Am 15. März ist Antje Vollmer gegangen. Von ihrer tödlichen Krankheit wusste sie lange. Sie hat sich ihr gestellt wie vorher allem anderen – mit ganzer Kraft, mit völliger Klarheit, mit größter Würde. Sie sah ihre Lebensarbeit getan. Im letzten Jahr ihres Lebens noch hat sie sich als Pazifistin entschieden gegen den Kurs der Bundesrepublik auf Aufrüstung im Rahmen der NATO und auf immer umfassendere militärische Unterstützung der Ukraine gewandt. Sie war eine Unterzeichnerin des Briefes vom April 2022 an Bundeskanzler Scholz mit der Forderung, die Waffenlieferungen zu stoppen. Sie sprach sich für Diplomatie und humanitäre Hilfe aus. Sie war eine Erstunterzeichnerin des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer verfassten «Manifests für Frieden». In einem letzten Artikel für die «Berliner Zeitung» formulierte sie in der Ausgabe vom 25. und 26. Februar dieses Jahres unter der Überschrift «Vermächtnis einer Pazifistin. Was ich noch zu sagen hätte» ihren Rückblick auf das größte politische Projekt ihres Lebens, die Partei Die Grünen:
«Meine ganz persönliche Niederlage wird mich die letzten Tage begleiten. Gerade die Grünen, meine Partei, hatte einmal alle Schlüssel in der Hand zu einer wirklich neuen Ordnung einer gerechteren Welt. Sie war durch glückliche Umstände dieser Botschaft viel näher als alle anderen Parteien. Wir hatten einen echten Schatz zu hüten: Wir waren nicht eingebunden in die machtpolitische Blocklogik des Kalten Krieges. Wir waren per se Dissidenten. Wir waren gleichermaßen gegen die Aufrüstung in Ost wie West, wir sahen die Gefährdung des Planeten durch ungebremstes Wirtschaftswachstum und Konsumismus. Wer die Welt retten wollte, musste ein festes Bündnis zwischen Friedens- und Umweltbewegung anstreben, das war eine klare historische Notwendigkeit, die wir lebten. Wir hatten dieses Zukunftsbündnis greifbar in den Händen.»
Nicht nur die Grünen hatten in Antje Vollmers Augen dieses große Erbe aufgegeben. Sie sah die Krise einer radikal friedensorientierten, ökologisch ausgerichteten, globale Solidarität einfordernden und lebenden Linke auch in den anderen linken Parteien. Sie litt unter den Spaltungen, suchte deren Überwindung mit ihrem Engagement für die dann zum Scheitern gebrachte Bewegung «Aufstehen» zu verwirklichen. Intensiv suchte sie bis in ihre letzten Lebenswochen nach neuen Ansätzen für eine Bewegung, die Frieden der Menschen miteinander und Frieden mit der Natur verbinden.
Die Liste der Organisationen und Initiativen, in denen sich Antje Vollmer einsetzte für ihre große Vision, ist lang. Immer ging es gegen Krieg, gegen Gewalt, gegen Völkerhass. Und dies nicht abstrakt. Ihr Engagement für die deutsch-tschechische Aussöhnung oder im Deutsch-Russischen Forum, ihre engen Kontakte in die VR China und zum Dalai Lama, um eine Lösung des Konflikts um Tibet herbeizuführen, seien genannt. Es wäre vieles andere zu nennen. Sie hat gezeigt, was möglich ist, wenn man wirklich die Spaltungen überwinden will und die Logik von Herrschaft hinter sich zu lassen bereit ist.
Ihr Tod sollte Anlass sein, ihre Bücher über Clara Zetkin, über Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler, das gemeinsam mit Hans-Eckhart Wenzel verfasste Buch über Konrad Wolf wieder in die Hand zu nehmen und ihre Schriften zu feministischen Utopien, gegen den Missbrauch der Religion, zur Krise der westlichen Zivilisation erneut zu lesen.
Antje Vollmer, eine der wahrhaft großen Politikerinnen und Intellektuellen der Bundesrepublik, ist gegangen. Inmitten einer Zeitenwende hin zum Krieg, zu einer neuen Spaltung der Welt, zu einem Wettrüsten und Wettstreiten, dem die globalen Probleme zum Opfer fallen werden, wird sie schrecklich schmerzhaft fehlen. Ihr letzter, schon zitierter Artikel endete mit den folgenden Sätzen:
«Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit, gerade in Zeiten großer Krisen und existenzieller Ängste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.»
Berlin, den 16. März 2023
Michael Brie, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der RLS