Kommentar | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Rassismus / Neonazismus - Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa Zehn Jahre AfD

Zwischenbilanz einer Radikalisierungsgeschichte

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Gerd Wiegel,

Menschen versammeln sich mit Deutschland-Fahnen vor dem Reichstag.
Anhänger*innen der Alternative für Deutschland demonstrieren auf der Kundgebung «Unser Land zuerst!» in Berlin am 8. Oktober 2022. Foto: IMAGO / IPON

Der Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) im Parteiensystem der Bundesrepublik ist beispiellos: Mit 10,3 Prozent zog sie im Herbst 2021 zum zweiten Mal nach 2017 (12,6 Prozent) in den Bundestag ein und hat es damit in kürzester Zeit geschafft, sich auf allen parlamentarischen Ebenen zu verankern. In Ostdeutschland hat sie den Status einer Volkspartei und liegt in Sachsen und Thüringen, aktuellen Umfrage zufolge, mit Zustimmungswerten von 30 Prozent gar auf Platz eins. Trotz einer stetigen «Rechtsradikalisierung» ist es der Partei innerhalb von nur zehn Jahren gelungen, sich im politischen System der Bundesrepublik zu etablieren.

Gerd Wiegel ist Politikwissenschaftler und Referent für Rechtsextremismus und Antifaschismus der Bundesfraktion die LINKE. Er arbeitet seit Jahren zur extremen und populistischen Rechten in Deutschland und Europa und veröffentlicht hierzu regelmäßig in linken Zeitschriften.

Mit diesem Aufstieg ist die AfD zum zentralen Akteur der radikalen Rechten in Deutschland geworden. Die von der Partei gegründete Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES) kann aufgrund der parlamentarischen Verankerung der AfD auf hohe staatliche Zuwendungen hoffen und dürfte, sollte sie diese auch erhalten, zum wichtigsten Think-Tank der internationalen radikalen Rechten werden.

Voraussetzungen einer erfolgreichen modernisierten Rechten

Mit der Gründung der AfD im Februar 2013 endete eine parteipolitische Besonderheit, die die Bundesrepublik zu dieser Zeit von den meisten ihrer Nachbarländer unterschied. Während in zahlreichen EU-Ländern seit den späten 1990er Jahren Parteien einer modernisierten radikalen Rechten an Zustimmung und Einfluss gewannen, war die parteipolitische Rechte in Deutschland wahrnehmbar nur über die (kleine) Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) und, phasenweise, über die rechtsradikalen «Republikaner» sowie die Deutsche Volks-Union (DVU). Realen politischen Einfluss besaßen diese Parteien nie.

Parteipolitisch stand die radikale Rechte in Deutschland immer vor dem Problem, sich zur NS-Vergangenheit verhalten zu müssen, und diese Vergangenheit stellte sich lange Zeit als schier unüberwindliches Hindernis für die Gründung einer dauerhaft erfolgreichen Partei rechts des etablierten Konservatismus dar. Während in Österreich mit der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und in Frankreich mit dem Front National (FN) schon seit den 1980er Jahren zwei erfolgreiche Parteien der radikalen Rechten an Zustimmung gewannen und auch in Ländern wie Italien, Belgien, den Niederlanden und Dänemark im Laufe der 1990er Jahre ein Aufstieg rechter Parteien einsetzte, blieb es in Deutschland bis 2013 scheinbar ruhig.

Dies lag nicht zuletzt darin begründet, dass es sich dabei, wie zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien seit den 1980er Jahren zeigten, vor allem um ein Angebots- und nicht um ein Nachfrageproblem handelte. So zeigte etwa die von 2001 bis 2011 von Wilhelm Heitmeyer u.a. durchgeführte Langzeitstudie «Deutsche Zustände», dass es sehr wohl das Potenzial für eine Partei rechts der CDU gab, da klassische Ideologieelemente der radikalen Rechten auf breite Zustimmung in Teilen der Bevölkerung stießen und offenbar eine Repräsentationslücke im Parteienspektrum bestand. In genau diese Lücke stieß die AfD 2013. Sie war erfolgreich, weil ihre Gründung entlang von Themen und Personen erfolgte, die nicht unmittelbar mit der traditionellen radikalen Rechten in Verbindung gebracht werden konnten, wenngleich dieser Teil immer schon zur AfD dazugehörte.

Die Partei weckt große Erwartungen ihrer Anhänger*innen, denen sie suggeriert, dass man am Beginn einschneidender und grundsätzlicher politischer Veränderungen stehe.

Zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien haben in den letzten Jahren den Zusammenhang von neoliberaler Entwicklung, Entsicherung der europäischen Gesellschaften (Einschränkung bzw. Abschaffung sozialstaatlicher Sicherungssysteme) und einem politischen Autoritarismus gezeigt, der sich auch im Aufstieg eines rechten Populismus ausdrückt. Insofern ist es kein Zufall, dass die AfD in einer Phase der Krise des Neoliberalismus und seines sich abzeichnenden Hegemonieverlustes gegründet wurde.

Die Finanzmarktkrise 2008/09 und dann die Euro-Frage im Zuge der Griechenland-Krise 2013 waren die unmittelbaren Auslöser für Gründung und Erfolg der AfD. Der Gründungsimpuls der Partei wurde damals von zahlreichen Beobachter*innen als «nationalliberal» beschrieben. Für marktradikale Ökonomen rund um den ersten Parteivorsitzenden, Bernd Lucke, war es die vermeintlich verfehlte Euro-Rettungspolitik der Regierung Merkel im Zusammenhang mit der Griechenlandkrise, die den letzten Anstoß zur Gründung der AfD gab. Mit Lucke, Joachim Starbatty oder dem früheren Präsidenten des Bundes der Industriellen (BDI) Hans-Olaf Henkel sowie den Themen Euro- und EU-Kritik wurde ein bürgerliches Publikum angesprochen, das sich – enttäuscht von FDP und Union – für eine nationalistisch grundierte Form des Marktradikalismus offen zeigte. Zwar reichte der kurze Vorlauf bis zur Bundestagwahl im Herbst 2013 nicht, um den Einzug ins Parlament zu schaffen. Mit 4,7 Prozent scheiterte die neue Partei aber nur knapp.

Von nationalliberal zu völkisch

Mit Alexander Gauland und Beatrix von Storch zählten schon früh Personen zur Führungsriege der Partei, die für eine andere Ausrichtung standen: Gauland für eine ethno-nationale Politik und von Storch für eine Kulturkampfdebatte rund um Antifeminismus, Geschlechterrollen, Demographie und «68er-Bashing». Auch die völkische Rechte war mit Personen wie Björn Höcke und André Poggenburg von Beginn an in der Parteiführung vertreten.

Nur für etwa zwei Jahre dominierten die Nationalliberalen um Lucke in der AfD, dann setzte mit der Konzentration auf die Themenbereiche Flucht und Migration eine erste Rechtsradikalisierung ein. «Zuwanderungskritisch» war die AfD von Anfang an. Während die Lucke-Leute jedoch einer funktionalen, selektiven Zuwanderung im Interesse des Kapitals positiv gegenüberstanden, wurde die von der völkischen Rechten um Höcke vertretene, ethnopluralistisch begründete Ablehnung jeglicher Zuwanderung in der Partei immer stärker. Hierzu trug die massive Migration nach Deutschland und Europa im Sommer 2015 entscheidend bei. Der nationalistische Teil des Gründungsimpulses verband sich sehr schnell mit einer rassistisch begründeten Ablehnung von angeblich «kulturfremder» Zuwanderung – und damit faktisch jeder Form der Aufnahme von Geflüchteten.

Organisatorisch zeigte sich diese Rechtsverschiebung darin, dass Bernd Lucke 2015 als Vorsitzender abgewählt und durch Frauke Petry ersetzt wurde. Gleichzeitig gründete sich im März 2015 die innerparteiliche Strömung «Der Flügel», in der sich die völkische Rechte organisierte. Schon damals wurde mit Hilfe dieses straff organisierten Netzwerks parteiinterner Einfluss generiert. Sowohl Petry als auch später Jörg Meuthen gründeten ihre Führung zumindest zeitweilig auf deren Wohlwollen. Damit ebneten sie den völkischen Rechten den Weg zur einflussreichsten und mächtigsten Strömung innerhalb der Partei. Abgesichert wurde diese Stellung durch die zentrale Figur der AfD in dieser Zeit: Alexander Gauland. Als Schutzpatron des «Flügels» hielt das langjährige CDU-Mitglied zunächst von Brandenburg aus und ab 2017 dann auf Bundesebene seine schützende Hand über die völkische Rechte in den eigenen Reihen.

Die weitere Rechtsradikalisierung der AfD fand in einer Phase des weltweiten Aufschwungs autoritärer, in Teilen rassistischer und verschwörungsaffiner Bewegungen statt. Zudem wurde in Europa die Finanzkrise von einer «Flüchtlingskrise» überdeckt, in deren Folge die von der völkischen Rechten besetzten Themen «Volk», «Heimat» und «Nation» an Bedeutung gewannen.

