Als der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar letzten Jahres seine «militärische Spezialoperation» in der Ukraine ankündigte, prognostizierten die meisten Expert*innen in Ost und West einen russischen Sieg binnen weniger Monate oder gar Wochen. Aber Verbündete wie Feinde der Ukraine hatten die Widerstandskraft des Landes unterschätzt und 15 Monate nach Beginn der Invasion ist der Kreml seinen militärischen Zielen kein bisschen näher. Der russische Vormarsch ist zum Erliegen gekommen und eine Gegenoffensive zeichnet sich ab. Die ukrainische Gesellschaft steht hinter dem Militär und eine überwältigende Mehrheit befürwortet eine Wiederherstellung der Grenzen von 1991.
Gleichzeitig hat der Krieg verheerende Folgen für die ukrainische Bevölkerung. Millionen Ukrainer*innen sind ins Ausland geflüchtet, und die Infrastruktur des Landes wurde zerstört oder stark beschädigt (von den russisch besetzten Gebieten ganz zu schweigen). In den letzten Wochen mehren sich Berichte, dass die westlichen Verbündeten eine «koreanische Lösung» in Betracht ziehen, bei der die Krim und der Donbass in russischer Hand bleiben würden.
Volodymyr Artiukh hat an der Central European University promoviert, forscht am Centre on Migration, Policy and Society der Universität Oxford und ist Redaktionsmitglied von Commons: Journal of Social Critique.
Wie lange kann die Ukraine – und kann Russland – noch kämpfen? Wie könnte eine Friedenslösung aussehen, so unwahrscheinlich sie auch scheint? Jana Tsoneva von der bulgarischen Partnerorganisation der Rosa-Luxemburg-Stiftung Collective for Social Interventions hat sich mit dem ukrainischen Soziologen Volodymyr Artiukh über die Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft, die Auswirkungen des Einmarschs und darüber unterhalten, warum er keine Hoffnung auf einen baldigen Frieden in der Region hegt.
Jana Tsoneva: Putin scheint sich von der «Entnazifizierung», die ihm in den vergangenen Monaten als Rechtfertigung für die Invasion in der Ukraine diente, zumindest rhetorisch verabschiedet zu haben. Der Krieg zieht sich nun schon über ein Jahr hin. Was denkst du, ist das eigentliche Ziel des Kremls?
Volodymyr Artiukh: Die russischen Verlautbarungen zu den Zielen des Kriegs sind vielschichtig, umso mehr noch, wo mit Hochdruck widersprüchliche Kriegspropaganda versprüht wird. Offiziell sollen mit der «militärischen Spezialoperation» weiterhin «Entnazifizierung» und «Entmilitarisierung» erreicht werden.
Allerdings hat die Leiterin von Russia Today, Margarita Simonyan (die irgendwo zwischen offiziellen Regierungsstatements und reiner Propaganda zu verorten ist), eingeräumt, dass die Kriegsziele absichtlich vage formuliert wurden – um den Feind zu verwirren. Der Grund für diese Klarstellung ist wahrscheinlich, dass sich die russische Bevölkerung laut Umfragen nichts unter den genannten Zielen vorstellen kann. Simonyans Aufgabe ist es, Putin als klarsichtigen Herr der Lage darzustellen, was für eine breite Unterstützung des Kriegs unerlässlich ist.
Im Bereich der reinen Propaganda finden wir unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Aussagen. Das reicht von der Forderung einiger Priester nach Vernichtung der ukrainischen Nation, weil sie dem Teufel diene, über das Versprechen von Putins Söldnerführer Prigoschin, in drei Jahren die Hälfte der Ukraine einzunehmen, bis zu zurückhaltenderen Äußerungen einiger Duma-Abgeordneter, denen zufolge es lediglich um die Eroberung des Südostens der Ukraine geht.
Unter Politik- und Wirtschaftsexpert*innen besteht zunehmend Einigkeit, dass sich Putin, von der Robustheit der russischen Wirtschaft und der langsam einsetzenden «Ukrainemüdigkeit» des Westens bestärkt, auf einen langen Krieg einstellt.
