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Interview mit dem Sozialwissenschaftler Peter Ullrich von der Universität Leipzig zur Antisemitismusdebatte in der Linkspartei

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Peter Ullrich,

Die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke hat einstimmig beschlossen, sich «weder an Initiativen zum Nahost-Konflikt, die eine Ein-Staaten-Lösung für Palästina und Israel fordern, noch an Boykottaufrufen gegen israelische Produkte noch an der diesjährigen Fahrt einer 'Gaza-Flottille' [zu] beteiligen.» Allerdings ging Medienberichten zufolge eine lautstarke Auseinandersetzung voraus, bei der Fraktionschef Gregor Gysi mit Rücktritt gedroht haben soll und mehrere Parlamentarier aus Protest den Saal verließen. Der Sozialwissenschaftler Peter Ullrich von der Universität Leipzig, der 2008 ein Buch über die Problematik veröffentlichte, sieht den Konflikt in der Partei noch nicht als beendet an.

Herr Ullrich, zur Zeit geistert die Linkspartei mit einem Antisemitismusstreit durch die Gazetten. Was hat es damit auf sich?

Peter Ullrich: Ende April tauchte auf einer Webseite der NRW-Linken ein antisemitischer Text auf, versehen mit einem Bild, in dem ein Hakenkreuz und Davidstern miteinander verwoben sind. In diesem Text wird unter anderem von einem «sogenannten Holocaust» als Erpressungsstrategie geredet. Die Medien haben dies dann publik gemacht.

Dabei wurde immer wieder auf einen bisher unveröffentlichten Text des Gießener Politikwissenschaftlers Samuel Salzborn und des Leipziger Historikers Sebastian Voigt hingewiesen, der belegen soll, dass es sich beim antizionistischen Antisemitismus um eine in der Linkspartei dominante Position handele. Dieser Text und Interviews mit seinen Verfassern geisterten dann durch die gesamte Presse und es kam sogar zu einer Anhörung im Bundestag.

Das Ganze steigerte sich schlussendlich zu einer regelrechten Hetze gegen die Linke, die so nicht unwidersprochen bleiben sollte. Denn mit dem linken Antisemitismus ist einerseits zwar ein reales Problem auch der Linken wieder einmal zur Recht aufs Tapet gebracht worden. Die «Argumente», die zu hören waren, waren aber teilweise haarsträubend und dies betrifft auch Teile der immer wieder zitierten Studie von Salzborn/Voigt.

Hat die NRW-Linke nicht behauptet, dass Davidstern wie Hakenkreuz mitsamt des antisemitischen Textes durch einen Cracker auf ihrer Webseite landete?

Peter Ullrich: Die Linke hat deswegen Anzeige erstattet. Man kann klar davon ausgehen, dass der antisemitische Text keine Position der Partei darstellt. Sie ist in ihrer Beschlusslage da ganz eindeutig: Kampf gegen den Antisemitismus, Anerkennung der historischen Besonderheit und somit auch klar des Existenzrechts Israels wegen der Shoah. Deswegen ist es auch schwierig, wenn die Linke im Bundestag, Süddeutscher Zeitung, FR usw. gesondert vorgeführt wird. Die Tiraden der anderen Parteien sind sehr verlogen angesichts solcher Personen wie Möllemann, Sarrazin, Hohmann und Karsli in den eigenen Reihen - ganz zu schweigen von den vielen Altnazis in Führungspositionen in der frühen CDU und FDP.

Wurde über die Anzeige in den Medien berichtet, die vorher die Linke des Antisemitismus beschuldigten?

Peter Ullrich: Über die Anzeige wurde eher am Rand berichtet. Das hätte es wohl erschwert, die Linke öffentlich so anzuklagen.

Nun hat die Debatte innerhalb der Linken zu einem Fraktionsbeschluss geführt, der Parlamentariern der Partei beispielsweise untersagt, an der diesjährigen Gaza-Solidaritätsflotte teilzunehmen. Ist das nicht ein wenig übertrieben?

Peter Ullrich: Es ist der Versuch einer administrativen Lösung der Widersprüche. Mich selbst würde mal interessieren, wie sie die Einstimmigkeit bei dem Beschluss erreicht haben. Dass nun alle über dieses Thema auch mit ihren Mitarbeitern reden sollen, wird meines Erachtens sehr unterschiedlich verlaufende Gespräche zur Folge haben.

Zu welchen Ergebnissen kommt denn die Studie von Salzborn/ Voigt und in welchem politischen Umfeld bewegen sich die beiden Wissenschaftler?

