sozialer Reproduktion statt – zuletzt auch unter dem Begriff «Sorgende Städte». Sie schlagen sich teils in kommunalen, teils in bundesstaatlichen Politiken nieder. So haben sich Initiativen mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegründet, die auf eine Wiederaneignung der zum Leben notwendigen sozialen Infrastrukturen zielen: In Valparaíso wie auch in anderen Städten Chiles konnten durch die Selbstorganisierung von Nachbar*innen in Zusammenarbeit mit der linken Stadtverwaltung Apotheken eingerichtet werden, in denen wichtige Medikamente weit unterhalb des Marktwerts angeboten werden. In einem ähnlichen Zusammenspiel von Initiativen von unten und linker Politik wird im argentinischen Rosario derzeit eine ehemals informelle und von Räumung bedrohte Siedlung zu einem voll angebundenen Stadtteil mit Wasseranschluss, Kanalisation und Internet sowie sozialer Infrastruktur (wie Schulen, Parks und Sportplatz) ausgebaut. Finanziert wird dies aus Mitteln des Bundes, die aus einer einmaligen Abgabe auf große Vermögen stammen, die die neue Mitte-links-Regierung erhoben hat. Entworfen, geplant und begleitet wird das Projekt jedoch von den Bewohner*innen in Kooperation mit der dezidiert feministischen Bewegungspartei Ciudad Futura (Stadt der Zukunft), die im Stadt- und Landesparlament vertreten ist.

An vielen Orten geht es um ein Zusammenspiel von Selbstermächtigung, Organisierung, Mitbestimmung, Infrastrukturen und staatlichen Programmen, die die Inititaiven unterstützen und finanzieren. Es geht darum, Ressourcen umzuverteilen, statt Selbstverwaltung, wie so oft, lediglich mit dem Ziel zu initiieren, staatliches Versagen oder Lücken über kostengünstige Alternativen zu kompensieren. So können auch andere Ebenen staatlicher Politik miteinbezogen werden, sei es bei Initiativen zur Verkürzung von Erwerbsarbeitszeit oder bei Transfer- oder Rentenleistungen, die auf unterschiedliche Art die Möglichkeiten für Sorgetätigkeiten beeinflussen.

In Ländern wie Uruguay oder Argentinien wurde und wird daher von den Mitte-links-Regierungen auch auf Bundesebene an «integrierten Sorgestrukturen» (Sistemas integrales de Cuidados) gearbeitet. Bestehende Angebote werden ausgebaut und besser verzahnt. Indem unbezahlte Sorgearbeit mitberücksichtigt wird, können die Angebote einerseits passgenauer gestaltet und andererseits Defizite ausgeglichen werden. In Uruguay wurden in diesem Zusammenhang etwa eine Zeitverwendungsstudie in Auftrag gegeben, die häusliche Care-Arbeit einschließt, eine Kampagne zur geschlechtlichen Arbeitsteilung initiiert und die unbezahlte Sorgearbeit in ein erweitertes Bruttoinlandprodukt eingerechnet, um zunächst öffentliche Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, wie wichtig Sorgearbeit für die Gesellschaft und wie sehr diese als «Frauenarbeit» abgewertet ist. In beiden Ländern sind staatliche Pläne in enger Kooperation mit lokalen Akteuren entstanden und mit entsprechenden Bedarfsermittlungen verbunden.

Ist das Gras woanders grüner?

