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Vor 50 Jahren verstarb Max Horkheimer

Information

Max Horkheimer wurde am 14. Februar 1895 in Stuttgart-Zuffenhausen in eine Industriellenfamilie geboren. Seine Eltern waren orthodoxe Juden. Da sein Vater wollte, dass er die Firma übernehmen sollte, musste er mit 16 Jahren von der Schule abgehen und eine Lehrlingsausbildung machen. 1914 wurde Horkheimer Juniorchef des Familienunternehmens. In dieser Zeit lernte er Friedrich Pollock kennen, mit dem er, durch mehrere Freundschaftsverträge besiegelt, bis zu dessen Tod eng befreundet blieb. Auch seine spätere Frau Rose Christine Riekher, die Sekretärin seines Vaters war, lernte er in dieser Zeit kennen. Mit Pollock hielt er sich nach dem Krieg in München auf, um dort das Abitur nachzuholen und ein Studium zu beginnen. Beide hatten engen Kontakt zu Aktivisten der Münchner Räterepublik und waren in der Phase ihrer Niederschlagung durch Freikorps mit bedrohlichen Situationen konfrontiert.

Alex Demirović ist Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Seine umfangreiche Studie «Der nonkonformistische Intellektuelle», die die Kritische Theorie nach der Rückkehr aus dem Exil behandelt, erscheint im September 2023 in einer Neuauflage.

Für ihr weiteres Studium gingen sie nach Freiburg und Frankfurt am Main. Horkheimer studierte erfolgreich Philosophie und wurde alsbald Privatdozent. In Frankfurt lernten er und Pollock Felix Weil kennen, der sich für Fragen der Sozialisierung interessierte und parteiunabhängige marxistische Forschung unterstützen wollte. Zu diesem Zweck stifteten er und sein Vater Hermann das Institut für Sozialforschung, das an der Universität Frankfurt angesiedelt wurde. Die Idee des Instituts war eng verbunden mit der rätekommunistischen Strömung der Weimarer Linken. Das dokumentiert die 1. Marxistische Arbeitswoche im Mai 1923, an der Georg Lukács, Karl Korsch, Sorge, Gumperz, Pollock und Weil teilnahmen. Dort wurde auch programmatisch über die Arbeit des Instituts diskutiert. Über Pollock war Horkheimer in die Arbeit des Instituts einbezogen; im August 1930 übernahm er dessen Leitung und wurde auf eine von der Stiftung Weils eingerichtete Professur für Sozialphilosophie berufen.

Ein neuer Materialismus

Horkheimer war ein origineller marxistischer Denker. Seine Ende Januar 1931 gehaltene Antrittsrede als neuer Direktor des Instituts macht dies deutlich. Er bezieht sich auf das Marxsche Basis-Überbau-Modell, aber er arbeitet es auch um.

Bei Marx soll das Sein das Bewusstsein bestimmen. Horkheimer bezieht sich positiv auf dieses Argument, aber hält die Verhältnisse für verkehrt, unter denen das der Fall ist. Auch das materielle Sein ist kein metaphysisch Erstes, dem sich die Menschen unterwerfen müssen. Ziel ist die Verwirklichung der Freiheit. Dies beinhaltet, dass Menschen mit Vernunft die Verhältnisse gestalten, unter denen sie leben. Der historische Materialismus erweist sich als eine Theorie von Herrschaft, die sich selbst überflüssig macht. Die Bedingungen dazu seien längst vorhanden, die Produktivkräfte seien längst entfaltet; es seien die gesellschaftlichen Verhältnisse, die dem Reich der Freiheit und dem Glück der Einzelnen entgegenstünden, der Reichtum werde von wenigen Mächtigen genutzt, um ihn gegen die Menschen zu richten und sie unten zu halten.