Peter Ullrich: Es wird behauptet, ein antizionistischer Antisemitismus wäre in der Linkspartei mittlerweile konsensual. Als Beleg dafür wird unter anderem die Beteiligung von Linken-Abgeordneten am der Gaza-Flotille im Jahre 2010 angeführt, die von einer Organisation durchgeführt wurde, die, wie Petra Pau es formulierte, in einem «pro-faschistischen Ruch» stehe. Zumindest einer der beiden Verfasser ist aktiv im BAK Shalom, einer antideutschen und radikal pro-israelischen Gliederung der Linksjugend. Das ist nicht verwerflich, erklärt aber die Vehemenz einiger Überzeichnungen und Unterstellungen in dem Text.

Inwieweit sind Sie in diese Debatte involviert?

Peter Ullrich: Meine Studie über die Linke und den Nahostkonflikt, Die Linke, Israel und Palästina wurde im Rahmen dieser Debatte - die ja alle überregionalen Medien aufgriffen haben - mehrfach zitiert. Während ich in dieser Studie aber eine komplexe Auseinandersetzung der Linken mit dem Nahostkonflikt und Antisemitismus beschreibe, die bisweilen auch zu einen Lernprozess und zu differenzierteren und komplexeren Positionierungen geführt hat, wurde sich da beliebig bedient.

Palästinafreunde nahmen sich die Kritik an den Antideutschen heraus, Israelfreunde die Kritik an antizionistischen Ausfällen beispielsweise der ehemaligen Linksruck-Mitgliedern (jetzt Marx21) in der Linken. Der Tagesspiegel zitiert mich so selektiv, dass man glauben könnte, Lafontaine stünde nach meiner Einschätzung am rechten Flügel der Linkspartei. Dabei gilt das nur für bestimmte Bereiche, insbesondere seine Positionen zum Iran und seine Äußerungen über «Fremdarbeiter». Andererseits steht er für die konsequenten linken Haltelinien: kein Stellenabbau im öffentlichen Dienst, kein Sozialabbau, keine Privatisierung, keine Kriegsbeteiligung. Er erweist sich damit vor allem als in sich auch widersprüchliche Figur.

Ist der Antisemitismus-Vorwurf nun reine Propaganda oder besitzt dieser Ihrer Einschätzung nach einen rationalen Kern?

Peter Ullrich: Antisemitismus ist trotzdem auch ein Problem, vor welchem Linke nicht gefeit sind. Lippenbekenntnisse, man sei gegen jede Form des Antisemitismus, können darüber nicht hinwegtäuschen. Antisemitismus hat in der politischen Linken aber andere Ursachen und Erscheinungsformen und resultiert hauptsächlich aus einer Überidentifikation mit den Palästinensern, die durch eine massive Freund-Feind-Logik gekennzeichnet ist. Diese ist wiederum an bestimmte linke Weltbilder leichter anschlussfähig, beispielsweise an den klassischen linken Anti-Imperialismus.

Inwiefern?

Peter Ullrich: Die antiimperialistische Linke erhoffte sich die soziale Revolution durch die Völker des Trikont und unterstützte deswegen nationale Befreiungsbewegungen, beispielsweise die PLO mit Nachdruck. Doch die weltpolitischen Rahmenbedingungen haben sich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks gewandelt und die Befreiungsbewegungen haben sich nicht als Motoren einer Entwicklung zum Sozialismus behauptet.

Außerdem gab es lange Diskussionen, in denen zumindest Teilen der Linken schmerzhaft bewusst wurde, dass man in seiner Identifikation zu weit gegangen war - im Falle des Nahen Ostens häufig zu einer Dämonisierung Israels und zu revisionistischem und antisemitischem Antizionismus, wenn es beispielsweise zu Gleichsetzungen Israels mit dem Nationalsozialismus kam. Und solche Kräfte gibt es auch heute auch, insbesondere im traditionellen außerparlamentarischen westlinken Milieu. Dabei sind vor allem zwei Einfallstore für den Antisemitismus problematisch: das unreflektierte Anlegen doppelter Standards (Israel wird härter in die Kritik genommen als andere) und die Allianzenbildung mit reaktionären Kräften.

Wie sieht das denn in der Linkspartei aus?

Peter Ullrich: In der Linkspartei spiegelt sich die ganze komplexe Gemengelage wieder. Es gibt traditionelle Antiimperialisten mit zum Teil harschem Antizionismus und Mittelpositionen aller Art genauso wie radikale Israelfreunde. Letztere sind zwar mit Sicherheit in einer absoluten Minderheitenposition, aber auch ein erster Beweis dafür, dass der von Salzborn/Vogt behauptete antisemitisch-antizionistische Konsens so nicht stimmt. Denn abgesehen von der klaren parteioffiziellen Beschlusslage gibt es verschiedene Gegenpositionen zum Antizionismus. Nicht zuletzt die Existenz des Arbeitskreises BAK Shalon steht dafür.