Aus meiner Sicht lässt nichts darauf schließen, dass Putin vom Ziel der Unterwerfung der gesamten Ukraine abgerückt ist. Fest steht jedenfalls, dass seine Pläne seit letztem September mindestens die Eroberung der Donbass-Provinzen Donezk und Luhansk sowie der beiden Schwarzmeerregionen Cherson und Saporischschja vorsehen. Letztere sind 2022 ohne vollständige militärische Kontrolle annektiert worden, weshalb ihre Eroberung für den Kreml nunmehr zu einer Frage der Integrität des russischen Staats geworden ist. An PR-Stunts des ehemaligen ukrainischen Politikers Wiktor Medwedtschuk und an Sergej Lawrows unzähligen Drohungen in Richtung Moldau lassen sich auch die Maximalziele ablesen.
Unter Politik- und Wirtschaftsexpert*innen besteht zunehmend Einigkeit, dass sich Putin, von der Robustheit der russischen Wirtschaft und der langsam einsetzenden «Ukrainemüdigkeit» des Westens bestärkt, auf einen langen Krieg einstellt. Deshalb denke ich, dass sich die Maximalziele seit März 2022 nicht geändert haben und Putin optimistisch ist, sie früher oder später auch zu erreichen.
Die Eroberung der Ukraine ist aber nicht das eigentliche Ziel. Sie dient vielmehr als Basis für eine «neue Sicherheitsarchitektur», wie sie von Kenner*innen der russischen Außenpolitik bezeichnet wird. Viele von ihnen hielten die Invasion letztes Jahr für unwahrscheinlich, da eine Eroberung der Ukraine der russischen Herrschaftselite mittelfristig keine wirtschaftlichen oder politischen Vorteile verschafft. Selbst der halboffizielle außenpolitische Sprecher Russlands Fjodor Lukjanow gibt zu, dass das Land die vermeintliche Schwäche des Westens hatte ausnutzen wollen, um die nach dem Kalten Krieg oder gar die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Sicherheitsarchitektur auszuhebeln, bevor China seinerseits einen solchen Schachzug macht.
Wie effektiv sind die Wirtschaftssanktionen bisher? Wie finanziert Russland den Krieg? Und wie lange kann es ihn angesichts des Ölpreisdeckels und anderer Maßnahmen gegen russische Rohstoffexporte noch finanzieren?
Das Worst-Case-Szenario ist bisher nicht eingetreten, die russische Wirtschaft konnte einige Industriezweige auf Kriegswirtschaft umstellen. Vor allem die Einkünfte aus fossilen Brennstoffen sind gegenüber dem Vorkriegsjahr gestiegen und nur wenige westliche Firmen haben den russischen Markt komplett verlassen. Manche dieser Gelder fließen allerdings in die etablierte russische Schattenwirtschaft ab, statt für den massiven Militäretat zur Verfügung zu stehen.
Mit den Sanktionen konnte aber erreicht werden, dass sich der Nachschub an Munition und Ersatzteilen für Raketen und andere Waffen verlangsamt hat. Das zeigt sich z.B. daran, dass es Russland trotz massiven Raketenbeschusses seit September nicht gelungen ist, die ukrainische Energie-Infrastruktur zu zerstören. Es gibt auch Anzeichen für einen «Munitionshunger» der Artillerie an der Front.
Insgesamt haben die westlichen Sanktionen bewirkt, was sie bewirken sollten: Sie verringern Russlands Fähigkeit, Schäden in der Ukraine anzurichten. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass das Land vor Kriegsbeginn große Mengen an Mitteln angehäuft hatte und weiterhin hohe Einnahmen aus fossilen Energieträgern erzielt. Eine Katastrophe für die russische Wirtschaft ist also nicht zu erwarten, vor allem, falls China sich entscheiden sollte, Russland im Krieg zu unterstützen.
Waren Waffenlieferungen an die Ukraine nicht ebenso wichtig, um die Schäden durch russische Angriffe zu begrenzen?
Ja, Waffenlieferungen waren ebenso entscheidend, um die russische Invasion zu verlangsamen, weil die ukrainischen Waffen- und Munitionsvorräte sich mit den russischen schlicht nicht messen können.
Die zwei wesentlichen Faktoren bei den Waffenlieferungen sind das richtige Maß und der richtige Zeitpunkt. Die Lieferungen müssen so angelegt sein, dass die russische Führung sich nicht in die Ecke gedrängt fühlt und plötzlich chemische oder taktische Nuklearwaffen einsetzt. Das hat insgesamt gut funktioniert. Beim Zeitpunkt der Lieferungen ist es schwieriger: Entgegen den Behauptungen einiger alarmistischer Stimmen war es bisher schwierig, sich auf Lieferungen wichtiger Waffentypen zu einigen und diese so zu organisieren, dass sie mit den Plänen des ukrainischen Militärs harmonieren. Diese «fast-rechtzeitigen» Lieferungen haben zu vermeidbaren Verlusten an Soldat*innen und Zivilist*innen beigetragen.
