Die diesjährige Tarifrunden waren und sind von einer breiten Mobilisierung getragen, wie sie seit langem nicht mehr zu beobachten war. Häufig wiederkehrende Warnstreiks und Kundgebungen legten an manchen Tagen das öffentliche Leben lahm. Erinnert sei nur an Montag, den 27. März, an dem der Verkehr bundesweit zum Erliegen kam. Die Tarifauseinandersetzungen betreffen in erster Linie den Öffentlichen Dienst, die Post und die Bahn. Die industriellen Bereiche wie die Metallindustrie oder die chemische Industrie hatten ihre Tarifrunde gegen Ende letzten Jahres abgeschlossen. Besonders bemerkenswert war der Arbeitskampf bei der Post. Hier kam es auch zur Urabstimmung, in der eine überwältigende Mehrheit für einen unbefristeten Streik stimmte.
Heinz Bierbaum ist Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler. Im Dezember 2019 wurde er zum Vorsitzenden der Partei der Europäischen Linken gewählt. Seit 2022 ist er Vorstandsvorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Hintergrund dieser außerordentlichen Mobilisierung ist die für Europa und Deutschland ungewöhnlich hohe Inflation von nahezu 10 Prozent, wobei vor allem die Preise für Energie und Lebensmittel angestiegen sind. Europaweit führte das zu starken Protesten und zu Aktionen des Widerstands, so besonders in Großbritannien: «Enough is Enough» war das Motto. Auch in Deutschland kam es zu derartigen Protesten und entsprechenden Aktionsbündnissen. Dies hat auch die Tarifrunden beeinflusst. Die Forderungen der Gewerkschaften insbesondere im öffentlichen Dienst, bei der Post und der Bahn waren mit einer Erhöhung der Löhne und Gehälter um 10,5, 15 bzw. 12 Prozent, verbunden mit Einmal- bzw. Mindestzahlungen für deutsche Verhältnisse ziemlich hoch.
Beachtliche Resultate
Die Resultate, die bislang in den Tarifrunden erreicht wurden, können sich sehen lassen. Den Anfang machte die IG BCE im Oktober letzten Jahres mit einem Abschluss von 6,5 Prozent und einer Ausgleichszahlung von 3.000 Euro mit einer Laufzeit von zwei Jahren. Etwas höher war der Abschluss der IG Metall im November 2022 mit einer Erhöhung von 8,5 Prozent bei einer zweijährigen Laufzeit und einer Zahlung von 3.000 Euro netto zum Ausgleich der Inflation. Allerdings gab es auch erheblich Kritik an diesem Abschluss. Trotz der massiven Warnstreiks sei die Mobilisierung unzureichend gewesen, so dass auch keine völlige Kompensation der Inflation gelungen sei. Auf der anderen Seite ist der Abschluss auf einen breiten Konsens der Beschäftigten gestoßen. Und man muss auch berücksichtigen, dass die Lage in der Metallindustrie äußerst schwierig ist, verursacht nicht nur durch die schwache Konjunktur, sondern besonders auch durch die tiefgreifenden Transformationsprozesse. Sehr bemerkenswert ist der Abschluss bei der Post, die bei einer Forderung von 15 Prozent neben beträchtlichen Einmalzahlungen mit einer Lohnerhöhung von 340 Euro im Schnitt eine Erhöhung um 11 Prozent erreicht hat, die sogar bei den untersten Lohngruppen noch deutlich höher ausfällt. Offensichtlich haben die erfolgreiche Urabstimmung und die Entschlossenheit, auch zu streiken, ausgereicht, um zu diesem Abschluss zu kommen. Forderung und Abschluss erklären sich auch dadurch, dass die Post infolge des pandemiebedingten enormen Auftragsvolumens riesige Gewinne eingefahren hat. Auch das Ergebnis im öffentlichen Dienst mit einer Erhöhung um 5,5 Prozent, mindestens aber 340 Euro, was insbesondere die unteren Lohngruppen begünstigt, sowie ebenfalls mit einer Ausgleichszahlung von 3.000 Euro ist beachtenswert.
