Interview | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Koalition ohne Fortschritt «Nach wie vor ist die Finanzpolitik neoliberal»

Ungleichheitsforscherin Martyna Linartas bewertet die Politik der Ampel

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Ungleichheitsforscherin Martyna Linartas
«Ich bin bitter enttäuscht. Olaf Scholz und Robert Habeck haben im Wahlkampf gesagt, es gehe ihnen um Gerechtigkeit, Klima und Soziales und um Respekt.» Martyna Linartas, Foto: privat

Dr. Martyna Berenika Linartas forscht zum Thema Ungleichheit und Vermögen. Aktuell untersucht sie die verschiedenen Narrative von «deserving rich» und die (Re-)Produktion von Reichtum in Deutschland. Sie ist Co-Gründerin und Projektleiterin von ungleichheit.info.

Mit ihr sprach Eva Völpel, Referentin für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung, über die neoliberale Finanzpolitik der Ampel, Kommunikationsstrategien der Lobby des großen Geldes und Mythen der Steuerpolitik.
 

Eva Völpel: Es gibt sehr viele Zahlen, um Ungleichheit in Deutschland zu beschreiben. Was sind für Sie die prägnantesten?

Martyna Linartas: Die prägnanteste Zahl ist für mich, dass zwei Familien mehr Vermögen besitzen als die gesamte ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung, also als 41,5 Millionen Menschen. Ein anderes gutes Beispiel, um sich das Ausmaß von Überreichtum klar zu machen, funktioniert so: Man bildet auf einem DIN-A4-Blatt den Reichtum ab. Menschen mit 50.000 Euro oder weniger haben auf solch einem Blatt den unteren einen Zentimeter, Menschen mit 1,5 Millionen Euro wären ganz oben am Blattrand. 99 Prozent der Deutschen wären auf diesem Blatt darzustellen. Die reichsten Deutschen aber haben mit 40 bis 50 Milliarden Euro so viel Vermögen, dass sie zehn Kilometer über diesem Blatt schweben.

Die Ampelregierung wollte dieses Land sozialer machen. Welche Bilanz ziehen Sie nach zwei Jahren der Regierung?

Ich bin bitter enttäuscht. Olaf Scholz und Robert Habeck haben im Wahlkampf gesagt, es gehe ihnen um Gerechtigkeit, Klima und Soziales und um Respekt. Aber nach wie vor ist die Finanzpolitik neoliberal, verteilt man von unten nach oben um und stellt Steuern insgesamt als eine Last dar. Wir bräuchten dringend einen Paradigmenwechsel. Stattdessen sagt Robert Habeck Mitte Dezember, der Koalitionskompromiss zum Haushalt sei die einzig denkbare Antwort. Das erinnert stark daran, was Margret Thatcher immer sagte: There ist no alternative. Damit macht sich die Politik kleiner als sie sein könnte. Soziale Fragen und Klimafragen bekommen nicht die Priorität, die sie brauchen.

Wie müsste man umsteuern?

Wenn man in kleinen Schritten denken möchte, würde ich zuerst einmal erprobte Instrumente anwenden. Stichwort Sondervermögen. Wir brauchen ein Sondervermögen für das Klima, eines gegen Kinderarmut und eines für die Bildung. Und wir müssen weg vom Mantra, es dürfe keine Steuerhöhungen geben. Wir haben den Krieg, wir haben Krisen. Und wir sehen, dass selbst in den allergrößten Krisenzeiten die Reichen immer reicher werden und die Armut auf Rekordhöhen steigt. Das ist völlig absurd. Wir müssen auf die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft hören und die Dinge vom Ziel her denken: Was brauchen wir, um die Demokratie zu stärken, also was braucht die Gesellschaft für einen größeren Zusammenhalt, was brauchen diejenigen, die gerade am meisten Hilfe benötigen, aber was braucht es auch für die Stärkung des Mittelstandes? Dann müssen wir alles vom Kopf auf die Füße stellen. Vom Ziel her gedacht würde es helfen, den Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer zu erhöhen, die Erbschaftsteuer zu reformieren und die Vermögensteuer wiedereinzusetzen.

Wir müssen stärker mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die am Status quo festhalten möchten.

Es ist ein Phänomen, dass sich viele Menschen in Umfragen immer wieder mit großer Mehrheit für eine höhere Besteuerung von Vermögenden aussprechen, aber im politischen Raum nichts davon durchdringt. Warum?

Es gibt ein wichtiges Papier «Why is it so difficult to tax the rich». Danach sind vor allem die langanhaltenden Kommunikationsstrategien der Lobby des großen Geldes so entscheidend. Wir sehen zum Beispiel, dass die Stiftung Familienunternehmen Millionen dafür einsetzt, um ihre Milliardenprivilegien zu erhalten. Wir brauchen also eine langanhaltende Kommunikationsstrategie aus der Zivilgesellschaft.