Auch wenn die NATO-Länder keine Waffen mehr liefern, wird die ukrainische Armee in der Lage sein, weiterzukämpfen.
Allerdings sollte hervorgehoben werden, dass nicht nur der Westen Waffen an die Ukraine liefert – es gibt mehr Lieferungen, als in den Medien dargestellt wird. Inzwischen wissen wir, dass Bulgarien, Marokko und Pakistan im Hintergrund Geräte und Munition geliefert haben, und ich denke, bald werden weitere Lieferungen ans Licht kommen. Hier stimmt der naive Slogan «weniger Waffen, weniger Krieg» also nicht: Auch wenn die NATO-Länder keine Waffen mehr liefern, wird die ukrainische Armee in der Lage sein, weiterzukämpfen. Das Land würde Mittel und Wege finden, sich Waffen zu beschaffen, auch wenn diese weniger modern und effektiv wären, was dann zu größeren Verlusten führen würde.
In diesem Sinne bedeuten «weniger moderne Waffen» ein «Mehr an brutalem Krieg». Wollte man konsequent der Logik des Slogans «weniger Waffen, weniger Krieg» folgen, müsste man sich für eine globale Blockade der Ukraine einsetzen. Das ist kaum umsetzbar.
Steht die ukrainische Gesellschaft noch hinter dem Krieg? Siehst du Anzeichen einer Art «Kriegsmüdigkeit»?
Die Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft und auch im Militär scheint langsam schlechter zu werden, ist aber weit davon entfernt zu kippen. Die emotionale Einheit zu Kriegsbeginn – eine Art kollektiver Adrenalinschub – hat sich in eine Mischung aus Beharrlichkeit und Resignation verwandelt. Es spiegelt sich zwar in den Umfragen noch nicht wider, aber qualitative Beobachtungen legen nahe, dass die Moral nachlässt.
Ich sehe das auch bei meiner Arbeit mit Geflüchteten in einem Nachbarland der Ukraine: Sie hoffen zwar nach wie vor auf die Rückkehr in die Heimat, aber da sie ihren Aufenthalt im Ausland auf Dauer organisieren müssen, drücken sie diese Hoffnung in zunehmend unbestimmter Weise aus. Mehr als ein Drittel aller Ukrainer*innen haben ihr Zuhause verlassen und jedes zehnte Zuhause wurde zerstört oder beschädigt. Da ihr früheres Leben zunichte und unter den gegenwärtigen Umständen keine Karriere oder Familienplanung möglich ist, hangeln sie sich von Tag zu Tag und halten sich an die praktischen Schritte, die das Überleben erfordert. Dabei leiden die Beziehungen zur Heimat und zueinander oder brechen ganz ab.
Die Stimmung in der Armee hat sich deutlich verschlechtert, es gibt immer mehr Fahnenflüchtige und das Militär hat Mühe, den männlichen Teil der Bevölkerung zu rekrutieren.
Nach einem Jahr der Trennung zerbrechen Familien. Aus ihrem Umfeld gerissen, lernen Kinder neue Sprachen und suchen sich neue Freund*innen. Junge Menschen schreiben sich an Universitäten ein und finden Arbeit. Auch wenn es nicht die Gesellschaft als Ganzes abbildet, verrät die Stimmung bei den Vertriebenen doch etwas über die Dynamiken ein Jahr nach Kriegsbeginn.
Auch die Stimmung in der Armee hat sich deutlich verschlechtert, es gibt immer mehr Fahnenflüchtige und das Militär hat Mühe, den männlichen Teil der Bevölkerung zu rekrutieren. Videoaufnahmen aus verschiedenen ukrainischen Städten, in denen Uniformierte auf öffentlichen Plätzen Zivilist*innen festnehmen, zeigen das deutlich. Die Grenzpolizei berichtet außerdem jede Woche darüber, wie Männer zwischen 18 und 60 über die Grenze in Nachbarländer zu fliehen versuchen.
