Nachricht | Amerikas - International / Transnational Alternativen zu Entwicklung

In Quito wurde eine Arbeitsgruppe mit ExpertInnen aus 6 Ländern Lateinamerikas eingerichtet. Es geht um Alternativen zur kapitalistischen Globalisierung unter Berücksichtigung indigener Kämpfe und feministischer Perspektiven.

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Ulrich Brand,

Spürte man auf dem Weltsozialforum Mitte Februar in Dakar förmlich den historischen Rückenwind der demokratischen Revolutionen in Nordafrika, so fand eine wichtige Initiative der Rosa-Luxemburg Stiftung in Lateinamerika nun vor dem Hintergrund des Nukleardesasters in Japan statt. Dieses zeigt deutlich, dass ein kapitalistisch getriebenes, auf unverantwortliche Großtechnologien setzendes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem enorm störanfällig ist. Es bedarf grundlegender Alternativen.

Diese werden in den letzten zehn Jahren am ehesten in Lateinamerika verortet. Sind doch dort angesichts der neoliberalen Raserei und intensiver Kämpfe sozialer Bewegungen in Ländern wie Brasilien, Argentinien oder Uruguay progressive Regierungen an die Macht gekommen. Die radikalsten politischen Veränderungen, die gar zu neuen Verfassungen führten, finden in Bolivien, Ecuador und Venezuela statt. In Bolivien und Ecuador, wo indigene Bewegungen der Motor der Veränderung waren und sind, geht das mit sehr spannenden und widersprüchlichen Prozessen einer Neuausrichtung gegenüber und mit der indigenen Bevölkerung einher.

Die „lateinamerikanische Paradoxie“ der progressiven Regierungen besteht darin, dass ihnen der politische Spielraum zuvorderst durch eine verstärkte Weltmarktintegration über die Produktion bzw. Förderung und den Verkauf von Agrargütern, fossilen Energieträgern oder Mineralien ermöglicht wird. Die Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika (CEPAL) nennt das eine „Rückkehr des Kontinents zur Primärgüterproduktion“. Es kommt in diesem Kontext flächendeckend  zu einer verstärkten Naturausbeutung durch nationale oder transnationale Unternehmen. Auf kritische Hinterfragung oder offenen Widerstand gegen dieses Modell reagieren die Machthaber oft repressiv. Dabei klaffen Verfassungsnormen und –wirklichkeiten in zentralen Fragen weit auseinander, die postulierten Transformationsprozesse sind zu oft Makulatur.

Damit droht den Regierungen, trotz ihrer formal hohen Akzeptanz in der Bevölkerung, die eigene politische Basis wegzubrechen. Beim Putschversuch gegen den ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa im letzten September deutete sich das an (der bedrohte Präsident wurde nicht unisono von den Bewegungen verteidigt), beim Aufstand der bolivianischen Bevölkerung zur Jahreswende gegen die über 70-prozentige Erhöhung der Energiepreise (gasolinazo) durch die Regierung wurde es besonders deutlich. Die Preiserhöhung musste angesichts der Proteste nach wenigen Tagen zurückgenommen werden. Deutlich ist in allen Ländern mit progressiven Regierungen: Es besteht die Tendenz, ein ressourcenintensives und am Weltmarkt orientiertes Entwicklungsmodell ohne Rücksicht auf Natur und lokale Bevölkerung fortzuführen. Und bei genauerem Hinsehen sind die staatlichen Umverteilungen hin zu unteren Bevölkerungsschichten gar nicht so effektiv, da sie durch Korruption, Klientelismus und Militärausgaben relativiert werden. Zudem drohen staatliche Politiken die ärmeren und politisch schwächeren Gruppen in eine einseitige und passivierende Abhängigkeit vom Staat zu treiben. Politisch geht das in Bolivien, Ecuador und Venezuela mit der Gefahr einher, dass die progressiven Regierungen in autoritärer Weise jegliche linke Kritik als Schulterschluss mit der Rechten denunzieren. Die progressiven Regierungen und staatlichen Apparate werden dann weniger als Bestandteil emanzipatorischer Veränderungen gesehen, sondern es werden in überkommender Form vertikale Politikmuster aufrechterhalten.

