Nachricht | Patel: Europäische Integration, München 2022

Europa, kurz - und nüchtern - betrachtet

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Autor

Florian Weis,

Der an der LMU München lehrende deutsch-britische Historiker Kiran Klaus Patel eröffnet seine Darstellung der europäischen Integration in der auf knappe Formate ausgerichteten Reihe C.H. Beck Wissenmit einem Schnelldurchlauf «2500 Jahre und fünf Minuten», wobei sich die fünf Minuten auf Robert Schumans berühmte Rede aus dem Mai 1950 beziehen. Patels knappe Schilderung baut auf seinem weit umfangreicheren und sehr lesenswerten Buch «Projekt Europa. Eine kritische Geschichte» aus dem Jahre 2018 auf.

Im Unterschied zu jenem Buch, das sich hauptsächlich auf die Entwicklung bis hin zum Vertrag von Maastricht 1992 bezieht, widmet die vorliegende Arbeit den folgenden drei Jahrzehnten nach 1992 in den beiden Kapiteln «Das Freiheitsprojekt: 1992-2009» und «Das Sicherungsprojekt: Kurskorrektur seit 2009» mehr Raum. In beiden Büchern deutet Patel die Geschichte der europäischen Integration als eine von «Versuch und Irrtum», von Umwegen und Widersprüchen. Gerade das Fehlen eines Masterplans und die Existenz vieler konkurrierender europäischer Einrichtungen (EWG, Montanunion und Euratom, aus denen die EG hervorging, aber auch vielen Organisationen jenseits und quer zu diesen) habe es, scheinbar paradoxer Weise, erlaubt, manche Krise durch verschlungene Umwege zu überwinden. Aus einem «Markt mit Anhang» vertiefte sich die EG nach Patel in den Jahren 1969-1992 in einer «unbemerkten Transformation». Je umfassender die EU sich dann aber weiterentwickelte, desto krisenhafter und konfliktreicher wurde sie auch, was, wiederum auf den ersten Blick paradox wirkend, sowohl mit dem größeren Anspruch auf Stringenz als auch mit der stärkeren und vor allem kritischen politischen Wahrnehmung der Bevölkerungen zu tun hatte. Patel wirft dabei einen kritischen Blick auf die lange Zeit starke wirtschaftsliberale Ausrichtung der EU. Die EU seit heute einerseits so relevant wie nie zuvor und zugleich und zum Teil deshalb anfälliger für durchaus auch fundamentale Krisen.

Patel ordnet, eine weitere Stärke seiner Darstellungen, die frühe Geschichte der EWG auch in den Prozess der Kolonialgeschichte und Dekolonialisierung ein. Zugespitzt spricht er in diesem Zusammenhang von zwei frühen Austritten aus der EU lange vor dem Brexit und nennt Algerien 1962 sowie Grönland 1985 als Beispiele.

Patel relativiert allzu idealistische und überhöhte Vorstellungen der europäischen Einigung, ohne jedoch einer Europagegnerschaft das Wort zu reden. Vielmehr geht es ihm um einen nüchternen Blick auf widersprüchliche Entwicklungen.

Kiran Klaus Patel: Europäische Integration. Geschichte und Gegenwart. C.H. Beck Verlag, München 2022. 128 Seiten, 9,95 €

Eine Kurzfassung dieser Rezension erschien in analyse und kritik,Nr. 683.