Es entsteht ein Teufelskreis: Je brutaler das Geschehen an der Front wird, desto weniger Menschen melden sich freiwillig zum Militärdienst, und diejenigen, die dazu gezwungen werden, untergraben die Disziplin, was die Situation an der Front noch prekärer macht. In den ersten Monaten bestand der große Vorteil der Ukraine in der hohen Motivation, aber jetzt, wo das zweite Kriegsjahr anfängt, ist davon nicht viel übrig.
Apropos: Generell sorgen Kriege für den Wagenburgschluss einer Gesellschaft. Es muss doch aber auch in der Ukraine kritische Stimmen aus dem linken wie aus dem rechten Lager geben. Gibt es innenpolitische Debatten in der Ukraine und wie sehen diese aus?
Wegen des Kriegsrechts gibt es in den Massenmedien kaum Debatten. Öffentliche Diskussionen beschränken sich auf Korruptionsskandale in der Regierung, insbesondere bei der Beschaffung von militärischem Nachschub oder auffälligen Ausgaben. Eine Reihe von Regierungsbeamt*innen wurde deswegen gefeuert und Regierungsmitglieder dürfen nun das Land nicht mehr verlassen. Und dann gibt es Diskussionen um die Frage, ob russische Symbole und die russische Sprache im öffentlichen Raum verboten werden sollen. Solche Forderungen kommen vor allem aus der Zivilbevölkerung und weniger von staatlicher Seite, auch wenn aus Selenskyjs Umfeld einige laute Stimmen zu hören sind.
Die extreme Rechte geht im Kampfgeschehen auf und existiert als unabhängige politische oder militärische Kraft kaum mehr. Auf russischer Seite wiederum scheint sich zu wiederholen, was sich in der Ukraine 2014 nach Beginn des Donbas-Krieges abspielte: Quasi autonome militärische Einheiten wie Prigoschins Wagner-Gruppe und Kadyrows Kämpfer folgen eigenen politischen Ambitionen und einer ultranationalistischen oder ultrakonservativen Ideologie. Die ukrainische Armee dagegen wirkt einheitlicher, auch Truppen, deren Mitglieder einer ultrarechten Ideologie anhängen, sind in die Befehlsketten eingegliedert. Trotzdem sind manche ultrarechte Symbole und Slogans Teil der Zivilgesellschaft geworden, sie wurden als Teil der allgemeinen Kriegsmobilisierung normalisiert.
Die meisten linken Gruppen halten Forderungen, die Ukraine nicht länger mit den nötigen Mitteln zum Widerstand gegen den russischen Einmarsch zu versorgen, für wenig progressiv.
Die ukrainische Linke besteht aus mehreren Gruppen, die entweder als Intellektuelle primär Denkarbeit leisten oder sich ganz konkret für die Rechte von Arbeiter*innen und humanitäre Anliegen engagieren. Einige Linke haben sich freiwillig gemeldet oder wurden in die Armee eingezogen, von wo aus manche ihre intellektuelle Arbeit fortführen und weiterhin organisatorisch tätig sind. Natürlich geraten diese linken Gruppierungen von verschiedenen Seiten in Bedrängnis: Da wären die drohende russische Besetzung (die von allen im Land abgelehnt wird), die arbeiterfeindlichen und anti-sozialstaatlichen Reformen, die sogar in Kriegszeiten vorangetrieben werden, sowie die allgemein rechte Tendenz der Zivilbevölkerung.
Die meisten linken Gruppen halten Forderungen, die Ukraine nicht länger mit den nötigen Mitteln zum Widerstand gegen den russischen Einmarsch zu versorgen, für wenig progressiv. Die russischen Truppen würden schneller vorrücken und dabei ukrainische Soldaten und Zivilist*innen abschlachten, außerdem könnte es an der südlichen und westlichen Grenze der Ukraine zu einem Konflikt mit der NATO kommen. Es gibt eine kleine Untergrundbewegung, die die sofortige proletarische Revolution fordert – was den inter-imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln würde. Ich halte das für eine wohlfeile Pose, die mit einer rationalen Analyse der aktuellen Situation nichts zu tun hat.
Wie steht es um Russland? Hat die russische Bevölkerung noch die Energie, sich dem Krieg zu widersetzen – zum Beispiel durch Sabotageakte? Es gibt Berichte, wonach die Mobilmachung vor allem ethnische Minderheiten und arme Menschen trifft. Wehren sie sich dagegen, als Kanonenfutter für Putins imperialistische Ambitionen zu dienen? Was ist mit der russischen Arbeiter*innenklasse?