In dieser Konstellation ergriff das von Dr. Miriam Lang geleitete Andenbüro der RLS die Initiative, eine regionale Arbeitsgruppe einzurichten, in der die jüngsten Erfahrungen reflektiert und mögliche Auswege aus dem genannten Dilemma entwickelt werden. „Alternativen zu Entwicklung“ im Sinne einer grundlegenden, konzeptionellen und praktischen Kritik herrschender Entwicklungsvorstellungen sind in der Tat notwendig. Denn die aktuellen Krisen zeigen, dass sich nicht nur der globale Kapitalismus destabilisiert, sondern dass aus emanzipatorischer Sicht Gegenstrategien entwickelt werden müssen. Die Kritik betrifft zuvorderst die neoliberalen und neokolonialen Strategien, aber eben auch – unter Anerkennung von Erfolgen – jene der progressiven Regierungen.

Es bedarf, so die Ausgangsannahme, der politisch-praktischen Auseinandersetzungen nicht nur auf der lokalen Ebene, sondern auch auf der nationalen und internationalen. Dies impliziert eine Kritik des immer wieder sich erneuernden Paradigmas der „Entwicklung“ (mittels Zusätzen wie nachhaltig oder lokal), die sorgfältige Analyse der Rolle von Unternehmen und Finanzmärkten sowie des Weltmarktes und der ambivalenten staatlichen Politiken, die oft genug die Bewegungen kooptieren. Die kolonial-kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen staatlichen Strukturen erweisen sich als erstaunlich erfolgreich im Ausschluss radikaler Anliegen, die auch den Umbau des Staates selbst in den Blick nehmen. Regierungsübernahme bedeutet eben noch keine Staatstransformation – und die Wirkungsmacht der Institutionen kann Transformationsziele leicht absorbieren. Besondere Aufmerksamkeit sollen im Rahmen der Arbeitsgruppe tief verankerte kulturelle Muster bekommen wie etwa konsumorientierter Individualismus, aber auch Rassismus, patriarchale Geschlechterverhältnisse, oder die Konstruktionen von  „Armut“ oder „Unterentwicklung“.

Das betrifft auch eine tiefere Auseinandersetzung mit der potentiellen Instrumentalisierung von Basisinitiativen durch politische Akteure im In- und Ausland. Entscheidend ist dabei der verdichtete Erfahrungsaustausch über die Erfolge und Rückschläge emanzipatorischer sozialer Kämpfe, der vielfältigen und oft unsichtbaren Mechanismen der Macht in der Gesellschaft wie auch innerhalb der Bewegungen und der sie unterstützenden Institutionen. Sonst drohen viele hoffnungsvolle Politisierungs- und Widerstandsprozesse in der Defensive zu verbleiben. Nur so lässt sich die dringend notwendige emanzipatorische transnationale Strategie- und Handlungsfähigkeit herstellen bzw. die vielen bestehenden Ansätze verbessern.

Ein Schwerpunkt liegt in der Berücksichtigung der indigenen Kämpfe, aber auch der Lebens- und Denkweisen, die mit den Begriffen sumak kawsay oder suma qamaña (erfülltes Leben) in den letzten Jahren einige internationale Aufmerksamkeit erhielten. Deren wachsende Bedeutung ist angesichts der diagnostizierten Zivilisationskrise, aber auch vor dem Hintergrund eines dominanten eurozentrischen Denkens beachtlich. Es geht um die Dekolonisierung des Denkens sowie gesellschaftlichen Handelns. Bei dem Treffen in Quito  zeigte sich immer wieder, wie spannend, vielfältig und in ihrer Praxis mitunter widersprüchlich die grundsätzlich verschiedenen Perspektiven sind - und wie schwierig es ist, ihnen in einem wirklich interkulturellen Dialog einen angemessenen Raum zu geben. Entsprechend ist hervorzuheben, dass wichtige indigene VertreterInnen aus Bolivien und Ecuador der Arbeitsgruppe angehören.

