Kommentar | Arbeit / Gewerkschaften - Bildungspolitik - Gewerkschaftliche Kämpfe - Studienwerk Etwas ist diesmal anders

Kämpfe für gute Arbeit in der Wissenschaft spitzen sich zu, können sich Hoffnungen auf Erfolge machen und halten Protestlektionen bereit

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Peter Ullrich,

Es war ein wahrer Twittersturm. Obwohl das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Ampel-Koalitionäre ihre Eckpunkte für eine Reform des Wissenschaftzeitvertragsgesetzes an einem Freitagnachmittag in kleiner Presserunde bekanntgaben, dauerte es nur Minuten, bis die Aufregung, ja Empörung über dessen Inhalte insbesondere in den sozialen Medien unüberhörbar geworden war.

Das Gesetz mit dem unaussprechlichen Namen regelt, dass Wissenschaftler*innen bis zu 12 Jahre immer wieder befristet angestellt werden können (im allgemeinen Arbeitsrecht liegt die Grenze bei 2 Jahren), danach aber nicht mehr, wenn sie keine feste Stelle bekommen - die Professur. Es ist also ganz wesentlich dafür mitverantwortlich, dass in der Wissenschaft einerseits Kettenbefristungen mit kurzen Vertragslaufzeiten Gang und Gäbe sind und andererseits ein Großteil der Betroffenen nach Ablauf dieser Zeit aus dem System rausfliegt, denn die Zahl der Professuren ist im Vergleich zu der der Aspirant*innen verschwindend gering. Die Befristungsquote liegt in der Wissenschaft bei über 80 Prozent.  Das Gesetz schafft die Voraussetzungen für eine extreme Konkurrenz im Feld und die Externalisierung von Kosten durch Querfinanzierung oder unbezahlte Mehrarbeit. Es ist die gesetzliche Grundlage einer Kannibalisierung.

Peter Ullrich ist Soziologe und Kulturwissenschaftler. Neben seiner Tätigkeit als Referent für Ehemaligenarbeit im Studienwerk der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist er Senior Researcher im Bereich «Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte» am Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin.

Seit fast 20 Jahren gibt es dagegen Proteste von Gewerkschaften und Mittelbauinitiativen, die zunehmend mediale Aufmerksamkeit erfahren haben. Auch die Frequenz der Proteste und die Zahl der gegen diese Verhältnisse politisch Aktiven oder zumindest dafür Sensibilisierten sind immer weiter angewachsen. Der Druck war so groß – und bei einem Teil der Koalitionäre wohl auch das genuine Interesse an einer Verbesserung –, dass die Ampel das Gesetz wirklich novellieren wollte (nach einer eher kosmetischen Korrektur im Jahr 2016).

Was dabei diesmal herauskam ist jedoch haarsträubend und Ursache für einen Aufschrei, der in erster Linie von den betroffenen Wissenschaftler*innen aus dem Mittelbau und ihren Interessenvertretungen kam, dem sich aber bald – ganz entscheidend für die Protestdynamik – Professor*innen und andere «Stakeholder» anschlossen. So ziemlich niemand konnte mit dem Reformvorschlag etwas anfangen.

Die Kritik zielt vor allem auf folgende Punkte:

  • Für Promotionen soll es eine Mindestlaufzeit des Erstvertrages von drei Jahren geben. Da aber Promotionen (mit fächerspezifischen Abweichungen) im Schnitt 5,7 Jahre dauern (ohne Medizin), ist das alles andere als ausreichend (ein Strukturproblem übrigens auch der Stipendienförderung).
  • Die Postdoc-Phase, in der die Vorbereitung der Berufungsfähigkeit auf eine Professur erfolgen muss, soll von 6 auf 3 Jahre verkürzt werden, womit sich der Druck auf die betroffenen Wissenschaftlicher*innen im bestehenden System massiv verschärfen wird.

Vor allem der zweite Punkt klingt nach faulem parteipolitischen Kompromiss und einer fehlenden Gesamtkonzeption: mit Sicherheit reichen diese drei Jahre nicht, um sich zu habilitieren oder sonst irgendwie den nächsten großen Schritt in der Wissenschaft zu machen. Zugleich sind sie zu lang, als dass sie Hochschulen und Forschungseinrichtungen dazu zwingen würden, vernünftige Personalmodelle zu etablieren und Entfristungsoptionen anzubieten. Denn die Rektorate haben weiter vor allem ihre chronisch klammen Kassen und nicht «Gute Arbeit» im Blick und verbrennen lieber viel Geld für unsichere Exzellenz-Experimente. So wird der Druck auf die Beschäftigten, sich in dieser entscheidenden Phase irgendwie im System zu halten und gegen alle Wahrscheinlichkeiten durchzusetzen, noch stärker, die Kannibalisierung schreitet voran. Hier sei auch erwähnt, dass diese Phase auch die Lebensphase ist, die üblicherweise von Care-Verpflichtungen geprägt ist, insbesondere durch Elternschaft oder Angehörigenpflege.

