Der Sozialismus ist tot! Es lebe der Sozialismus! Mit diesen beiden Sätzen lässt sich ein Paradoxon formulieren, dass jede Diskussion über Sozialismus in der Gegenwart prägen muss. Der Sozialismus als reale historische Bewegung größerer sozialer Gruppen entstand vor über 200 Jahren in England und Frankreich. Wenn Sozialistinnen und Sozialisten zurückblicken, dann sehen sie strahlende Neuansätze in wahrhaft dunklen Zeiten, die bis heute Licht werfen bei der Erkundung neuer Lebensmöglichkeiten, neuer gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Verhältnisse, einer neuen Beziehung zur Natur. Und sie sehen im schwarzgrauen Licht auf Verzweiflung, auf Zerstörung, auf Lager und auf Mauern. Daraus kann keine aufsteigende Spirale konstruiert werden mit der Hoffnung, dass die Größe der Niederlage ein noch größeres Siegesversprechen enthalte. Zugleich ist Sozialismus ganz offensichtlich nicht tot zu kriegen. Auch die schlimmsten selbstverschuldeten Zusammenbrüche führen nicht dazu, dass Sozialismus nicht wieder durch diese oder jene gesellschaftlichen Kräfte auf die Tagesordnung gerückt wird. Man kann es mit Ann Pettifor auch so auf den Punkt bringen: «Wir können als Ziel wählen zu überleben. Aber damit wir überleben, muss sich alles ändern. Wirklich alles.» Mit dem Wort Sozialismus wird die Systemqualität der Veränderung von Allem auf den Begriff gebracht. Nur gilt es, diesen Begriff neu zu bestimmen.
Prof. Dr. Michael Brie ist Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung und forscht u.a. zu Theorie und Geschichte des Sozialismus und Kommunismus.
In dem Maße, wie die Grenzen des Kapitalismus wieder mit aller Härte deutlich geworden sind, Kapitalismus zu Kriegs- und Katastrophenkapitalismus wird und der Rausch nach dem vermeintlichen Sieg über den Sozialismus am Ende des Kalten Krieges verflogen ist, hat auch die Diskussion über Sozialismus wieder Konjunktur. Schreiende soziale Polarisierung, die ökologische Katastrophe und die Folge immer neuer ökonomischer Krisen sowie neue Kriege und Militarisierung der internationalen Politik sind die Zeichen an der Wand. Viele Linke teilen die Ansicht von Bhaskar Sunkara: «Die letztliche Antwort auf die Frage ‚Warum Sozialismus‘ ist einfach: Er wäre die beste Garantie des Friedens.» Sozialismus wird als Friedensbotschaft verstanden – Frieden von Menschen, Frieden von Staaten miteinander, Frieden auch mit der Natur. Ein anderes Wort für diesen Frieden ist Solidarität, denn kapitalistische Konkurrenz und Krieg scheinen erneut eine Einheit zu bilden.
Die Niederlagen der Linken seit den 1970er Jahren, ihre Unterordnung unter den Neoliberalismus und finanzialisierten Kapitalismus hängt auch damit zusammen, dass sie in ihrem Versuch, neue libertäre emanzipatorische Durchbrüche zu erreichen, nicht vermocht hat, gleichzeitig auch das kommunistische Erbe zu erneuern. Dieses Erbe und die mit ihm verbundenen Ansätze einer kommunistischen Partei, des Gemeineigentums, des Gemeinwillens und von Gemeinschaftlichkeit fielen dem Verdikt von Totalitarismus und Autoritarismus zum Opfer. Linke Bewegungen, die dem Kommunistischen abschwören hören auf, links zu sein und werden zu einer subalternen Spielart des Liberalismus.
Es ist im Zeitalter des neuen Krisen-, Katastrophen- und Kriegskapitalismus kein Zufall, dass eine neue Sozialismusdiskussion in den politisch-öffentlichen Raum drängt. Die Zeit des Verstummens nach dem «seltsamen Tod des Sozialismus» (Ralf Dahrendorf) ist vorbei. Dies aber verlangt, sich auch der Frage nach dem Begriff von Sozialismus neu zu stellen. Jede Epoche des Kampfes zur Überwindung des Kapitalismus braucht ihr eigenes Verständnis von Sozialismus. Es reicht nicht, sich bewusst zu machen, dass Gesellschaften, die von Kapitalverwertung dominiert werden, ein gutes Leben für alle unmöglich machen. Ernst Bloch hat die Bedeutung von Begriffen für eine emanzipatorische transformatorische Praxis noch fundamentaler auf den Punkt gebracht: Er selbst betonte die Bedeutung klarer Begriffe für ein zielgerichtetes Handeln: «So hat das genaue kategoriale Denken zwar das erste und auf langhin das zeitgemäße wie allemal räumende Wort, aber auftragsgemäß nicht das letzte, als welches Handeln heißt, Verändern. Kein Verändern aber geschieht ohne Begriff, dieser ist der Generalstab gerade der Umwälzung und also der möglichen Ankunft, damit sie nicht woanders ankomme als in dem Meinen des Rechten gemeint.»