Erste Erfahrungen mit kollektiver Mitbestimmung im Bereich der Daseinsvorsorge gibt es auch in Deutschland. Ansätze für Care-Räte stecken zwar noch in den Kinderschuhen, entwickeln aber – wie beispielsweise in Freiburg– ausbaufähige Ideen, wie sich Organisierungsansätze und demokratische Bedarfsplanung verbinden lassen. Im Unterschied dazu haben zivilgesellschaftliche Ernährungs- und Klimaräte in einigen Städten und Gemeinden bereits eine institutionalisierte Kooperation mit Politik und Verwaltung in Form eines Beirats erreicht. Eine wichtige Orientierung für die Demokratisierung von Sorgestrukturen bietet das IniForum in Berlin – ein unabhängiger Zusammenschluss von mietenpolitischen Initiativen, der von der Senatsverwaltung finanziell gefördert wurde.[4] Ziel war, unabhängige Strukturen aufzubauen, die dennoch institutionalisierten Einfluss auf parlamentarische Politik nehmen können, etwa im Rahmen von regelmäßigen Hearings.

Alle diese Strukturen verfügen jedoch nicht über verbriefte Entscheidungskompetenzen. Wie der erfolgreiche, aber immer noch folgenlose Berliner Volksentscheid «Deutsche Wohnen und Co. enteignen» erst jüngst in Erinnerung gerufen hat, muss die Verbindlichkeit direktdemokratischer Elemente deutlich gestärkt werden.

Aktionsplan

Politisch trifft das Projekt einer «Sorgenden Stadt» in Deutschland also nicht auf unbeackertes Terrain. Seit einigen Jahren mehren sich Proteste und Selbstorganisierungen rund um das Care-Thema: von gewerkschaftlichen Streiks in der Pflege oder Sozial- und Erziehungsdiensten über Aktionsbündnisse für bessere Bedingungen in der Altenpflege bis zu Medi-Büros, die Illegalisierten Zugang zu medizinischer Versorgung verschaffen, von Stadtteil-Gesundheitszentren (Polikliniken), die auch die sozialen Faktoren von Gesundheit miteinbeziehen, bis hin zum feministischen Streik, der auch Privathaushalte umfasst. Zahlreiche von ihnen hatten sich bereits 2014 zur Aktionskonferenz Care Revolution zusammengefunden und ein Netzwerk gegründet, in dem lokale Aktionen zusammenfließen und überregionale Kampagnen angestoßen werden.

Viele dieser konkreten Ansätze und Ideen zu einer Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge könnten auch hierzulande jeweils lokal in einem Aktionsplan «Sorgende Stadt» gebündelt werden: ein Maßnahmenpaket, das kurz- wie langfristig umzusetzende Projekte umfasst, und solche, die gesellschaftsverändernden Charakter haben. Dazu gehören als «Einstiegsprojekte» etwa die Forderung nach einer Rekommunalisierung privater Dienstleister in der Altenpflege oder nach einer kurzen Vollzeit mit Sechs-Stunden-Arbeitstagen in der Pflege als Ausgangspunkt einer tariflichen Arbeitszeitverkürzung. Dazu gehören der Ausbau von Gesundheits- und Nachbarschaftszentren mit Unterstützungsangeboten etwa für ältere Menschen oder Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche ebenso wie Räume für geteilte Sorgearbeit in Elterngruppen oder Gemeinschaftsküchen. Dazu gehören Maßnahmen, die eine Stadt für alle zugänglich machen, wie etwa ein kostenfreier öffentlicher Personennahverkehr oder ein Krankenschein, der auch Menschen ohne Papiere einen Zugang zur Krankenversicherung ermöglicht. Es geht aber auch um eine Stadt, in der sich alle wohlfühlen, mit Grünflächen und breiten Wegen, mit Beleuchtungen in der Nacht und weiteren Maßnahmen gegen sexualisierte Belästigung im öffentlichen Raum und dem Verbot anlassloser Polizeikontrollen. Und dazu gehört der Anspruch, die öffentliche Verwaltung so umzubauen, dass Geschlechtergerechtigkeit und die Gewährleistung guter Sorgeverhältnisse zu zentralen Kriterien ihres Handelns werden und kontinuierlich überprüft wird, ob öffentliche Angebote tatsächlich auch für alle zugänglich sind.