Der Hochschulrechtler Simon Pschorr hat auf den auch rechtlich problematischen Umstand hingewiesen, dass die im Papier formulierten allgemeine Ziele («Entfristungsperspektiven») mit den konkreten Regelungen gar nicht erreicht werden können. Der maue Regelungsvorschlag macht deutlich, dass an sehr vielen anderen Stellschrauben gedreht werden müsste, um die Situation für die Beschäftigten zu entschärfen und nicht die letzten Reste von Attraktivität des Arbeitsplatzes Universität zu verbannen: es braucht eine solide Finanzierung der Promotionen und eine klare und frühzeitige Entfristungsperspektive nach der Promotion. Um die zu ermöglichen sind Personalentwicklungsmodelle mit Dauerstellen und Aufstiegsmöglichkeiten sowie ein drastischer Abbau der Drittmittel zugunsten einer soliden Ausstattung mit Grundmitteln vonnöten. Dass das geht, hat nicht zuletzt das «Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft» (NGAWiss) vorgerechnet.

Die Eckpunkte der Ampel enthalten auch kleine potenzielle Fortschritte, z.B. eine teilweise Aufhebung der Tarifsperre. Einzelne Regelungsaspekte des Gesetzes könnten also zukünftig Gegenstand von Arbeitskämpfen werden, was bisher quasi gänzlich ausgeschlossen war. Doch ob diese dann zugunsten der Beschäftigten ausgehen, ist aus zwei Gründen nicht sicher: Zum einen ist der gewerkschaftliche Organisierungsgrad in der Wissenschaft nur gering. Zum anderen wird die Tarifsperre nur für kleinere Teile und mit Möglichkeit der Vereinbarung schlechterer Regelungen als vom Gesetz vorgesehen aufgehoben. Dieser Plan ist also ambivalent – die Tarifsperre muss komplett weg.

Manches an diesem Strom der Ereignisse war wenig überraschend, z.B. dass (nicht nur durch die FDP) beschäftigtenfreundlichere Regelungen unterbunden wurden und dass die SPD, wahrscheinlich «reinen Herzens», das Debakel als sozialen Fortschritt anzupreisen versuchte. Für Augenreiben bei den aufgebrachten Mittelbauler*innen sorgte beispielsweise Carolin Wagner, die stellvertretende bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. Nach der Veröffentlichung des Beschlusses twitterte sie mit freundlich lächelndem Gesicht bebildert, dass es «mit uns» nun bald «verlässliche Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft» gäbe. Nach dem entrüsteten Shitstorm gegen das inzwischen vielfach WitzZeitVG genannte WissZeitVG bedankte sie sich ebenso auf Twitter für «eure Anmerkungen». Offensichtlich ein Versuch, Euphemismus zu definieren.

Doch manches ist diesmal wirklich grundsätzlich anders als bei den letzten (allerdings auch schon jeweils wachsenden) Empörungswellen zur gleichen Frage, die sich jeweils mit bestimmten Twitter-Hashtags verbinden (#95vsWissZeitVG, #FristIstFrust, #IchbinHanna). Insbesondere fällt auf, dass sich Professor*innen in Scharen mit dem Mittelbau solidarisieren. Über 2000 von ihnen (um die 5 Prozent des ganzen Berufsstandes) haben mittlerweile den von der Münchner Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky initiierten Aufruf «Profs für Hanna» unterschrieben. Der richtet sich ebenso gegen den Zuschnitt der geplanten Novelle und spricht sich u.a. für einen deutlichen Zuwachs unbefristeter Stellen neben der Professur aus. Die Ideen der Profs sind nicht ganz deckungsgleich mit den Zielen der organisierten Mittelbauler*innen. Der bekannte Historiker Jürgen Zimmerer, einer der «Profs für Hanna» sprach sich – natürlich auf Twitter – sogar für die völlige Abschaffung der Höchstbefristungsdauer in der Wissenschaft aus – und damit implizit für eine umfassende Deregulierung des Arbeitsrechts nur für die Wissenschaft. Die Hochschulrektorenkonferenz dürfte das sicherlich bemerken und wohlwollend aufgreifen. Doch grundsätzlich sind die Profs ihrer Haltung nach mit Hanna und Reyhan (Hannas migrantischer, noch gesondert prekarisierter Wissenschaftlerkollegin) solidarisch.