Gerade die staatstragenden ostdeutschen Reformer, die in die Regierungsverantwortung wollen, üben sich in Moderatheit gegenüber Israel. Gregor Gysi hat die Unterstützung Israels sogar zum Teil der deutschen Staatsräson erklärt. Ähnliches gilt für die libertären jüngeren Strömungen in der Partei. Von Konsens kann da keine Rede sein.

«Keine Rechtfertigung der fortdauernden Besatzung»

Genauso staatstragend wie Gysi geben sich auch Salzborn/Vogt, die ihren Aufsatz mit der Hoffnung abschließen, dass ein angeblich bisher bestehender Grundsatz der deutschen Politik gewahrt bleiben solle: keine Antisemiten als Koalitionspartner. Damit geben sie Ihrer Hoffnung Ausdruck, niemand möge mit der Linken koalieren. Falsch daran ist nicht der Anti-Antisemitismus, sondern die opportunistische Verklärung der Vergangenheit. Opportun ist sie deshalb, weil der denunziatorische Zug des Textes so offensichtlich ist.

Es ist schade, dass das von den beiden Autoren angesprochene real existierende Problem nicht angemessen behandelt wird, sondern holzschnittartig vereindeutigt wird. Gleiches gilt für die Reaktionen, beispielsweise in der jungen Welt, die angesichts der kruden und einseitigen Thesen der Autoren gar nicht erst wirklich gezwungen sind, sich zu fragen, ob diese zumindest einen rationalen Kern haben könnten. Entsprechend einfach ist dann auch die mediale Debatte gestrickt. Wenig reflektierte Vorwürfe gegen die Linke auf der einen Seite, Abwehr und absoluter Unwille zu einer kritischen Selbstreflexion auf der anderen.

Wie würden Sie denn den Umgang Israels mit den Palästinensern bezeichnen?

Peter Ullrich: Als Haarsträubend. Es gibt trotz allen historisch herleitbaren Verstehens für die Entwicklung der Situation keine Rechtfertigung der fortdauernden Besatzung und ihrer Ausweitung, beispielsweise durch immer neuen Siedlungsbau. Das ist auch mit keinem Sicherheitsargument zu begründen. Das deckt kein Völkerrecht, keine Ethik, nichts. Die Besatzung palästinensischen Landes, die Einsperrung seiner Bevölkerung, ihre politische und wirtschaftliche Entrechtung - all das ist zuvörderst Resultat israelischer Politik.

Israel hält die wesentlichen Mittel in der Hand, dies zu ändern, niemand sonst. Diese Situationsdeutung darf aber nicht dazu führen, die Palästinenser auf eine Rolle als passive Opfer und bloße Spielbälle der Weltgeschichte zu reduzieren und deswegen mitleidvoll-paternalistisch alles palästinensische gutzuheißen. Genau das aber tun viele Unterstützer der Palästinenser - und deshalb sind sie dann sehr zurückhaltend in ihrer Kritik an innerpalästinensischen Entwicklungen und reaktionären Akteuren wie der Hamas. Das darf aber nicht sein.

Gibt es ihrer Ansicht nach eine Möglichkeit Israel zu kritisieren, die von vornherein nicht vonseiten der Medien als potenziell antisemitisch denunziert werden kann?

Peter Ullrich: Man muss es einfach tun - was die Medien aus Äußerungen machen, darauf hat man keinen Einfluss. Bei den aktuellen Reaktionen der so genannten Qualitätspresse wird auch eine gehörige Portion des alten bundesdeutschen Antikommunismus deutlich - es geht also nicht nur um Erinnerungspolitik und Befindlichkeiten. Aber man kann, soll, muss sich bemühen, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass man, wenn man kolonialistische, rassistische, expansionistische et cetera Tendenzen der israelischen Politik kritisiert, immer mit bedenkt, dass

  • man keine anderen Maßstäbe an Israel anlegt als an andere auch oder noch besser: die Maßstäbe, die man an Israel anlegt, auch auf andere anwendet,
  • israelische Menschen wie auch die Palästinenser ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, Entwicklung, Selbstverwirklichung, kurz: Leben haben
  • man nicht Jüdinnen und Juden für die Politik Israels in Haftung nimmt
  • man die Politik Israels nicht mit dem Nationalsozialismus gleichsetzt, weil das schlichtweg Blödsinn ist.

Oder kurz: die Kritik muss sich immer Fragen, ob sie noch Missstände kritisiert oder schon unhinterfragte Feindbild-Ideologie geworden ist. Wenn dies immer beachtet würde, wären wir einen bedeutenden Schritt weiter.

Das Interview führte Reinhard Jellen, es wurde am 11. juni 2011 bei Telepolis veröffentlicht.