Marx zufolge erhebt sich über den ökonomischen Verhältnissen der Überbau von Staat und Recht, von Religion, Philosophie und Moral. Horkheimer bezieht nun die Ergebnisse des Freudo-Marxismus ein und begreift Individuum und Familie als vermittelndes Glied zwischen Ökonomie und Überbauten. In der Ökonomie verfolgen die Individuen in harten Konflikten ihre partikularen Bedürfnisse, die Überbauten stellen die Instanzen des Allgemeinen dar. Das Individuum muss Kompromisse zwischen beiden, dem Partikularen und der Allgemeinheit, finden, also seine Vernunft ausbilden und in der Lage sein, seine Interessen zu verallgemeinern.

Ob es diese Fähigkeit besitzt, hängt von den psychischen Erfahrungen ab, die es in der primären Sozialisation im Elternhaus macht. Die sozio-historische Krise des Subjekts besteht darin, dass die Balancen nicht mehr stimmen, Individuen ihre Bedürfnisse und ihr Triebgeschehen nicht sublimieren und rationalisieren können und sich aufgrund von Ich-Schwäche einer autoritären Allgemeinheit unterwerfen. Bewusst reflektiertes, vernünftiges Verhalten findet in den Individuen keine Grundlage mehr, es kommt verstärkt zur Lenkung der Individuen durch populistische Führer und Verwaltung, durch die Kulturindustrie und Konsum. Die Krise der bürgerlichen Familie, des bürgerlichen Individuums und der Vernunft hängen aufs engste miteinander zusammen und münden in den Faschismus. Überholte kulturellen Praktiken sind der Kitt, mit dem sich der zerfallende Kapitalismus am Leben erhält. Für Horkheimer war das Modell von Basis und Überbau also nicht die Antwort, sondern eine Frage, die Gegenstand empirischer Forschung sein sollte. Wie hängen ökonomische, politische und kulturelle Prozesse zusammen? Welcher der Bereiche determiniert zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Folgen die anderen? Kultur wurde von ihm ausgedehnt auf Familienformen und Sexualpraktiken, auf Mode, Wohnformen, Freizeitverhalten und Autobesessenheit, Kino und Boulevardpresse oder Sport. In der gemeinsam mit Theodor W. Adorno verfassten «Dialektik der Aufklärung» werden diese Fragen weiterverfolgt. Sie werden zur These verdichtet, dass die Kultur der Kapitalverwertung unterworfen worden ist und die Kulturindustrie mit ihrem gewaltigen Apparat die Lebensweise der Individuen organisiert und die Schemata vorgibt, nach denen die Individuen die Welt sehen. Das Bewusstsein der Menschen wird also von oben, von den mächtigen Konzernen vergesellschaftet, sie definieren, was das Allgemeine ist. Aufklärung ist demnach totalitär geworden.

Für Horkheimer ist der Kapitalismus eine Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Natur. Zu seinem Basis-Überbau-Modell gehört auch noch ein Keller: die fürchterlichen Schlachthöfe, in denen die Tiere getötet und Menschen unter schlimmsten Bedingungen arbeiten müssen. Politik sind für Horkheimer die Mittel zur Herrschaft über Menschen und Natur. Beide Formen der Herrschaft müssen überwunden, das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur muss versöhnt werden. Nicht länger dürfen vermeintliche Gesetze der Natur, von den angeblich die Selbsterhaltung der Menschen abhängig sein soll, in die Gesellschaft hinein verlängert und zur Grundlage der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gemacht werden. ist Die vernünftige Gestaltung der objektiven Verhältnisse ist längst möglich, alle könnten in den Genuss des Glücks kommen.

Exil in den USA und Rückkehr

Horkheimer erweist sich zusammen mit Pollock als brillanter Organisator. Er rettet das Institut für Sozialforschung ins New Yorker Exil und ermöglicht einigen Mitarbeitern wie Erich Fromm, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno, Franz L. Neumann die weitere wissenschaftliche Arbeit. Angesichts der Ermordung und Verfolgung so vieler Kader der Linken durch den deutschen Staat und der Krise der Vernunft bis weit in die Linke hinein ist Horkheimer sehr bewusst, dass die Theorie nur überliefert und fortgesetzt werden kann, wenn die Individuen überleben, soll anspruchsvolle Theorie fortgesetzt werden können. Es war bitter für Horkheimer und natürlich für viele Betroffene, dass die Möglichkeiten der materiellen Unterstützung, die das Institut geben konnte, gering waren.