Es gibt etliche Organisationen, die das Thema Ungleichheit in den letzten Jahren stärker skandalisieren. Sehen Sie Erfolge dieser Arbeit?

Eine Untersuchung von Moritz Gartiser zeigt, dass in den Medien bis 2021 die negativen frames mit Blick auf die Erbschaftsteuer überwogen haben und sich erst seit Kurzem eine Balance zwischen negativen und positiven frames herstellt. Es gibt also einen Wandel in den Debatten, und den müssen wir durch Aufklärung und Kommunikation weitertreiben. Ein Problem ist auch, wie sich Arme und Reiche wahrnehmen. Viele zählen sich zur Mittelschicht, siehe etwa Friedrich Merz, der zwar im Privatjet herumfliegt aber meint, er gehöre zur oberen Mittelschicht. Das ist problematisch, weil es darauf ankommt, ob Menschen Ungleichheit überhaupt sehen. Wenn wir es schaffen, diese Informationen noch viel breiter in die Gesellschaft zu tragen, dann sehe ich durchaus Chancen dafür, dass der Druck Richtung Umverteilung wächst. Aber es braucht natürlich auch mutige, integere und progressive Politiker – die ich vermisse. Wir sprechen immer davon, dass Christian Lindner und die FDP in der Ampel der Bremsklotz seien. Aber was ist mit Habeck und Scholz? Wenn Scholz das mit dem Respekt für die Menschen ernst nehmen würde, könnte er auf den Tisch hauen und sagen, so geht es nicht weiter. Es geht bei Fragen der extremen Ungleichheit ja nicht nur um soziale Belange, sondern auch um die Wirtschaft, wie mittlerweile auch die Weltbank, der Internationale Währungsfonds oder das World Economic Forum feststellen. Wir sehen diese Erkenntnis auch in den USA, wo man den Schluss zieht, dass die angebotsorientierte, neoliberale Politik nicht funktioniert. Die Wirtschaft voran bringen durch weniger Ungleichheit und mehr Investitionen, das wäre auch im Sinne der FDP.

Es kommt darauf an, dass Menschen Ungleichheit überhaupt sehen.

Wenn wir über Ungleichheit sprechen, müssen wir über Steuermythen sprechen, etwa wenn es um eine Reform der Erbschaftsteuer geht.

Absolut! Wir brauchen viel mehr Aufklärung über Mythen und müssen stärker mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die am Status quo festhalten möchten, indem sie solche Mythen verwenden. Das perfide ist, dass die Lobbyisten des großen Geldes es durch ihre Kommunikation schaffen, uns allen das Gefühl zu geben, wir seien die Leidtragenden von Reformen. Stichwort Erbschaftsteuer. Oft wird von Gegner*innen der Erbschaftsteuer so getan, als wenn Omas Häuschen bedroht sei. Aber seit 2009 ist das Familienheim explizit von der Erbschaftsteuer ausgenommen. Trotzdem stellt sich Markus Söder hin und behauptet das Gegenteil. Es kann nicht sein, dass ein Politiker mit solchen Lügen davonkommt.

Da spielen nicht zuletzt Medien eine Rolle, die teilweise solche Behauptungen unkritisch weitertragen. Manche willentlich, andere, weil sie nicht gut genug in den Themen stecken.

Wir brauchen auch mehr Aufklärungsarbeit in Richtung Journalismus. Die Medien sind die vierte Macht im Staat. Es ist elementar, dass sich die Journalist*innen mit so einem wichtigen Thema wie Ungleichheit fundiert auseinandersetzen. Ich war wirklich baff, als der Spiegel Söders Behauptung zur Erbschaftsteuer und dem Familienheim unkritisch übernommen hat. Ein anderes Beispiel ist das typische Ablenkungsmanöver, von Einkommensungleichheit zu sprechen, wenn es eigentlich vor allem um Vermögensungleichheit geht.

Gerne wird auch behauptet, eine höhere Besteuerung von Betriebsvermögen bedrohe Arbeitsplätze oder Unternehmen würden dann abwandern.

Ja, das ist eines der am häufigsten benutzten Narrative. Dabei hat bereits 2012 der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium explizit gesagt, das entspreche nicht der Wahrheit. Empirisch ist kein einziger Fall bekannt, bei dem aufgrund der Erhebung der Erbschaftsteuer auch nur ein Arbeitsplatz verloren gegangen wäre. Auch die OECD hat das mit Blick auf die OECD-Staaten untersucht und kommt zum gleichen Ergebnis. Es gibt nichts, was dieses Narrativ belegt. Es ist ein Mythos. Im Übrigen zeigt sich, dass gerade die Privilegierung der Erben von großen Betriebsvermögen Strukturen schafft, die Arbeitsplätze gefährden. Denn nicht immer ist der Familienerbe der beste Manager.

Und das Argument der Verlagerung?