Wie es aussieht, ist die russische Gesellschaft mit Blick auf den Krieg und die Notwendigkeit, das eigene Leben dafür zu opfern, größtenteils einer Art düsterem Fatalismus verfallen. Putins Teilmobilisierung traf auf keinen nennenswerten Widerstand – was ich übrigens bereits wenige Tage nach ihrer Verkündung prognostiziert hatte. Die Proteste haben sich verflüchtigt und die Familien, die Verluste in der Ukraine zu beklagen haben, drängen zunehmend auf Rache.
Es gibt eine Minderheit von imperialistischen Nationalisten. Noch kleiner ist der Anteil, der sich gegen den Krieg wendet und der wurde durch anhaltende und brutale Repressionen zermürbt. Viele der Kriegsgegner*innen haben das Land verlassen. Proteste sind praktisch unmöglich geworden und die wenigen Sabotageakte zeigen keine Wirkung. Die russische Dissidenz im Ausland ist zersplittert und zerstritten.
Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass sich die ethnischen Minderheiten in Russland spürbar gegen die Regierung wehren oder Widerstand organisieren würden. Das gleiche gilt für die Arbeiter*innenklasse. Man kann zu diesem Zeitpunkt nicht einmal von Ansätzen einer Anti-Kriegs-Bewegungen in der Arbeiter*innenklasse oder unter den Minderheiten sprechen – falls es sie überhaupt jemals geben wird.
Wie hat der Krieg das Kräfteverhältnis in der Ukraine selbst verändert? Gibt es Teile der Elite, deren Einfluss zu- oder abgenommen hat?
Eine Tatsache darf nicht unerwähnt bleiben, auch wenn es sich eigentlich von selbst versteht: Am meisten leiden die Arbeiter*innen, sowohl hinsichtlich der Todeszahlen als auch was ihre Lebensperspektiven angeht. Um die kollektive ökonomische Macht ihrer Klasse steht es in der Ukraine, in Russland und in Belarus so schlecht wie nie. Strukturen, organisatorische Kapazitäten und ideologische Ressourcen sind praktisch nicht vorhanden.
In Russland mag ein Teil der Arbeiter*innen strukturell ein wenig an Macht gewonnen haben, wenn wir auf die militärisch relevanten Branchen schauen. Aber sie haben stark an organisatorischer und ideologischer Kraft eingebüßt, da der Staat die Zivilgesellschaft mit Terror in Schach hält. In Belarus ist die Situation noch schlimmer: Erst vor kurzem wurden Führungsmitglieder unabhängiger Gewerkschaften verhaftet, viele Aktivist*innen haben das Land verlassen.
In der Ukraine herrscht Kriegsrecht. Die Regierung kann ungehindert arbeiterfeindliche Gesetze erlassen, da Massenproteste nicht zu erwarten sind. Durch Kriegsschäden und hohe Arbeitslosigkeit ist die strukturelle Macht der ukrainischen Arbeiter*innen geschwächt. Ein Stück weit ist der Arbeitskampf noch möglich, aber nur in Form von Petitionen und Verhandlungen am Arbeitsplatz.
Die Kapitalist*innen haben allerdings auch verloren, denn in der Ukraine wurde fixes Kapital zerstört und Russland steht unter Wirtschaftssanktionen. Einzelne Kapitalist*innen konnten Verträge im Rahmen des militärisch-industriellen Komplexes ergattern, aber es wäre lächerlich, die Interessen einzelner Unternehmer*innen als treibende Kraft hinter dem Krieg zu sehen, wie manche Linke es tun. In Russland ist es weniger die Suche nach Profit, als vielmehr staatlicher Zwang, der Unternehmer*innen zur Erfüllung ihrer Verträge in diesem Bereich treibt.
Die einzige Gruppe, die als Gewinner aus dem Krieg hervorgeht, sind die militär-bürokratischen Eliten, die ein parasitäres Verhältnis zu Arbeiter*innen und produktiven Kapitalist*innen haben.
Insgesamt hat der Krieg die ehemals sogenannten «Oligarchen» in Russland wie in der Ukraine einiges an politischem Einfluss gekostet. In Russland sind sie nun völlig vom Kreml abhängig und in der Ukraine sind sie den Entoligarchisierungs-Maßnahmen zum Opfer gefallen, die von der Staatsspitze und den westlichen Alliierten vorangetrieben wurden.