Die Arbeitsgruppe umfasst etwa 30 Mitglieder aus sechs lateinamerikanischen Ländern – vor allem Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Venezuela, in denen das Andenbüro aktiv ist. Statt sich über inhaltliche Diskussionen in großer Runde kennenzulernen, in der sich wohl rasch die üblichen Hierarchien und Redeverhalten reproduziert hätten, fuhr die Gruppe für drei Tage in ein abgelegenes Tal im Norden des Landes, nach Intag. Dort besuchte sie alternative, von der Stiftung unterstützte Projekte und diskutierte die Erfahrungen mit AktivistInnen. Das Besondere an der Region Intag besteht im erfolgreichen Widerstand gegen mehrfache Anläufe internationaler Unternehmen aus Japan und später aus Kanada, mit Unterstützung von Organisationen wie der OECD Bergbauprojekte zu starten; mit all den erwartbaren negativen Auswirkungen vor Ort auf Wasserqualität, Wälder und biologische Vielfalt. Auch die versprochenen Arbeitsplätze stellen sich häufig als illusorisch heraus, da die Firmen die qualifizierten Arbeitskräfte meist von außen mitbringen. Während einer Informationsreise nach Peru hatten einige AktivistInnen die desaströsen Auswirkungen des Bergbaus gesehen und diese Erfahrung in die Gemeinden zurückgetragen. In einem Prozess von Politisierung und Organisierung entwickelten die 17.000 in der fruchtbaren Region lebenden Menschen konkrete ökonomische, politische und kulturelle Alternativen. Daran zeigt sich: Wenn Menschen konkrete Alternativen entwickeln – mitunter mit staatlicher Unterstützung, mitunter gegen den Staat -, wird es ungleich schwerer, hegemoniale Entwicklungsprojekte in diesen Kontexten durchzusetzen.
Zurück in Quito präsentierten Mitglieder der Arbeitsgruppe in der renommierten Sozialwissenschaftlichen Fakultät Lateinamerikas (FLACSO) einen Tag lang vor etwa 150 ZuhörerInnen Überlegungen zum Thema: Zur ambivalenten Rolle des Staates in den jüngsten Prozessen, zu indigenen Lesarten der aktuellen Krise und möglichen Alternativen, und insbesondere zum problematischen „Extraktivismus“. Der Begriff benennt ein Entwicklungsmodell, das einseitig auf der Ausbeutung von Rohstoffen für den Export in Richtung Norden beruht, wobei in den Ländern selbst wenig ausser Zerstörung zurückbleibt. Die Kritik richtet sich nicht gegen jegliche extraktive Tätigkeit per se,  sondern dagegen, dass das Modell einer Makroökonomischen Eigendymanik folgt, in der verschiedene Güter nicht gegeneinander abgewogen werden. Dies führt zu massiven sozialen und Umweltkonflikten. Es geht also darum, Räume zu öffnen, in denen nicht nur für die Finanzierung der sozialpolitischen Programme Alternativlösungen entwickelt werden, sondern auch Möglichkeiten gesellschaftlicher Umverteilung jenseits dieser realexistierenden Programme, die auch Produktionsmittel und Eigentumsstrukturen einschliessen, wieder in den Blick genommen werden.
Nach der öffentlichen Veranstaltung bei FLACSO ging die Arbeitsgruppe  drei Tage in Klausur, um ein mittel- und langfristiges Arbeitsprogramm für die Zukunft zu entwickeln. Es sind virtuelle Debatten und zwei bis drei Treffen im Jahr vorgesehen. Bei den Diskussionen bildeten sich drei Schwerpunktthemen heraus: Zum einen die Notwtendigkeit einer genaueren Analyse des extraktivistischen Wirtschaftsmodells – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich dabei um ein politisch abgesichertes und insbesondere in den Städten durchaus akzeptiertes Gesellschaftsmodell handelt. Zum anderen soll die in Lateinamerika angesichts der politischen Euphorie der letzten Jahre oft unterschätzte internationale Dimension in den Blick genommen werden: Die Rolle des Weltmarktes und der internationalen Politik (hierzu zählt beispielsweise auch die Politik Brasiliens in der Region), die Tendenzen zu einer Einbeziehung der Natur in die Finanzmärkte  indem überakkumuliertes Kapital in Boden, Konzessionen, Infrastruktur oder schlicht Spekulation mit Naturausbeutung fließt. Dazu gehört aber auch das ressourcenintensive Produktions- und Lebensmodell in den kapitalistischen Zentren, das ja in Form der „Nachfrage“ ganz wesentlich für die Probleme mitverantwortlich ist. Und drittens sollen die vielen Erfahrungen praktischer Kritik, die Ansätze alternativer Lebensformen um den Begriff des „erfüllten Lebens“ herum aufgearbeitet werden. Wie konstituieren sich auf komplexe Weise historische Subjekte der Veränderung, in welchen Konflikten und auf welchen Ebenen? In den kommenden Jahren wird, nicht zuletzt aufgrund der Ernüchterung gegenüber den progressiven Regierungen, um eine „Neuausrichtung des Prozesses“ in Bolivien, Ecuador und Venezuela gerungen werden. Hierzu gehören auch institutionelle Ansätze wie etwa die Bank des Südens oder die lateinamerikanischen Initiativen zur Regulierung der Finanzmärkte. Zu diesen Debatten werden auch Orientierungen an umfassender Armutsbekämpfung, De-Materialisierung oder konkrete Ziele wie die massive und die betroffene Bevölkerung einbeziehende Ausweitung von Naturschutzgebieten gehören.

