Nachricht | Digitaler Wandel - China Plattform-Kapitalismus im Dienst der Gesellschaft?

Die neue Form kapitalistischer Ausbeutung hat sich auch in China längst etabliert

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Timo Daum,

Design der chinesischen Fahrdienste-App DiDi
Eine Überarbeitung des Designs der chinesischen Fahrdienste-App DiDi ist Teil der Vorbereitung für die weitere Expansion in sechs neue Märkte, darunter Australien, Brasilien, Mexiko, Japan, Hongkong und Taiwan. Screenshot der Website metadesign.com/de/work/didi-chuxing

In China haben sich mächtige digitale Unternehmen mit technologisch führenden Anwendungen entwickelt. Gleichzeitig hat der Staat für die dafür notwendigen Infrastrukturen gesorgt (siehe Text 3). Und die gesellschaftliche Akzeptanz für deren Dienste und Anwendungen ist in kaum einem Land so groß wie in China. Ideale Voraussetzungen für die Entwicklung eines Plattformkapitalismus mit chinesischen Charakteristika.

Die Plattform ist ein relativ junges Phänomen, vor zwanzig Jahren war von Google, Facebook oder den chinesischen Pendants noch gar nicht die Rede. Heute jedoch hat sich diese Innovation aus dem Silicon Valley in vielen Branchen etabliert. Die Plattform hat sich als neue Form kapitalistischer Ausbeutungs-Organisation, als «sektorales Akkumulationsmodell», so der Soziologe Boy Lüthje, etabliert. Die Plattform ist in einigen Branchen ins Zentrum der Wertschöpfung bzw. Kapitalakkumulation getreten, so auch im Mobilitätsbereich – mit Uber als berühmt-berüchtigtem Beispiel.

Timo Daum ist Physiker, Hochschullehrer und Sachbuchautor, sein Arbeitsschwerpunkt ist der digitale Kapitalismus.

In China gibt es zurzeit 112 Städte mit mehr als einer Million Einwohner*innen, Tendenz steigend. Ihnen ist gemeinsam, dass sie schnell wachsen und gleichzeitig der Motorisierungsgrad steigt, mit der Folge erheblicher Verkehrs- und Umweltprobleme. Dafür ist die Akzeptanz für neue Mobilitätsformen in der Bevölkerung vergleichsweise hoch. Viele Menschen können sich in China trotzdem auf absehbare Zeit kein Auto leisten, der Anteil der Führerscheininhaber*innen liegt in China bei 27 Prozent, in den USA bei 70 Prozent. Laut einer Studie des Weltwirtschaftsforums aus dem Jahr 2016 waren 75 Prozent der Chines*innen bereit, in ein fahrerloses Fahrzeug einzusteigen. Daher verfügt China als größter Binnenmarkt der Welt über ein hohes Marktpotenzial für die Dienste von Mobilitäts-Plattformen.

112 Millionenstädte – ein breites Spielfeld

Ähnlich wie bei batterieelektrischen Fahrzeugen spielen chinesische Startups auch beim Ride-Sharing und dem autonomen Fahren eine große Rolle. In Chinas Mobilitätssektor lässt sich das Zusammenspiel privater Innovationen, plattformkapitalistischer Geschäftsmodelle und normativer Vorgaben von staatlicher Seite beobachten. Hier treffen staatliche Ziele in Umwelt- und Entwicklungsfragen auf eine dynamische Start-Up-Landschaft, mit – allein aufgrund der Bevölkerungszahl Chinas – lukrativ erscheinenden Geschäftsmöglichkeiten. Im Mai 2020 ermutigte der chinesische Verkehrsminister Li Xiaopeng sowohl Städte und Unternehmen, Pilotprogramme mit Robo-Taxis zu starten. Yuan Yang, China-Technologiekorrespondentin der Financial Times betont den spezifischen experimentellen laissaiz-faire-Ansatz, den die chinesische Regierung an den Tag legt: «Bei kundenorientierten Technologien, die keine offensichtliche politische Implikation oder mit Inhalten zu tun haben, ist die chinesische Regierung sehr entspannt, lässt Unternehmer Innovationen ausprobieren, und schaut danach erst hin und reguliert gegebenenfalls.»