Die einzige Gruppe, die als Gewinner aus dem Krieg hervorgeht, sind die militär-bürokratischen Eliten, die ein parasitäres Verhältnis zu Arbeiter*innen und produktiven Kapitalist*innen haben. Putins Entscheidung für einen umfassenden Krieg hat ihren Ausgang in diesen Kreisen. Sie sind nicht per se auf Anhäufung von Kapital aus, sondern auf Anhäufung von Herrschaftsgewalt, die langfristig gegen Kapital eingetauscht werden kann. Sie formen einen Machtblock und kooptieren ausgewählte Kapitalist*innen und Arbeiter*innengruppen.
Putins Narrativ eines historischen Auftrags sollte deshalb nicht einfach als ideologische Verschleierung niederer materieller Interessen gewertet werden. Im Gegenteil: Die Akkumulation territorialer Macht ist das ultimative materielle Interesse, dem unmittelbarere Kapitalakkumulation nachgeordnet ist.
Lass uns etwas über die Linke und die jüngsten Dekolonisierungsdebatten sprechen. Manche sehen eine Aufteilung Russlands langfristig als einzig mögliche Antwort auf den russischen Imperialismus. Andere wiederum wollen das Land demokratisieren und dezentralisieren. Aus meiner Sicht würde es die Sicherheit stark gefährden, sollte Russland in Chaos und Bürgerkrieg versinken. Das klingt vielleicht pessimistisch, aber ich bezweifle, dass die Arbeiter*innenklasse sofort die Macht übernehmen und eine Außenpolitik einläuten würde, die auf friedlichem Internationalismus und Selbstbestimmung beruht.
Der Dekolonisierungsdiskurs in der Ukraine und ihren Nachbarländern ist im Wesentlichen ein Kampf um symbolisches Kapital, der von Wissenschaftler*innen geführt wird, die sich mit dem postsowjetischen Kontext befassen. Seine Qualität lässt stark zu wünschen übrig und meist spielen kognitive Verzerrungen eine größere Rolle als rationale Argumente. Viele ukrainische Forscher*innen und solche, die sich mit der Ukraine befassen, verstecken ihre nationalistische Ideologie hinter einem dünnen Schleier aus antiimperialistischer Rhetorik. Dieser Trick funktioniert, solange sie als bemitleidenswerte Opfer und nicht als ernstzunehmende Kolleg*innen betrachtet werden.
Im Moment haben ukrainische Wissenschaftler*innen und solche, die sich mit der Ukraine befassen, Auftrieb. Sie versuchen, die alte Garde der Regionalwissenschaften – in der Regel auf Lehrstühlen sitzende westliche weiße Männer mit russischem Emigrationshintergrund – vom Sockel zu stoßen. Anstatt rationaler Argumente bringen sie «ukrainische Stimmen» ins Spiel, Stimmen, die sie aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder Herkunft zu repräsentieren meinen. Andere «Stimmen» müssen dann entsprechend heruntergeregelt werden.
Ich glaube aber, dass diese Zeit fast wieder vorbei ist. Es ist klar, dass künftig Forschungsgelder dafür fließen werden, Russland als Hauptgegner des Westens in der Region zu analysieren, ähnlich wie wir es aus der Zeit des Kalten Krieges kennen. Was hier zählt, sind echte Expertise und wissenschaftliches Ansehen – nicht das Raunen irgendwelcher «Stimmen». Die alten Regionalwissenschaftler*innen werden ein noch besseres Standing haben als zuvor – und mit ihnen vielleicht eine Gruppe junger ausgewanderter russischer Dissident*innen. Studierende werden sich für die russische Sprache, Kultur und Politik interessieren. Die Zeit wird zeigen, wie viele nicht russische oder nicht-russozentrische «Stimmen» dann noch gehört werden.
Was denkst du, wie das Ganze enden wird? Gibt es Raum für Verhandlungen und Kompromisse?
Nun ja, definiere «das Ganze» und «enden». Ich bin nicht sicher, ob es zu meinen Lebzeiten noch eine längere Phase des Friedens in der Ukraine geben wird. Höchstwahrscheinlich wird es in einigen Jahren zwischen den USA und China zu einer dramatischen Eskalation kommen und auf diesen Moment wartet die Führung in Moskau. China wird auf Russland angewiesen sein und Russland wird im Gegenzug sämtliche Unterstützung erhalten, die es sich wünscht. Das wird den Konflikt in der Ukraine neu entfachen, sogar wenn er zwischenzeitlich «eingefroren» sein sollte.