Das hatte wohl kaum jemand so erwartet, und so wuchs die Ablehnungsfront um Fachgesellschaften und andere Zusammenschlüsse, und zwar alle unter dem Signum besserer Beschäftigungsbedingungen. Dann kam der Paukenschlag: nach am Wochenende ruderten die zuständigen Staatssekretär*innen zurück und riefen die am Stakeholderprozess beteiligten Gruppen zurück in die «Montagehalle». Doch hier gilt es aufzupassen: der erste, eilig einberufene Montagetermin im BMBF soll sich nur mit der 3-Jahres-Regel für die Postdocs befassen, wo doch die ganze Diskussion deutlich gemacht hat, dass es um eine grundlegende Perspektive für gute Arbeit in der Wissenschaft und die dazu notwendigen Strukturen gehen muss. Die Chance, hier wirklich Verbesserungen zu erwirken, waren insgesamt lange nicht so gut wie jetzt, wenn der Druck nicht nachlässt.

Die Ereignisse sind auch ein Lehrstück für das Verständnis verschiedener Elemente von Protest, nämlich die Bedeutung sozialer Medien, verbindlicher Organisierung, situativer Dynamiken und langen Atems. Einerseits – dies wurde schon deutlich – schien sich der ganze Prozess bis zum Zurückrudern des BMBF auf Twitter abzuspielen. Die Wut war so deutlich und so schwer zu ignorieren, dass genug Druck aufgebaut werden konnte. Natürlich darf dieser Befund nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wille, Unmut zu artikulieren, nicht aus dem Nichts kam. Auch wenn gerade im Rahmen des #IchbinHanna-Twittersturms manchmal der Eindruck erweckt wurde, sich dort zu beschweren und auszutauschen reiche für politische Veränderungen (als würde das gute Argument in der Politik so sehr viel zählen), ja es sei geradezu selbst die Bewegung, zeigt sich doch wie wichtig die jahrelange Arbeit an der Politisierung des Themas und der Bewusstseinsbildung der Beschäftigten war. Ohne die langjährigen Aktivitäten von ver.di und der GEW in diesem Themenfeld, namentlich das Templiner Manifest der GEW und ohne die massive Aufbauarbeit der miteinander vernetzten Mittelbauinitiativen im «Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft», deren Zahl in den vergangenen Jahren rapide gewachsen ist, wären weder kritische politische Deutungen und alternative Erzählungen (inklusive konkreter Reformvorstellungen) derart präsent und wäre auch nicht innerhalb weniger Tage eine beeindruckende Demonstration mit um die 500 Teilnehmenden vor dem Ministerium organisierbar gewesen.

Im Zentrum der nur teilweise spontanen Proteste, die allerdings tatsächlich innerhalb weniger Tage viele neue Aktive mobilisierten, steht aktuell das «Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft» als verbindender Netzwerkakteur. Hier konnten beispielsweise «Neulinge» einen Anker finden und gleich aktiv werden. Sie haben diese Proteste auf wirkliche Beine gestellt, zusammen mit Gewerkschaftsgruppen, «Profs für Hanna» und anderen Organisationen, die eine kraftvolle Demo organisierten. Beschäftigten- und Studierendenvertretungen haben sich auch gemeinsam kritisch zu Wort gemeldet. Dass diese Akteure im neu aufzurollenden Policy-Prozess nicht ignoriert werden dürfen (werden sie auch nicht), ist Resultat langwieriger organisatorischer Kärrnerarbeit. Ohne diese würden Twitterstürme schnell vergehen. Trotzdem: Die Bedeutung dieses Mediums als höchst relevante politische Arena wurde klar unter Beweis gestellt. Das miserable Konzept der Ampelkoalition und die desaströse Kommunikation der rot-grünen Mitverantwortlichen eröffnete ein Möglichkeitsfenster, eine unglaubliche Gelegenheit, die aber nur genutzt werden konnte, weil der sich abzeichnende Anlass von den Verfechter*innen einer freieren, kritischeren und solidarischeren Universität mit langem Atem vorbereitet wurde. Es zeichnet sich, angespornt auch durch diese Erfolge, auch die Perspektive ab, dass die Wissenschaft nicht mehr nur der Hort der duldsamen, individualisierten Unzufriedenen bleiben muss, die nicht auf die (Protest-)Beine kommen. Deren Druck darf aber wohl kaum nachlassen, wenn aus der aktuellen Dynamik wirklich verbindlich bessere Beschäftigung resultieren soll.