Es gibt einzelne Fälle, anekdotische Evidenzen von überreichen Menschen, da findet so etwas statt, etwa im Fall Klaus-Michael Kühne, der in die Schweiz ausgewandert ist. Aber grundsätzlich zeigen Studien, dass diese Verlagerungen im Großen und Ganzen nicht stattfinden. Und wenn, dann hat man auch dagegen politische Instrumente. Man kann Steuern daran koppeln, wo der Umsatz gemacht wird und nicht daran, wo der Hauptsitz der Firma ist. Diese Überlegungen spielen etwa bei Konzepten gegen Briefkastenfirmen eine wichtige Rolle. Man kann auch die Steuererhebung an die Staatsangehörigkeit koppeln. Oder man legt fest, dass Menschen, die Jahrzehnte von der Infrastruktur dieses Landes profitiert und hier ihren Wohlstand aufgebaut haben, nicht einfach durch einen Umzug dem Steuersystem entfliehen können, sondern genauso lange oder länger hier noch Steuern zahlen müssen. Man kann auch lange Stundungsfristen von zehn oder fünfzehn Jahren gewähren, wenn die Erbschaftsteuer tatsächlich nicht sofort aufgebracht werden kann und der Staat kann in solchen Fällen zudem durch eine stille Beteiligung in ein Unternehmen eintreten und so verhindern, dass es an den Meistbietenden im Ausland verkauft wird. Steuerpolitik fällt nicht vom Himmel, man kann sie gestalten. Die Gerechtigkeitsfrage dabei ist elementar.

Neben den angesprochenen Steuerreformen gibt es auch die Idee eines Grunderbes. Der Ökonom Thomas Piketty hat vor einigen Jahren vorgeschlagen, jeder junge Mensch solle im Alter von 25 Jahren ein Grunderbe von 60 Prozent des nationalen Durchschnittvermögens erhalten. Für Deutschland wären das etwa 120.000 Euro. Eine gute Idee?

Ich bin ein sehr großer Fan dieses Konzepts. Weil es nicht nur darum geht, die Reichen endlich gerechter zur Kasse zu bitten, sondern auch darum, Vermögensbildung zu unterstützen. Das Forum New Economy hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung verschiedene Instrumente darauf untersucht, wie diese die Vermögensungleichheit reduzieren. Ein Grunderbe würde mit Abstand die deutlichste Reduzierung der Ungleichheit bewirken. Wir sind eines der reichsten Länder der Welt, wir können uns das leisten. Wobei Piketty das Geld an Bedingungen geknüpft, erst im Alter von 25 auszahlen will. Sein Lehrer, Anthony Atkinson, hat das wundervolle Buch «Inequality. What can be done» geschrieben. Er plädiert dafür, das Geld schon zur Geburt des Kindes auszuzahlen. Das finde ich noch besser. Denn Probleme der Ungleichheit beginnen nicht erst mit 25. Wir haben in Deutschland eine unfassbar niedrige soziale Mobilität, nur die USA stehen laut einem Bericht der OECD von 2018 noch schlechter da. Hierzulande braucht es sechs Generationen, um aus der Armut zu einem Durchschnittseinkommen zu gelangen. Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut und bei den Alleinerziehenden, vor allem Frauen, sind sogar vier von zehn Kindern von Armut bedroht. Da würde ein Grunderbe viel helfen, um Kindern, die nichts dafür können, in welche sozio-ökonomische Situation sie geboren werden, langfristig zu helfen. Daneben brauchen wir natürlich auch große Investitionen in den Bildungssektor.

Ein Grunderbe für jeden würde viel Ungleicheit abbauen.

Schauen wir noch auf ein anderes strukturelles Problem. Die Vermögensungleichheit, das heißt der Luxuskonsum und die Investitionsentscheidungen der Überreichen, befeuern die Klimakrise. Welche Lösungen schlagen Sie vor?

Ich bin sehr dankbar für diese Frage, denn wir müssen noch viel stärker die Themen Ungleichheit und Klima verknüpfen. Um noch unter dem 2-Grad-Ziel zu bleiben, müssten wir weltweit pro Kopf unter drei Tonnen CO2 ausstoßen. In Europa sind wir bei rund sechs Tonnen pro Kopf. Aber wenn wir auf das reichste ein Prozent in der Welt schauen, dann sehen wir, dass diese Menschen im Schnitt 48 Tonnen CO2 pro Jahr ausstoßen. Und beim Multimilliardär Abramowitsch sind es sogar 22.000 Tonnen. An diese Gerechtigkeitsfrage müssen wir ran, denn einige wenige tragen extrem hohe Verantwortung für die Klimakrise. Die Antwort sollte sein, dass wir auch hier mit Steuern gegensteuern. Jeder darf ein gewisses Kontingent CO2 ausstoßen und alles darüber wird extrem progressiv und extrem hoch besteuert. Wirklich so, dass es Klimasünder richtig schmerzt – aber der Rest dafür aufatmen kann.