Die ukrainische Führungsriege muss die Grenzen von 1991 ins Spiel bringen, da diese in der ukrainischen Verfassung festgeschrieben sind. Alles andere würde als Verrat gelten inmitten des Krieges. Wie ernst sie es damit wirklich meint, ist Interpretationssache. Washington hat deutlich gemacht, dass es keinen Krieg um die Krim wünscht. Persönlich halte ich es für sinnlos, die Krim oder das Schicksal der besetzten Regionen wie des Donbas zu diskutieren, solange die ukrainische Armee nicht einmal in der Lage ist, zu diesen Gebieten vorzudringen.
Können wir trotzdem versuchen, uns eine – wenn auch noch so ferne – Nachkriegsukraine vorzustellen? Mal angenommen, China würde einen Waffenstillstand durchsetzen. Wie könnte ein Wiederaufbau aussehen? Wäre es ein neoliberaler Goldrausch oder aber eine Chance für die sogenannte internationale Gemeinschaft, ihre Solidarität unter Beweis zu stellen und etwas ähnliches zu leisten wie 1963 beim Wiederaufbau von Skopje?
Die völlige Zerstörung der ukrainischen Wirtschaft und die sozialen und psychischen Verwerfungen in der Gesellschaft sind eine Tatsache. Das wird mit der Zeit nur noch schlimmer. Was gerade als Wiederaufbau nach dem Krieg diskutiert wird, vermittelt keinerlei Hoffnung – diese Pläne klingen wie aus den 1990er Jahren. Wer kritische Analysen dieser Pläne lesen möchte, kann das auf Seiten wie OpenDemocracy and Commons tun. Dort findet man auch interessante Vorschläge für einen gerechten Wiederaufbau der Ukraine.
Höchstwahrscheinlich wird es in einigen Jahren zwischen den USA und China zu einer dramatischen Eskalation kommen und auf diesen Moment wartet die Führung in Moskau.
Was China angeht, so hege ich keinerlei Hoffnung, dass es ein gerechtes Ende des Krieges vermitteln würde – sprich: einen Vertrag im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen. Wenn wir uns die Interessen der chinesischen Eliten anschauen, wird klar, dass sie drei Ziele verfolgen: Die USA sollen ihre Aufmerksamkeit von Südostasien abwenden, eine Niederlage Russlands und sein möglicher politischer Kollaps müssen verhindert und die ökonomischen Bande mit Europa aufrechterhalten werden. Unter den gegenwärtigen Umständen scheint es logisch, dass China zuallererst sicherstellen will, dass Russlands Wirtschaft überlebt – falls nötig auch mit militärischer Unterstützung.
Die Aussagen der chinesischen Regierung zu friedlichen Verhandlungen sind voller Widersprüche und äußerst vage – was ganz gut zu den chinesischen Interessen in diesem Konflikt passt. Trotzdem: Ich verstehe alle, die versuchen, mit der chinesischen Führung ins Gespräch zu kommen und sie dazu zu bewegen, Einfluss auf Russland zu nehmen und den Konflikt zu entschärfen.
Gerade beobachten wir, dass nicht nur französische, sondern auch amerikanische Regierungsvertreter*innen einen Deal mit China erwägen, um dadurch etwas Einfluss auf den Kreml zu gewinnen. Dabei geht es aus meiner Sicht weniger um Frieden, denn das würde mit Moskaus und Beijings Interessen kollidieren. Es geht eher darum, die Gefährlichkeit des Kremls zu entschärfen. Mag sein, dass sich dieses Kräfteverhältnis mit der Zeit verschieben wird, je nach Situation auf dem Schlachtfeld.
China mag durchaus eine Vermittlerrolle bei einem Waffenstillstand zufallen, sollten beide Armeen ans Ende ihrer Kräfte kommen. Aber China könnte ebenso gut mit einem «Frieden» leben, der durch die vollständige Besetzung der Ukraine hergestellt wird. Allerdings halte ich ein solches Szenario in diesem Jahr noch für unwahrscheinlich und über die fernere Zukunft möchte ich nicht spekulieren.
Übersetzt von Tabea Magyar & Daniel Fastner für Gegensatz Translation Collective