Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa - Zentralasien Die Doppelmoral des Westens und die Schwäche Moskaus

Axel Gehring über den Angriff Aserbaidschans auf Armenien

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Axel Gehring,

Armenier*nnen protestieren in Berlin gegen die aktuellen Militärschläge durch Aserbaidschan.
«Mit dem Kauf von aserbaidschanischem Erdgas unterstützt die deutsche Bundesregierung den Krieg gegen Armenien.» 17.9.2022: Armenier*nnen protestieren in Berlin gegen die aktuellen Militärschläge durch Aserbaidschan, IMAGO / snapshot

Am 13. September haben reguläre aserbaidschanische Truppen in großem Umfang auf armenischem Staatsgebiet angegriffen. Dieser Angriff markiert eine neue Qualität, denn der Konflikt zwischen den beiden Ländern war zuvor – wie zuletzt im Herbst 2020 – nicht auf armenischem Gebiet, sondern stets auf dem Boden des Territoriums Berg-Karabach ausgetragen worden. Berg-Karabach wiederum gehört nach der vorherrschenden Auffassung – die von Russland ebenso wie von der Türkei und den westlichen Staaten geteilt wird – nicht zu Armenien, sondern zu Aserbaidschan. Selbst Armenien betrachtet die Region nicht als Teil seines Staatsgebietes (und hat auch die Republik Arzach, wie sich Berg-Karabach seit 2017 offiziell nennt, nicht anerkannt), stellt aber die aserbaidschanischen Herrschaftsansprüche über das Gebiet infrage.

Dr. Axel Gehring ist Politikwissenschaftler und Experte für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik. Er ist Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Das mehrheitlich armenisch besiedelte Berg-Karabach bildete bis zum Ende der Sowjetunion eine «autonome Oblast» in der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Gegen Ende der Sowjetära kam es dort 1988 zu aserbaidschanischen Pogromen gegen die armenische Bevölkerung. Nach der Auflösung der Sowjetunion opponierte die Bevölkerung Berg-Karabachs deshalb gegen einen Verbleib der Region im neu gegründeten Staat Aserbaidschan und erklärte ihre Unabhängigkeit. Auf die – von weiteren Pogromen begleitete – Aufhebung der lokalen Autonomie reagierten armenische Freischärler schließlich mit einer Gegenoffensive, in deren Verlauf es auch zu Massakern an der aserbaidschanischen Bevölkerung kam.

Die aserbaidschanische Niederlage in diesem Konflikt führte dazu, dass armenische Freischärler auch aserbaidschanische Gebiete nahe Berg-Karabach besetzen und auf diese Weise eine direkte Landbrücke zu Armenien herstellen konnten. Allerdings darf man in diesem Kontext nicht vergessen, dass auch Aserbaidschan ein Drittel des Territoriums Berg-Karabachs unter seine Kontrolle zu bringen vermochte.

Verschiedene Versuche, eine dauerhafte Friedensregelung zu finden, scheiterten in den Folgejahren und wurden schließlich von Baku auch nicht mehr ernsthaft verfolgt. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Aserbaidschans militärische Niederlage in den frühen 1990er Jahren resultierte wesentlich aus dem Überraschungsmoment der Konfrontation mit einer durchsetzungswilligen Autonomiebewegung in Berg-Karabach und nicht aus den realen Kräfteverhältnissen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Denn in Aserbaidschan leben mit rund zehn Millionen mehr als drei Mal so viele Menschen wie in Armenien. Darüber hinaus verfügt es als bedeutender Rohstoffexporteur über weit höhere Staatseinnahmen.

Nach der Niederlage rüstete Aserbaidschan sein Militär konsequent auf. Das Ziel der in Baku Herrschenden war die Revision der Folgen des verlorenen Krieges, also die (Wieder-)Erlangung der Kontrolle über das armenisch besiedelte Berg-Karabach.

Aserbaidschans Revanche

Der Zeitpunkt der Revanche kam im Herbst 2020. Unterstützt von der Türkei und von dschihadistischen Söldnern konnten die weit überlegenen Streitkräfte vormals aserbaidschanische Gebiete wieder unter ihre Kontrolle bringen. Berg-Karabach wurde – bis auf dünne Verkehrsverbindungen, deren Status umstritten blieb – geografisch von Armenien isoliert; es verlor zudem ein weiteres Drittel seines Territoriums an Aserbaidschan. Das erklärte Ziel, die vollständige Kontrolle über Berg-Karabach zu erlangen, wurde indes nicht erreicht; unter dem Schutz russischer Truppen blieb die armenische Selbstverwaltung in einem Drittel der Region bestehen.