Es geht um mehr als Lohn
Die Tarifrunde selbst war weit mehr als eine reine Lohnrunde. So kam es zu einer Kooperation zwischen der Gewerkschaft Ver.di und den «Fridays for Future», deren Mitglieder aktiv an den Kundgebungen und Warnstreiks teilgenommen haben. Gemeinsames Ziel ist eine andere Mobilitätspolitik mit Ausweitung und Verbesserung des ÖPNV. Dies wurde von Teilen der Unternehmerverbände als illegaler politischer Streik kritisiert. Allerdings schlug diese Kritik nicht durch und blieb folgenlos. Freilich ist festzustellen, dass damit die Tarifauseinandersetzung eine besondere politische Dimension annahm. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass Ver.di und die Eisenbahnergewerkschaft EVG in der Tarifrunde kooperierten. Dies sollte Ansporn für eine weitere und auch intensivere Zusammenarbeit von Gewerkschaften in der Zukunft sein. Interessant ist weiter, dass der Staat und damit die Politik insofern eine aktive Rolle spielten, als die Einmalzahlungen nicht besteuert werden, also netto sind. Angesichts der ansonsten von Gewerkschaften so hoch gehaltenen Tarifautonomie ist dies durchaus bemerkenswert und wirft Fragen für die Zukunft auf.
In diesem Zusammenhang stellt die Initiative der IG Metall zur Einführung der Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich in der Stahlindustrie eine neue qualitative Etappe in der Tarifpolitik dar. Sie knüpft damit an die Tarifrunde 2018 an, in der Arbeitszeit ebenfalls eine Rolle spielte, indem zwischen mehr Lohn und mehr freier Zeit gewählt werden konnte. Arbeitszeitverkürzung kann ganz unterschiedliche Zielsetzungen und Ausprägungen annehmen, je nachdem, in welchen gesellschaftlichen Kontext sie eingeordnet wird. So wird sie durchaus auch von Unternehmerseite in Fällen wirtschaftlicher Probleme befürwortet, allerdings dann ohne vollen Lohnausgleich. Von gewerkschaftlicher und progressiver politischer Seite ist sie jedoch als offensives Konzept zu verstehen, das eben nicht nur der Beschäftigungssicherung dient, sondern zugleich auf eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen abzielt. Und dies beinhaltet eben auch eine Bezahlung ohne Abstriche. Spätestens seit dem Kampf um die 35-Stunden-Woche wissen wir, dass es nicht reicht, einfach die Forderung nach einer verkürzten Arbeitswoche zu erheben, sondern dass es dazu einer umfassenden gesellschaftlichen Mobilisierung bedarf. Der Vorschlag einer Vier-Tage-Woche wurde ja immer wieder von verschiedener Seite vorgebracht. Die jetzige Initiative der IG Metall sollte genutzt werden, um beizutragen, dass dies ein gesellschaftliches Thema wird. Insbesondere bietet es sich an, die Frage der Arbeitszeit mit den im Gang befindlichen Transformationsprozessen in der Industrie zu verknüpfen.
Die Tarifrunden haben immer eine mehr oder minder ausgeprägte politische Dimension. Sie sollten daher mit dem politischen Mandat der Gewerkschaften verbunden werden, wie dies ja auch in der diesjährigen Runde deutlich wird, indem die Frage der Lohnerhöhung mit der Frage der Mobilität und der öffentlichen Infrastruktur verbunden wurde. Gerade in Zeiten tiefgreifender Transformationsprozesse kommt der Verbindung von Tarifpolitik und Gesellschaftspolitik hohe Bedeutung zu. Gewerkschaftliche Zielsetzungen wie Sicherung der Beschäftigung und anständige Arbeits- und Lebensbedingungen hängen in hohem Maße von politischen Entscheidungen ab.