Nach dem Ende der NS-Herrschaft und der Katastrophe des Genozids an den europäischen Juden war Horkheimer, anders als viele Exilanten, bereit, nach Deutschland und in die Bundesrepublik zurückzukehren. Er sah die Möglichkeit, mit dem Institut für Sozialforschung und Professuren für sich und Adorno, mit vielen Vorträgen und administrativer Tätigkeit als Rektor der Frankfurter Universität daran mitzuwirken, einer neuen Generation die Begriffe und das Wissen einer undogmatischen, anti-autoritären Theorie, die an Kant, Hegel und Marx anknüpft und mit empirischer Forschung verbunden ist, weiter zu geben und zur Herausbildung von nonkonformistischen Individuen beizutragen, die in Lage sein würden, Autonomie zu bewahren, sich demokratisch zu engagieren und einem Allgemeinen, das allmächtig erscheint, Stand zu halten. So verstanden ist die materialistische Philosophie von Horkheimer zu einem erheblichen Teil in seiner institutionellen Praxis und nicht allein in seinen Schriften enthalten.

Aber natürlich ist das zu einfach. Denn er hat umfangreiche Forschungen zu Autoritarismus und Antisemitismus angestoßen und vor allem das Projekt einer kritisch-materialistischen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem historischen Gesamtprozess, die auch das Wissen selbst und die Intellektuellen selbst in die Theorie hineindenken muss, über Jahrzehnte hinweg verfolgt. Letzteres sind folgenreiche Überlegungen. Denn die materialistische Theorie wird von Horkheimer als eine Aktivität verstanden, die sich historisch mit den sozialen Kämpfen ändert. Das basiert auf der Einsicht von Lukács und Korsch, dass der historische Materialismus sich mit den kapitalistischen Verhältnissen ändert. Unter den Bedingungen des Wohlfahrtsstaats, der die Arbeiterklasse integriert und als Totengräber des Kapitalismus mit der Zerstörung der Erde auch das eigene Grab schaufeln lässt, und des Atomkrieges, der die Menschheit auslöschen kann, musste die Frage der Freiheit und der Funktion der kritischen Theorie neu gestellt werden.

Mit Skepsis beobachtete Horkheimer die Entwicklung der Neuen Linken und die Protestbewegung der 1960er Jahre. Er befürchtete, dass sich mit ihr die unheilvolle nationalistische Tradition der deutschen Jugendbewegung erneuern könnte; bestätigt sah er sich durch die Angriffe auf die Kritische Theorie und die Kritik an den USA, die seiner Einschätzung nach Demokratie und Freiheit verteidigten. Dass in den Protesten auch Impulse für eine Demokratisierung der Demokratie und eine Wiederentdeckung der materialistischen Theorietradition enthalten waren, verkannte er nicht. Wie sollte er auch? So viele seiner Schüler*innen waren an diesem Projekt beteiligt.

Nach dem Scheitern der Aufklärung ist Horkheimers Warnung eindringlich: Auch Vernunft und Wahrheit haben einen historischen Kern. Die richtige Theorie kann zur Lüge werden. Die Theorie, die Einsicht muss ein Moment der Freiheit sein, sie darf nicht zum Instrument der Politik verkommen, der Positivismus und die Lüge dürfen kein Mittel der Politik werden, diese muss dem Glück, der Aufklärung, der Wahrheit dienen. Dass auch bis weit in die Linke der Glaube an die bloßen Tatsachen gepflegt und für vermeintlich gute Zwecke gelogen wird, befördert die Regression und die autoritäre Gesellschaft.

Die drei Menschen, mit denen Horkheimer vielleicht am engsten verbunden war, starben vor ihm – seine Frau und Adorno 1969, Pollock 1970. Horkheimer starb am 7. Juli 1973.
 

Literaturtipps:

  • Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, zuletzt Frankfurt/Main 1991
  • Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, zuletzt Reinbek 2010
  • Rolf Wiggershaus: Max Horkheimer: Unternehmer in Sachen «Kritische Theorie», Frankfurt am Main 2013

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