Mit dem Vormarsch aserbaidschanischer Truppen aber war der Konflikt zwischen den beiden Staaten keineswegs beendet. Gestritten wurde weiterhin über armenische Transportwege nach Berg-Karabach und über die Ausbeutung von Rohstoffen in der Grenzregion. Direkte Folge dieser Streitigkeiten waren anhaltende Grenzkonflikte, die Baku die Möglichkeit gaben, sein überlegenes militärisches Potenzial nun direkt gegen armenisches Territorium in Stellung zu bringen und damit in der Republik Armenien das Gefühl einer existenziellen Bedrohung zu erzeugen.

Auffällig ist, dass Baku sich bei seinem direkten Angriff auf armenisches Territorium nicht weiter um eine Begründung völkerrechtlicher Legitimität bemühte. Das Regime in Baku scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Pflichtschuldige Behauptungen, man reagiere lediglich auf armenische Sabotage, dürften kaum verfangen; schließlich kann Armenien sich einen neuerlichen Krieg kaum erlauben, da es weder militärisch noch diplomatisch über Optionen verfügt, sich gegenüber Aserbaidschan durchzusetzen.

Im Windschatten des Ukrainekriegs

Die Bedingungen für einen erneuten Angriff Aserbaidschans scheinen daher weiterhin günstig. Bereits im Jahr 2020 hatte es über Wochen seine Herbstoffensive durchführen können, ehe diplomatischer Druck aus Moskau diese zum Stehen brachte. Armenien ist weiterhin geschwächt und kann den Angriffen militärisch kaum etwas entgegensetzen. Zwar kann die armenische Regierung die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – das kollektive Verteidigungsbündnis der Staaten Russland, Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan – zu Hilfe rufen. Russland als die faktische OVKS-Führungsmacht hat jedoch bereits angekündigt, den Konflikt nicht als kollektiven Verteidigungsfall zu betrachten. Die OVKS entsendet lediglich eine Beobachtungsgruppe. Der Hintergrund liegt auf der Hand: Russland ist militärisch in der Ukraine gebunden – was Aserbaidschan offenkundig nicht entgangen ist.

Hinzu kommt, dass Aserbaidschan seinen Status als wichtiger Gaslieferant der Europäischen Union im Gefolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ausbauen konnte. Erst Ende August besuchte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Baku und bedankte sich bei Präsident Ilham Alijew «für die Unterstützung der Europäischen Union». Denn aufgrund der Sanktionen gegen Russland kann die EU sich einen Verzicht auf aserbaidschanisches Gas derzeit kaum erlauben. Darüber hinaus steht die Türkei als traditioneller Verbündeter Bakus den aserbaidschanischen Kriegszielen wohlwollend gegenüber. Man erkennt unschwer, dass die politischen Risiken eines weiteren Angriffs für Aserbaidschan gegenwärtig übersichtlich sind.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der armenische Ministerpräsident, Nikol Paschinjan, inzwischen umfassende Zugeständnisse ankündigte. Demnach ist man in Eriwan bereit, die aserbaidschanische Souveränität über Berg-Karabach zu akzeptieren. Vor dem Parlament erklärte Paschinjan, auf diese Weise die Souveränität der Republik Armenien sichern zu wollen.

Dieses noch nicht kodifizierte Zugeständnis der armenischen Regierung war für die derzeitige Entspannung der Lage wohl von größerer Bedeutung als die Forderung des UN-Sicherheitsrats nach einem Waffenstillstand. Aserbaidschan hatte sich ohnehin nur zu einer «humanitären Feuerpause» zur Bergung von Leichen bereit erklärt. Doch auch wenn die Folgen im Einzelnen noch nicht absehbar sind, geht die armenische Bevölkerung in Berg-Karabach schweren Zeiten entgegen. Fest steht außerdem, dass die armenische Niederlage die demokratische Entwicklung des Landes mit einer schweren Hypothek belastet und die Regierung wegen der angekündigten Zugeständnisse um ihr politische Überleben kämpfen muss.

Auffällig ist das Verhalten der westlichen Staaten: Denn während sie den russischen Überfall auf die Ukraine als Konflikt zwischen Autoritarismus und Demokratie interpretieren, verzichten sie mit Blick auf den aserbaidschanischen Überfall auf Armenien auf eine derartige Deutung. Dieses Ausweichen markiert eine Konzession gegenüber dem Regime in Baku, zu der man sich aufgrund der eigenen (Energie-)Interessen veranlasst sieht – ein klassischer Fall von Doppelmoral.

Russland sieht sich derweil gezwungen, die neuen Verhältnisse notgedrungen zu akzeptieren. Denn da der Großteil des eigenen Militärs in der Ukraine gebunden und Moskau auch politisch geschwächt ist, kann es seine eigenen Interessen an einem Ausgleich zwischen den beiden Kaukasus-Staaten kaum mehr effektiv verfolgen. Es darf nun zusehen, wie Aserbaidschan durch die Gasverträge mit der EU und das enge Bündnis mit dem NATO-Staat Türkei ökonomisch und geopolitisch ein Stück näher Richtung Westen – und damit weiter weg von Moskau – rückt.