Ein starkes Gewicht liegt auf linken feministischen Perspektiven, was nicht zuletzt dem Mut der RLS zuzuschreiben ist, sich bei der Personalauswahl in Ecuador, Venezuela und Bolivien ausschließlich für sehr kompetente Frauen entschieden zu haben. Das gibt der Stiftung in der Region ein besonderes Profil.
Deutlich wurde in den ersten Diskussionen, dass es so einfach mit den Alternativen zu Entwicklung nicht ist, sondern dass sich viele konkrete progressive Projekte durchaus auf ein Verständnis von Entwicklung beziehen. Aber eben nicht als von außen und durch Kapital gesteuerten Prozess, der zuvorderst Arbeitskraft und Natur in Wert setzen soll.

Die Gruppe wird nur ausnahmsweise selbst forschend tätig werden. Vielmehr geht es darum, die vielfältigen Erfahrungen und Wissensbestände zu systematisieren, zu diskutieren und gegebenenfalls einen realitätsgerechteren Interpretationsrahmen und politische Vorschläge zu formulieren. Die Stiftung entwickelt hier etwas, was meines Erachtens immer noch unterschätzt wird: Sie wirkt katalytisch, indem sie das enorme Wissen um Probleme und Alternativen zusammenträgt und dadurch politische Wirkungen verstärkt. An der einen oder anderen Stelle wird sicherlich Grundlagenarbeit notwendig werden.

Ganz bemerkenswert, und für eine intensive Zusammenarbeit wohl entscheidend, sind von Beginn an die Offenheit und das Vertrauen der Mitglieder der Arbeitsgruppe, die Bereitschaft zu Selbstkritik, zur Suche nach Gemeinsamkeiten und die Anerkennung von Differenzen. Es geht weniger um die Diskussion von Begriffen, in denen natürlich Erfahrungen aufgehoben sind, sondern um gesellschaftliche Transformation. Die Bereitschaft der Mitglieder der Arbeitsgruppe, bereits im Vorfeld intensiv - und vom Büro in Quito gut moderiert - zu diskutieren war enorm und wird hoffentlich anhalten.

Dass sich solch eine Arbeitsgruppe mit Unterstützung der Stiftung konstituieren kann, dies wurde immer wieder von den TeilnehmerInnen betont, ist nicht zu unterschätzen. Denn es gibt derzeit in Lateinamerika nicht allzu viele Räume offener politischer Diskussionen über die Ländergrenzen hinweg – selbst in den Ländern scheinen sie sich eher zu schließen als zu öffnen. Die konkreten Formen der Kooperation und Publikation müssen noch entwickelt werden.

Eine besondere Herausforderung wird darin liegen, das erarbeitete Wissen anderen politischen und sozialen Zusammenhängen in Lateinamerika zur Verfügung zu stellen und umgekehrt dortige Erfahrungen zu rezipieren. Daher ist zu hoffen, dass die Gruppe in dieser Konstellation über einige Jahre wird arbeiten können. Das Andenbüro setzt damit, in Kooperation mit Berlin, einen wichtigen Akzent bei der Suche nach grundsätzlichen Alternativen zur kapitalistischen Globalisierung und multiplen Krise. Und sie trägt zu einer wichtigen Vernetzung innerhalb Lateinamerikas bei. Es wird hoffentlich nicht lange dauern, bis zentrale Ergebnisse in die bundesdeutsche und europäische Diskussion eingespeist werden.

Ulrich Brand, Universität Wien, Mitglied der RLS, der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“, des wissenschaftlichen Beirats von Attac und der BUKO.