Welche Ideen für die jeweilige «Sorgende Stadt» im Vordergrund stehen, muss vor Ort diskutiert und entschieden werden. Mag dies zu Beginn gänzlich selbstorganisiert passieren, zeigt die Erfahrung, dass mittelfristig eine institutionelle und finanzielle Absicherung notwendig ist. Sie ermöglicht, einen gemeinsamen Wirkungsraum für unterschiedliche Interessens- und Anspruchsgruppen der Sorgearbeit zu schaffen – für Care-Beschäftigte, privat Sorgende und Care-Empfänger*innen. Hier liegt eine Aufgabe, aber auch Chance für die LINKE in Stadt- und Landesparlamenten, insbesondere dort, wo sie Teil der Regierung ist. Sie könnte nicht nur Infrastrukturen und materielle Ressourcen bereitstellen, sondern für die Durchsetzung der Forderungen streiten und Projekte mit transformatorischer Strahlkraft entwickeln, die überregional sichtbare Akzente in Regierungsbeteiligungen setzen, wie etwa der Mietendeckel in Berlin.

Perspektivisch müsste es um die Gründung eines Care-Rates gehen, der die gemeinsame Ermittlung von Bedarfen und das Aushandeln von Interessen dauerhaft absichert. Er müsste organisierten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, also auch eine demokratische Vermittlung zwischen Bewegungen und Parlamenten herstellen.

Der Sozialismus ist feministisch, oder ...

Bewegungen für eine «Sorgende Stadt» könnten also nicht nur verschiedene Initiativen aus dem Care-Bereich sowie aus stadtpolitischen und antirassistischen Zusammenhängen verbinden. Mit ihnen könnte auch eine feministische und intersektionale Perspektive in die aktuellen Vergesellschaftungsdebatten und Anti-Privatisierungskämpfe einziehen. Für eine perspektivische Vergesellschaftung von Sorgeverhältnissen wäre dies ein erster Ansatzpunkt. So könnte ein wichtiges Transformationsprojekt eines klassenpolitischen Feminismus praktische Gestalt annehmen, für das sich breite Mehrheiten organisieren lassen.


[1] Gemäß der letzten Zeitverwendungsstudie der Bundesregierung von 2012/13 sind das bei Frauen in Deutschland rund 30 Stunden und bei Männern 20 Stunden pro Woche.

[2] Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat eine evaluiernde Studie zu diesem Projekt in Auftrag gegeben, die im März 2022 erscheinen wird (Ezquerra/Keller 2022).

[3] Auch zu diesem Projekt, wie zu vergleichbaren Initiativen in Saragossa, wurden evaluierende Studien erstellt: Salobral 2022 sowie Jiménez/Moreno 2022 im Erscheinen.

[4] Leider ist derzeit unklar, ob das IniForum unter der neuen Berliner Landesregierung unter der Führung von Franziska Giffey weitergeführt werden kann.

Literatur

  • Alljets, Jana, 2019: Raum nehmen! Warum wir eine feministische Verkehrsplanung brauchen, in: LuXemburg 1/2020.
  • Ezquerra, Sandra/Keller, Christel, 2022: Die Regierungsstrategie zur Demokratisierung der Sorgearbeit der Stadtverwaltung von Barcelona: Erfahrungen mit einer feministisch inspirierten lokalen Care-Politik (im Erscheinen)
  • Haubner, Tine, 2017: Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft, Frankfurt/New York
  • Jiménez, Sofía/Moreno, Esther, 2022: Das Projekt «Saragossa als Sorgende Stadt». Eine umfassende feministische Vision (im Erscheinen)
  • Salobral, Nieves, 2022: Madrid als Sorgende Stadt. Eine feministische Bilanz, (im Erscheinen)
  • Statistisches Bundesamt, 2015: Wie die Zeit vergeht. Ergebnisse zur Zeitverwendung in Deutschland 2012/2013, Wiesbaden
  • Winker, Gabriele, 2015: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld