Irgendwie kann das gar nicht wahr sein. Entweder zu schön, um wahr zu sein, oder zu krass, um schön zu sein. Was ist da mit SYRIZA passiert? Wohin geht die Reise mit dem unbekannten neuen Parteichef und Tsipras-Nachfolger Stefanos Kasselakis, der quasi aus dem Nichts auftauchte und im Sturmschritt innerhalb von drei Wochen SYRIZA auf Vorsitzenden-Suche von Innen aufrollte.
Viele sahen die große Oppositionspartei SYRIZA mit Gallionsfigur Alexis Tsipras in der endlosen Vorwahlzeit seit Mitte 2022 am Aufholen und der regierenden, skandalgebeutelten Nea Dimokratia (ND) von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis gefährlich werden. Zeitweise kam SYRIZA in manchen Umfragen auf wenige Prozentpunkte an ND heran. Das Erwachen aus diesen Wunschträumen war böse: in zwei Wahlgängen wurde SYRIZA deklassiert, stürzte auf zunächst 20 Prozent in den ersten Wahlen im Mai und nochmals um einige Prozentpunkte in der folgenden im Juni. Statt einer vereinigten Linken – auch Varoufakis MeRa kippte aus dem Parlament – tummeln sich nun noch vier überaus unappetitliche Rechtsaußen- oder, bezogen auf die «Spartaner», sogar faschistische Parteien in der griechischen Volksvertretung. Mitsotakis hat mit satter Mehrheit freie Bahn. Ein Alptraum selbst für die ärgsten Kritiker Tsipras‘ und SYRIZA's.
Friedrich Burschel ist Leiter des griechischen Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Athen.
Tsipras musste gehen. Die schwer angeschlagene Partei und ihr Personal musste sich nun «kopflos» neu erfinden. In einem Land, in dem Parteien nach wie vor stark von den Führungsfiguren, meist Männern, bestimmt werden, eine Frage der richtigen Wahl. Niemand hatte jedoch einen Newcomer auf dem Zettel, der wie frisch aus Barbieland noch die letzte Hoffnung zu zerstreuen schien, es handle sich um die Führung einer sozialistischen Partei. Der einstige hoch begabte Mathe-Fex startete eine Karriere in den USA, die ihn in die Finanzsphäre führte, als Investmentbanker dann ausgerechnet zu Goldman Sachs, das in der Finanzkrise eine – nun ja – unrühmliche Rolle spielte. Er häufte ein Millionenvermögen an, sieht blendend aus, eine dauerlächelnde Lichtgestalt, ein eloquenter Charmebolzen mit viel Ausstrahlung und durchaus auch erfrischender Chuzpe, die bisweilen jedoch auch im Fettnapf landet. Er meldete sich am 29. August zum Rennen um den Parteivorsitz an, schon im ersten Wahlgang am 17. September ließ er die Favoritin aus dem Parteiapparat, Effie Achtsioglu, alt aussehen, und entschied am 24. September die Stichwahl mit über 56 Prozent eindeutig für sich.
Warum haben die Parteimitglieder sich so eindeutig für diese (im Wortsinn) blendende, aber letztendlich ungewisse Option entschieden. Niemand kennt den Mann richtig, auch wenn es heißt, er sei Tsipras‘ Mann im Rennen gewesen. Das könnte plausibel sein, denn niemand konnte tatsächlich erwarten, dass der vom Wahlvolk düpierte, durchaus eitle Tsipras einfach so sang- und klanglos verschwinden würde. Ob er seine zum Teil durchaus linken Forderungen (gegen Korruption in der Justiz, gegen Wehrpflicht, für Besteuerung der Reichen) in den verkrusteten Strukturen der Partei auch umsetzen kann und ob er seine «Volknähe» durchhalten wird, ist ungewiss. Dem angeblich geläuterten Kapitalisten nimmt man seine Ankündigungen nicht so ganz ab. Er könne doch nur deshalb so überzeugt gegen den Finanzsektor auftreten, weil er dieser Welt erfolgreich angehört habe, erwidert er Zweifelnden. Die größten Kritiker der Elche…
Er ist weiter im Big Business aktiv, hat eine eigene Reederei. Kein Medium versäumt es, ihn einen «Golden Boy« zu nennen und seinen Erfolg als Self-made-Millionär zu erwähnen. Aber was hat das mit einem linken Aufbruch zu tun? Kasselakis, der als junger Mann Anfang der Nuller Jahre in Bidens Vorwahlteam mitmischte, scheint viel mehr eine Figur aus dem US-Wahlkampf zu sein, wo die Selbstinszenierung inklusive schwulem Bekenntnis ebenso zur Show gehört wie der wirtschaftliche, familiäre und politische Erfolg. Sein Eintreten für die LGBTQIA+-Community könnte im konservativen Griechenland immerhin einen Quantensprung auslösen.
Aber passt das alles wirklich in die Umgebung dieser leicht angestaubten Partei, die sich seit Jahren um ein Eingeständnis der original sin von 2015 drückt, als Tsipras zum «Oxi» blinkte und dann zum «Nai», der Vollerfüllung des Austeritätsdiktats der Troika, abbog. Die Versuche, sich als echte Alternative zur stockkonservativen, tendenziell autoritären Nea Dimokratia auf Orbanisierungskurs selbst neoliberal zu sozialdemokratisieren, sind mit dem Wahldesaster endgültig gescheitert. Wenn es je etwas grundstürzend Sozialistisches bei SYRIZA gab, ist es allenfalls noch eine blasse Erinnerung. Wird sie dieser erfolgverwöhnte Sunnyboy zu neuen Ufern und – wie von ihm vollmundig verkündet – zur Regierungsübernahme führen? Oder wird er als leichte Beute in Kürze von den regierungsnahen Mainstreammedien geschlachtet? Mag der Vergleich mit Blick auf Charisma und Glamour auch hinken, scheint doch die Frage berechtigt, ob hier nicht ein griechisches «Wunder von Würselen» passiert, ein kernigerer Martin Schulz sich anschickt verhängnisvolle Fahrt aufzunehmen...