Die Neubegründung des Sozialismus ist auch deshalb aktuell, weil nur dann erfolgreiche Bewegungen im Kapitalismus über ihn hinaus möglich sind, wenn die sozialistischen Bewegungen den Widerspruch zwischen dem Liberalen und dem Kommunistischen in sich aufnehmen. Wenn sie die Freiheit der Einzelnen und ihre Persönlichkeitsentwicklung verteidigen, brauchen sie den Kampf für das Gemeinschaftliche. Und wenn sie für das Gemeinschaftliche kämpfen, müssen sie die Freiheit der Einzelnen verteidigen. Die Flucht vor den darin liegenden Widersprüchen ist die Flucht aus jeder realen, den Kapitalismus überwindenden Bewegung. Die Lust an der Freiheit und der Genuss des Gemeinschaftlichen, das Recht der Einzelnen und die Pflicht gegenüber Gemeinschaften gehören untrennbar zusammen. Sie zu verbinden, ist schwierig, oft schmerzvoll, verlangt Kompromisse. Aber aus den Gegensätzen erwächst, wenn sie emanzipatorisch und solidarisch gehandhabt werden, jene sozialistische Bewegung, die den jetzigen kapitalistischen Zustand aufzuheben vermag. Die Linke hat eine Zukunft, wenn sie sich dieser beiden emotionalen, normativen, theoretischen und philosophischen Quellen des Sozialismus bewusst wird und aus ihnen beiden in ihrer Widersprüchlichkeit die Kraft schöpft, die Kämpfe gegen Kriege, Umweltzerstörung und soziale Spaltung selbstbewusst zu führen.
Wenn es eine «Lehre» aus der Geschichte gibt, dann ist es die, dass nichts gefährlicher ist, als die Illusion, den Widersprüchen emanzipatorischer Bewegungen entkommen zu können. Dies ist eine grundfalsche Utopie. Sie verdummt, macht denkfaul und aggressiv gegen jeden, der ein Widerwort erhebt. Sie ist Opium der Linken. Es ist keineswegs der Ausdruck von Radikalität, sich den Widersprüchen von Emanzipation auf dem Weg zu einer nachkapitalistischen Gesellschaft zu verweigern. Die heutigen Widersprüche sozialistischer Bewegungen weisen auf die Widersprüche in der Zukunft hin und umgekehrt nehmen sie diese vorweg. Wer sich der Komplexität dieser Widersprüche verweigert, verweigert sich einer wirklich revolutionären Realpolitik im Sinne von Rosa Luxemburg. Der Charakter von Widersprüchen sozialistischer Bewegungen, die Nah- und Fernziel vermitteln, kann sich ändern mit den Epochen, in denen sie sich formieren. Die Umgangsweise mit Widersprüchen des Sozialismus in der Linken muss sich ändern, wenn die Linke in der Krise ist. Jeder Versuch, Widersprüchen zu entkommen, ist zum Scheitern verurteilt, weil in den Widersprüchen die Quelle jedes Lebens steckt.
Um den Begriff von Sozialismus, den die sozialistische Linke heute braucht, in einem einzigen Satz auszudrücken: Sozialismus ist die solidarische Austragungsform zwischen den Freiheitsansprüchen der Einzelnen und den kommunistischen Fundamenten in modernen komplexen Gesellschaft mit dem Ziel, Menschen ein erfülltes Leben in Verantwortung füreinander in einer an Möglichkeiten reichen Welt zu ermöglichen. Dabei stehen die im Zentrum, die besonders benachteiligt sind. Die Verbesserung ihres Lebens ist das Maß sozialistischer Politik. Ziel ist es, die Antagonismen des Kapitalismus, in denen die Entwicklung der Einen nur auf Kosten der Anderen erfolgt, hinter sich zu lassen. Dies ist keine «Versöhnung» von Liberalismus und Kommunismus durch Abschleifung ihrer Gegensätze, sondern die anstrengende und oft harte Austragung genau dieser Gegensätze mit sozialistischer Zielrichtung. Die berechtigten Anliegen dieser beiden großen Strömungen der Neuzeit müssen bewahrt werden. Dies verlangt das Auffinden und Durchsetzen jener gesellschaftlichen Formen, in denen sie solidarisch bearbeitet werden können. Und nichts anderes ist Sozialismus verstanden als «wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt» (Karl Marx und Friedrich Engels).