China geht dabei den bei der Entwicklung des Digitalsektors bewährten Weg: Zunächst die US-amerikanischen Originale kopieren, den Binnenmarkt so lange abschotten, bis aus den lokalen Playern mächtige Konzerne geworden sind, dann erst regulieren und gegebenenfalls  das Geschäftsmodell wiederum exportieren.

Geplantes Experimentieren in Shenzhen

Die 20-Millionen-Metopole Shenzhen gilt auch im Bereich der Mobilität als Paradebeispiel für Chinas Politik von Experiment und Plan (s. Artikel 3). Ulrike Reisach, China-Expertin und Professorin an der Hochschule Neu-Ulm bezeichnet Shenzhen als «Vorzeigestadt für zentrale Verkehrssteuerung, aber auch für E-Mobilität» (zit. nach Hirn, S. 135). In weniger als einem Jahrzehnt gelang es der Stadt, ihre durchschnittliche Luftverschmutzung um 50 Prozent zu reduzieren (Nylander, Shenzhen Superstars). Unter den 20 größten Wirtschaftsmetropolen Chinas hält Shenzhen als einzige alle nationalen Standards für Luftqualität ein.

Eine Schlüsselrolle nimmt das Shenzhen Urban Transport Planning Center (SUTPC) ein, eine mächtige, für die Verkehrsplanung zuständige Institution. Das SUTPC wurde 1996 als «nationales Hightech-Unternehmen im Bereich der städtischen Verkehrsforschung gegründet», das nach eigenen Angaben zum «Anbieter für städtische Gesamtlösungen» gereift ist. Wichtige Ressource sind dabei die in der Stadt anfallenden Daten; bei der Auswertung von GPS-Daten der Smartphones der Bevölkerung sowie der Informatisierung der Verkehrsinfrastruktur ist Shenzhen weltweit führend. Der China-Journalist Wolfgang Hirn schreibt: «Shenzhens Autopolitik ist ein Musterbeispiel für die Kooperation in dieser Stadt: Stadtverwaltung, Staats- und Privatwirtschaft arbeiten zusammen. Jedes Rädchen greift ineinander.» (S. 136)

Didi Chunxing – Grösser als Uber

Der Ride-Hailing-Betreiber Didi Chuxing gilt als das chinesische Uber. Die App erlaubt das Buchen von privaten und Taxi-Fahrten. Das Ride-Hailing-Startup mit Sitz in Peking ging im Februar 2015 aus einer Fusion zweier existierender Unternehmen hervor. Der Wettbewerb mit Uber endete 2016 mit der Übernahme des gesamten chinesischen Geschäfts von Uber durch Didi Chunxing, im Gegenzug erhielt Uber eine prozentuale Beteiligung an Didi. Didi Chuxing hat einen Wert von 56 Milliarden US-Dollar und ist auch als Lieferdienst und im Fahrrad-Sharing aktiv. Zusammen mit Autoherstellern baut das Unternehmen seine elektrische Flotte aus und experimentiert mit fahrerlosem Passagierbetrieb. Didi ist in nur wenigen Jahren zur weltweit führenden Plattform für Mobilitätstechnologie geworden.

Didi Chuxing wickelt täglich rund 25 Millionen Fahrten in chinesischen Städten ab, doppelt so viele Fahrten wie alle anderen Ride-Sharing-Firmen weltweit zusammen. Geschätzte 15 Millionen Fahrer*innen sind bei Didi unter Vertrag, die über 550 Millionen Nutzer*innen täglich befördern. Es bietet acht verschiedene Fahrttypen an, z. B. den Tarif «Discount Express», der Klimaanlage und Elektrofahrzeug garantiert, eine 6 Kilometer Fahrt kostet etwa 17 Yuan, was ca. 2,70 € entspricht. Didi hat in der chinesischen Bevölkerung «die Einstellung zur Nutzung von Taxis gegenüber Privatfahrzeugen völlig verändert» bilanzieren die Wissenschaftler Mukhopadhyay & Chatwin.

