George Grosz war ein politischer Künstler, nicht nur so ein bisschen, sondern über viele Jahre recht konsequent: Er war frühes Mitglied der KPD, veröffentlichte in den 1920er Jahren seine Werke – Malereien, Collagen, Grafiken und Karikaturen – unter anderem in Parteipublikationen und entwarf politische Plakate. Zur Zeit der Novemberrevolution 1918 war der damals 25-Jährige Dadaist und hatte auf Seiten der Radikalen gestanden, gemeinsam mit anderen Künstler*innen wie etwa John Heartfieldwar er der Silvester 1918 gegründeten KPD beigetreten.
Auf Initiative des von Willi Münzenberg1921 aus der Taufe gehobenen «Auslandskomitees zur Organisierung der Arbeiterhilfe für die Hungernden in Rußland», dessen Gründungsmitglied Grosz ebenfalls war, unternahm er 1922 eine mehrmonatige Reise nach Sowjetrussland, kurz vor der Gründung der Sowjetunion am 30. Dezember 1922. Dieser Reise widmet sich – zum 100. Jahrestag – nun eine Sonderausstellung im Kleinen Grosz Museumin Berlin-Schöneberg.
Um die Reise ranken sich seit jeher einige Mythen: Grosz selbst hatte sie künstlerisch kaum verarbeitet, ein gemeinsames Buchprojekt mit dem Bornholmer Schriftsteller und Kommunisten Martin Andersen Nexö, mit dem Grosz sich im Sommer 1922 in Dänemark traf, um über Norwegen nach Russland zu reisen, scheiterte: Die beiden verkrachten sich aus unbekannten Gründen auf der Reise und gingen in Russland getrennte Wege. Einzig während einer längeren Wartezeit zur Weiterreise im norwegischen Vardö entstanden einige Skizzen, die im Rahmen der Sonderausstellung erstmals gezeigt werden. In Sowjetrussland reiste Grosz dann durch verschiedene Orte, im November nahm er in Petrograd an der Parade zum fünften Revolutionsfeiertag und am Vierten Weltkongress der Kommunistischen Internationale teil, der nach der Eröffnung nach Moskau umzog. Grosz traf dort Sowjetprominenz wie Lenin, Karl Radek oder Leo Trotzki. Die Ausstellungsmacher*innen haben zum Beleg bislang unbekannte, äußerst faszinierende Filmaufnahmen und Fotografien aus den Archiven geborgen.
Dennoch bleibt Grosz’ Reise in der Rückschau verschwommen. Besonders rätselhaft sind ihre Auswirkungen auf den Künstler. Viele Jahre später, als er in den USA lebt (wo er 1959 auch stirbt), wird er in der zweiten Fassung seiner Autobiografie »Ein kleines Ja und ein großes Nein« schreiben, seine Zeit in Sowjetrussland habe die Abwendung vom Kommunismus zur Folge gehabt – er äußert sich dort abfällig über das in Russland Gesehene und die kommunistischen Funktionäre, betont das Elend der Sowjetbürger*innen. Das ist allerdings mit Vorsicht zu genießen: Grosz ist in den Staaten von der beginnenden Kommunistenverfolgung der McCarthy-Ära bedroht, die Autobiografie mit dem Kapitel über die Russland-Reise erscheint 1953 in einer von der CIA finanzierten Zeitschrift; in der ersten Ausgabe von 1946 hatte die Passage zur Reise noch gänzlich gefehlt.
1922 jedenfalls, nach seiner Rückkehr aus Russland, im Berlin der Weimarer Republik, ist Grosz zunächst weiter Unterstützer der KPD – aus seinem Werk lässt sich die im Nachhinein behauptete Abwendung vom Kommunismus noch lange Zeit nicht ablesen. Verbürgt jedoch ist eine wachsende Distanzierung von der KPD bis zum Ende des Jahrzehnts und zum Beginn der 1930er Jahre, die aber mit dem erstarkenden Stalinismus zusammenhängt, der sich 1922 noch nicht durchgesetzt hatte. Es bleiben also viele Fragen offen.
Sie werden wahrscheinlich nie vollständig aufgeklärt werden können. Doch das Kleine Grosz Museumhat alles Mögliche rund um die Reise nach Sowjetrussland – die Vor- und Nachgeschichte und die rekonstruierbaren einzelnen Stationen der Reise – akribisch recherchiert und zusammengetragen. Allein zur Würdigung dieser Arbeit lohnt sich ein Besuch der Sonderausstellung. Um die Werke George Grosz’ zu besichtigen sowieso.
Die Sonderausstellung «1922 – George Grosz reist nach Sowjetrussland» ist noch bis zum 1. Mai 2023 zu sehen.
Das Kleine Grosz Museum, Bülowstraße 18, 10783 Berlin, Eintritt: 10 EUR, ermäßigt 6 EUR, Gruppen und Sonderführungen auf Anfrage.
Die Begleitpublikation(250 S., 35 Euro) ist im Verlag der Buchhandlung Walter König erschienen.
Diese Ausstellungskritik erschein zuerst in analyse und kritik, Nr. 690.