Wahlpolitisch waren es die von der völkischen Rechten geführten Landesverbände in Sachsen, Brandenburg und Thüringen unter den Vorsitzenden Frauke Petry, Alexander Gauland und Björn Höcke, die den Durchbruch für die AfD schafften und mit Resultaten zwischen 9,7 und 12,2 Prozent die bis dahin besten Ergebnisse von Landesverbänden erzielten, die schon damals die späteren Erfolgsthemen der Partei aufgriffen: Hass und Hetze gegen Zugewanderte sowie populistisches Bashing vermeintlicher Eliten in Politik und Kultur.

Bedingungen des Aufstiegs der AfD

Der massive Zustrom von Geflüchteten nach Deutschland ab 2015 in Verbindung mit den autoritären Konkurrenzmustern der neoliberalen Entwicklung seit dem Ende der 1990er Jahre bescherte den Themen der völkischen Rechten in der AfD einen deutlichen Aufschwung. Die Umwandlung berechtigter Unzufriedenheit mit einem auf Entsolidarisierung und globale Konkurrenz setzenden Neoliberalismus in eine rassistisch begründete Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten und einem Ressentiment gegen vermeintliche oder reale «globale Eliten» wurde zum Erfolgsrezept für den weiteren Aufstieg der Partei.

Eingebettet waren dieser Aufstieg und die mit ihm einhergehende Radikalisierung in den globalen Aufschwung eines rechten Autoritarismus: Brexit, die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, die erste nationalistische Alleinregierung in Polen, die Entwicklung in Ungarn, aber auch in Brasilien, Indien oder Russland – die radikale Rechte in der AfD sieht sich als Teil einer weltweiten Entwicklung. Innerhalb der Partei beförderte das jene völkischen Kräfte, die auf eine maximale Rechtsradikalisierung setzten und sich selbst als die «letzte evolutionäre Chance» Deutschlands (Höcke) vor einem Bürgerkrieg von rechts ansahen.

Die USA, Brasilien, aber auch Ungarn und Polen zeigen, wohin eine solche Entwicklung führen kann – und warum es so wichtig ist, dieser Entwicklung entschlossen entgegenzutreten.

Dieser verklausuliert national-revolutionäre Habitus brachte den erwartbaren und dann doch fulminanten Einzug in den Bundestag 2017. Die 12,6 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl führten gerade nicht dazu, dass sich Partei und Fraktion mäßigten und im Parlamentarismus einrichteten. Ganz im Gegenteil sorgte die AfD dafür, dass völkische Hetze, Verschwörungsmythen und Geschichtsrevisionismus jetzt auch im Bundestag Einzug hielten. Ein militanter Antifeminismus, Klimawandelleugnung und ab 2020 die Annäherung an die unter dem Namen «Querdenken» verstärkt in die Öffentlichkeit drängende Szene der Corona-Leugner waren Etappen im Rahmen dieser Radikalisierungsspirale.

Allerdings blieb in dieser Zeit unklar, wie die AfD ihre Positionen in reale Politik umsetzen will. Hier liegt der Kern der folgenden innerparteilichen Auseinandersetzung zwischen dem völkischen und dem rechtsbürgerlichen Lager. Letzteres scharrte sich zwischenzeitlich um den zusammen mit Gauland amtierenden Co-Vorsitzenden Meuthen.

Während die völkische Rechte in der Partei, bestärkt durch die Krisen seit 2015, im Prinzip auf die Implosion der liberalen Demokratie setzt und sich auf ein solches Tag-X-Szenario vorbereitet, schwebt den Rechtsbürgerlichen eine politische Achsenverschiebung der Bundesrepublik vor – in Zusammenarbeit mit einer rechtsgewendeten Union.

Radikalisierungsspirale

In gewisser Weise ist die AfD Opfer ihres eigenen Erfolgs, denn sie hat sich in eine Radikalisierungsspirale begeben, aus der aktuell kein Weg herauszuführen scheint. Spätestens seit dem Parteitag in Riesa 2022 und dem folgenden Abgang der Galionsfigur der bürgerlichen und marktradikalen Rechten Jörg Meuthen vom Parteivorsitz, ist die Partei voll und ganz in den Händen der völkischen Rechten um Björn Höcke. Damit setzt sie erkennbar auf eine Form der fundamentalen Systemopposition und strebt nicht weniger an als den totalen Bruch mit dem westlich-parlamentarisch-liberalen System der Bundesrepublik.

Im Rahmen der gesellschaftspolitischen Debatten zum Thema Zuwanderung und den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie sind vor allem in Ostdeutschland rechte Bürgerbewegungen entstanden, denen sich die AfD als parlamentarischer Arm und parteipolitischer Akteur anbietet. Die islamkritische und in Teilen rassistische Pegida-Bewegung (Pegida = «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes») und «Querdenken» haben Formen des autoritären Bürgerprotestes auf die Straße gebracht, der den Keim einer rechten Massenbewegung in sich trägt. Verschwörungsmythen, der Hass auf politische und mediale Eliten, die Abwehr alles Fremden und der Wunsch nach autoritärer Führung verbinden sich hier mit einer politischen Ausrichtung der AfD, die diese Stimmungen nach Kräften fördert.

Die Partei weckt große Erwartungen ihrer Anhänger*innen, denen sie suggeriert, dass man am Beginn einschneidender und grundsätzlicher politischer Veränderungen stehe. Die einzig andere Option sei der Untergang Deutschlands, des «Abendlandes» und der weißen «Rasse». Dass hier gezielt Erwartungen geschürt werden, die einen kompromisslosen Einsatz verlangen, wird immer wieder aus Äußerungen von AfD-Funktionären deutlich – so etwa, wenn Höcke in seiner «Geraer Rede» vom 3. Oktober 2022 davon spricht, dass das deutsche Volk «an einer historischen Wegmarke» stehe und sich «zwischen dem Regenbogen-Imperium, dem globalistischen Westen (…) oder dem traditionellen Osten» entscheiden müsse. «Dieses Regenbogenimperium mit den USA als Kernland und der BRD als wichtigstem Brückenkopf in Europa ist es, das die Zerstörung der Nation durch Masseneinwanderung forciert, das Mann und Frau den Kampf angesagt hat, dem nichts mehr heilig ist: nicht der gute Geschmack, nicht der Fleiß, nicht unser grandioses historisches Erbe, ja noch nicht einmal unsere Kinder.»

Die Beteiligung der ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Birgit Malsack-Winkemann an den im Dezember 2022 aufgedeckten Putschplänen einer «Reichsbürger»-Gruppe – in der sich Verschwörungsanhänger*innen versammeln, die die staatliche Legitimität der Bundesrepublik leugnen –, ist dann nur die letzte Konsequenz labiler Charaktere, die das Heft des Handelns in die eigene Hand nehmen wollen und dabei in Teilen die Realitätshaftung verlieren.

Isolation und Annäherung

Vor dem Hintergrund dieser Radikalisierung wird die Isolation der AfD durch alle anderen politischen Akteure immer wichtiger. Zwar gibt es auf Bundesebene, und zumal im Bundestag, bislang keine Anzeichen für eine Zusammenarbeit von CDU und AfD; aber die CDU versucht unter ihrem neuen Vorsitzenden Friedrich Merz offenkundig, thematisch stärker im Gefilde der AfD zu fischen und Ausgrenzungsdebatten gegen Geflüchtete vom Zaun zu brechen. Angesichts der anhaltenden Radikalisierung der AfD, die selbst von einer Institution wie dem Verfassungsschutz inzwischen als verfassungsfeindlicher Verdachtsfall eingestuft wird, verbietet sich jede formalisierte Zusammenarbeit.

Unterhalb der Bundesebene sieht es jedoch ganz anders aus. Insbesondere in ostdeutschen Bundesländern gibt es immer wieder Annäherungen von CDU und AfD, die sich in gemeinsamen Abstimmungen, der gemeinsamen Durchsetzung parlamentarischer Ausschüsse oder in ähnlich ausgerichteten Kampagnen gegen Genderthemen, Geflüchtete u.a. zeigen. Ein Teil der bisher vor allem für den etablierten Konservatismus erreichbaren bürgerlichen Basis driftet immer stärker in das verschwörungsaffine Milieu ab, das bisher ausschließlich von der AfD bedient wird. Vermehrt versuchen aktuell auch Funktionsträger*innen der CDU, sich diesem Milieu anzunähern: sei es durch eine politische Diktion, die bislang vor allem von der AfD genutzt wird, sei es durch Auftritte bei Protestversammlungen, die eindeutig von der radikalen Rechten dominiert werden.

Die Gefahr eines durch die AfD beförderten «radikalisierten Konservatismus» (Natascha Strobl) ist auch in der Bundesrepublik vorhanden. Die USA, Brasilien, aber auch Ungarn und Polen zeigen, wohin eine solche Entwicklung führen kann – und warum es so wichtig ist, dieser Entwicklung entschlossen entgegenzutreten.