Didi Chuxing Zentrale in Beijing
Didi Chuxing Zentrale in Beijing CC BY-SA 4.0, N509FZ, via Wikimedia Commons

Rechtlose Plattformarbeit

Uber steht seit seiner Gründung im Jahr 2009 in der Kritik: Schlechte Arbeitsbedingungen der meist formal selbständigen Fahrer*innen, intransparente Vermittlungspraxis und Preisgestaltung, Fälle von Datenlecks- und Datenmissbrauchs – die Liste an Verfehlungen ist lang. Die Mobilitätsforschung findet darüber hinaus immer wieder Belege für eine Zunahme des Autoverkehrs sowie Verdrängungseffekte beim öffentlichen Verkehr als Folge der Verbreitung des Geschäftsmodells von Uber.

Bei Didi Chuxing (und anderen Plattformen in China, wie die sehr populären Lieferdienste) sieht die Sache ganz ähnlich aus. Kritik an deren marktbeherrschender Stellung, die Abhängigkeit und Isolierung der Fahrer*innen, schlechte Arbeitsbedingungen und Rechtlosigkeit sind notorisch. Es gab – ganz wie bei Uber auch – Fälle von Übergriffen auf Passagiere. Versuche der Selbstorganisation von Fahrer*innen wurden zudem unterdrückt.

In China arbeiten geschätzte 83 Millionen Menschen auf Plattformen, davon nur fünf Millionen als Angestellte. Lange Zeit war es sogar üblich, gänzlich ohne vertragliche Regelungen als quasi rechtlose Gelegenheitsarbeiter*innen ein paar Yuan zu verdienen. Im November 2020 kam es beim Lieferdienst Kuaidi in mehreren Städten zu Streiks, bei denen es um ausstehende Löhne und Lohnkürzungen aufgrund des Wettbewerbs zwischen Expresslieferunternehmen ging. Da die Arbeitnehmer*innen keine formellen Verträge mit dem Unternehmen hatten, standen ihnen nur wenige rechtliche Möglichkeiten zur Verfügung.

Als Reaktion auf die zunehmende öffentliche Kritik und eine Reihe hochkarätiger Fälle veröffentlichte das chinesische Ministerium für Humanressourcen und soziale Sicherheit im Juli 2021 eine neue Leitlinie, die die Rechte von Plattformarbeiter*innen stärkt und Verträge zum Standard machen soll. Dem Experten für chinesische Plattformwirtschaft Chris Chan, der zu Plattform-Arbeitsmärkten in Hong-Kong und China forscht, wurde die Definition eines «unvollständigen Arbeitsverhältnisses» eingeführt und ein grundlegender Arbeitsschutz für Plattformarbeiter*innen, einschließlich Mindestlohn und Unfallversicherung formuliert und umgesetzt.

Platform labour in Hong Kong and China

Oxford Internet Institute, University of Oxford, Platform labour in Hong Kong and China (YouTube), 21.3.2022

«Crackdown» – Der Staat reguliert zurück

Im Zuge der generalisierten Eindämmung von Digitalkonzernen seit etwa Beginn letzten Jahres durch chinesische Kontrollbehörden, bekam auch Didi die Macht der Politik zu spüren. Im vergangenen Jahr leitete die chinesische Regierung ein hartes Durchgreifen gegen das Unternehmen ein, kurz nachdem es an der New Yorker Börse (NYSE) notiert wurde. Dort hatte Didi beim größten Börsengang (IPO initial public offering) eines chinesischen Unternehmens seit Alibaba 4,4 Milliarden US-Dollar eingesammelt.

Kurz darauf strengte die staatliche Verwaltung für Marktregulierung (SAMR) eine Untersuchung gegen Didi wegen Preis- und Wettbewerbspraktiken an. Am 4. Juli 2021 wies die Cyberspace Administration of China App Stores an, Didi zu entfernen, als Grund wurden Verstöße gegen die Erfassung und Nutzung personenbezogener Daten durch das Unternehmen angeführt. Etwa 25 Apps von Didi verschwanden daraufhin aus den App-Stores, Didi kann seitdem daher keine neuen Kunden anwerben. Am 8. Juli 2021 verhängten chinesische Aufsichtsbehörden gegen Didi eine Geldstrafe in Höhe von 8,026 Milliarden Yuan (1,2 Milliarden US-Dollar) wegen angeblicher Verstöße gegen das Antimonopolgesetz des Landes. Der Aktienkurs stürzte daraufhin ab.

Die Behörden sind gegen die Börsennotierung chinesischer Technologieunternehmen in den USA, weil sie dadurch der Gerichtsbarkeit der US-Regulierungsbehörden unterliegen. Didi hat inzwischen angekündigt, dass es von der NYSE zurückziehen wird. Das chinesische Durchgreifen kostete das Unternehmen Milliarden an entgangenen Einnahmen. Im Juli dieses Jahres gab die Aufsichtsbehörde die Sondierungsergebnisse bekannt. Zusätzlich zu der gegen das Unternehmen verhängten Geldbuße wurden die Führungskräfte von Didi, Will Cheng Wei und Jean Liu Qing, jeweils mit einer Geldstrafe von 1 Million Yuan belegt. Didi sagte auf seinem Weibo-Konto, dass es die Entscheidung der Regulierungsbehörde vollständig akzeptiere und sein Fehlverhalten korrigieren werde.

Das Unternehmen hat sich im Zuge des «crackdowns», so der Name für die chinesische Offensive, die Digitalkonzerne in ihre Schranke zu weisen, auch gegen 996 ausgesprochen. Als 996 wird in China ein Arbeitszeitregime bezeichnet, das in der Tech-Industrie lange üblich war: Von neun bis neun, sechs Tage die Woche. Es gibt auch immer wieder Gerüchte, der Staat wolle Didi übernehmen bzw. Anteile übernehmen, um direkten Einfluss auf die Geschäftspolitik zu nehmen.

Fazit

Im Verkehrssektor versucht China bei den drei Megatrends Elektrifizierung, fahrerloser Verkehre und neue Mobilitätskonzepte voranzugehen. Und die chinesischen Digitalkonzerne wie Didi Chunxing spielen dabei eine wichtige Rolle.

In diesem Bereich lässt sich das durchaus konfliktive Ineinandergreifen von langfristigen politischen Zielen wie Umweltschutz, Stadt- und Verkehrsplanung sowie der Förderung heimischer Industrien mit regulatorischen Maßnahmen mit der profitorientierten Startup-Landschaft beobachten.

Die Plattformökonomie führt dabei tendenziell zu ähnlichen Problemen wie bei den westlichen Pendants. Der chinesische Staat hat allerdings gezeigt, dass er zu einem stärkeren Gegensteuern in der Lage ist, und dass er auch entschlossen ist, die Unterordnung der Digitalkonzerne unter staatliche Ziele durchzusetzen. Gleichzeitig gibt es in China weniger öffentliche Debatten, Selbstorganisation der Beschäftigten ist schwieriger.Bottom-up Gestaltungsmöglichkeiten sind schwächer ausgebildet.

Die Konflikte dürfen auch die nächsten Jahre anhalten, denn nach 2020 trat China in eine durch Handelskrieg und Corona bedingte neue Phase stärkerer Fokussierung auf den Binnenmarkt und auf den Ausbau von der digitalen Service-Industrie andererseits ein.

Quellen und Leseempfehlungen: