Der Text ist ein Vorabdruck aus dem in Kürze erscheinenden Buch «Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft». Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin ein Projekt zu Antisemitismusverständnissen initiiert («Antisemitismus definieren», Projektleitung: Peter Ullrich, Klaus Holz und Uffa Jensen). Aus diesem resultierte neben einer Handreichung für die politische Bildungsarbeit insbesondere ein umfassendes Handbuch, das am 31.1.2024 erscheint. Grundbegriffe, zentrale Problemfelder und prominente Positionen der Antisemitismusforschung werden darin knapp und einführend erläutert.
Antisemitismus ist als Wort in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts populär geworden[1]. Es taucht zum ersten Mal in einem Bericht über eine Veranstaltung eines deutschen Vordenkers des Antisemitismus, dem Journalisten Wilhelm Marr, auf. Die nun einsetzende, erstaunlich schnelle Verbreitung des Begriffs verweist auf das Bedürfnis nach einer neuen Bezeichnung für die schnell wachsende judenfeindliche Bewegung der Zeit. Dies war aber auch möglich, weil sich die Bezeichnung zur Markierung des Fremdbildes einer bereits etablierten sprachwissenschaftlichen Vorstellung von «semitisch» bedienen konnte.[2] Die linguistische Terminus wird aber von der Bezeichnung eines Zweigs der afro-asiatischen Sprachfamilie (zu dem u.a. auch Arabisch und Aramäisch gehören) zu einer Herkunftsbezeichnung transformiert, die Jüdinnen*Juden ethnisch, national oder rassisch als Abstammungsgemeinschaft bestimmt. Die Begriffswahl diente den frühen Vertreter*innen des Antisemitismus nicht zuletzt dazu, sich vom religiösen Judenhass abzugrenzen und begründete eine zunehmend biologistisch-rassistische Konzeption von Judenfeindschaft.[3] Durch Verwendung moderner Terminologie der Zeit wurde dies signalisiert und damit eben: Aufgeklärtheit, Nüchternheit, Wissenschaftlichkeit.
Zwei ganz basale Probleme sind mit dem Wort selbst verbunden. Mit ihm war im deutschen Sprachraum klar und ohne Zweifel von Beginn an nicht die Bezeichnung von Feindschaft oder Gegnerschaft gegen die Angehörigen des semitischen Sprachenzweigs, sondern gegen die Jüdinnen und Juden und das Judentum gemeint. Mit der Nutzung war damit zudem fast immer eine Gegenvorstellung wie «Arier» oder «Indogermanen» für die nichtjüdische Eigengruppe impliziert. Diese ‚Ungenauigkeit‘, die Verunsicherung, die aus der Etymologie des gewählten Wortes «semitisch» rührt, ist immer wieder Anlass für Verwirrung. Gegenwärtig ist diese besonders in der Form prävalent, dass angenommen wird, bestimmte Personen können nicht antisemitisch sein, weil sie ja selber ‚semitisch‘ seien. Innerhalb der antisemitischen Bewegung plädierte deshalb der NS-Ideologe Alfred Rosenberg (1934) dafür, das Wort durch die Bezeichnung «anti-jüdisch» zu ersetzen. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob dies im Einzelfall auch Ausdruck von Unkenntnis, spitzfindiger Bauernschläue oder schlicht eine Schutzbehauptung gegen unliebsame Antisemitismusvorwürfe, beispielsweise gegenüber Araber*innen ist. Im anglophonen Sprachraum gibt es deshalb seit einigen Jahren auch Diskussionen um die geeignete Schreibung des Wortes. Üblich war bisher «anti-Semitism» mit Bindestrich. Dagegen nutzen immer mehr Forschende die zusammengezogene Schreibweise «antisemitism» um den durch den Bindestrich verstärkten Eindruck zu vermeiden, der Antisemitismus sei eine Anti-Haltung, die sich gegen eine Entität «Semitismus» richte.[4] Einen solchen gibt es nach Meinung der meisten Forschenden zum Thema aber nicht; der Antisemitismus ist in Gänze und in sich geschlossen von projektivem oder wahnhaftem Charakter (→ Projektion/Imagination, Kap. XXX). Dies soll mit der kompakten, bindestrichlosen Schreibweise zum Ausdruck kommen. Doch es gibt auch hier Widerspruch. → Jonathan Judaken (2018, 1126 f., dort finden sich auch reichlich Quellen zu den unterschiedlichen Verwendungsweisen und den jeweiligen Begründungen) beispielsweise hält unter Berufung auf historischen Forschungsarbeiten an der Bindestrichschreibung fest. Sein Argument: tatsächlich habe es viele Ähnlichkeiten in der Wahrnehmung von und der Feindschaft gegenüber Jüdinnen*Juden und Muslimen/Araber*innen gegeben, die teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein als enge «Verwandte» aufgefasst wurden und teils gemeinsam abgewertet wurden. Dies ändert sich erst mit der Etablierung des Mythos eines «jüdisch-christlichen» Erbes des Westens, womit die islamischen Beiträge zur Kultur des «Westens» ebenso ausgeblendet würden wie die Intersektionen zwischen antimuslimischem Rassismus und Feindschaft gegen Jüdinnen*Juden. Unabhängig von Judakens konkreter Schreibweisenentscheidung kann man ihm sicherlich unumwunden zustimmen, dass diese Entscheidung immer eine «epistemologische und politische» ist (Judaken 2018, 1127).
Fest steht jedenfalls, dass es sich bei Antisemitismus, in welcher Schreibweise auch immer, um eine unglückliche Wortneuschöpfung mit Potenzial für Irritationen handelt. Dies verstärkte sich im Laufe der nun fast 150-jährigen Existenz des Wortes noch dadurch, dass der Terminus zwar als Selbstbezeichnung entstand und beispielsweise von der Antisemitenliga (1879-1880, gegründet von Marr) schon in der Bezeichnung der Organisation festgeschrieben und propagiert wurde, mittlerweile aber vor allem als Fremdbezeichnung in analytischer oder politisch-moralischer Perspektive Anwendung findet. Die damit Kategorisierten hingegen weisen diese Einordnung heute oft von sich und bekennen sich nur selten offensiv und emphatisch unter Bezug auf diese inzwischen klar negativ konnotierte Bezeichnung als antisemitisch. So ergibt sich das, was Bernd Marin als «Antisemitismus ohne Antisemiten» bezeichnete (Marin 1979).
Die tiefgreifenden Prozesse dieses Wandels in Bedeutung und Verwendung der Wörter Antisemitismus/antisemitisch, die hier nur knapp angerissen wurden, sind auf das Engste verknüpft mit den tiefgreifenden Wandlungen politisch-öffentlicher und wissenschaftlicher Sichtweisen auf Antisemitismus und damit Anlass für die Forderung des britischen Historikers des Antisemitismus, David Feldmann (Feldman 2018), nach einer Geschichte des Wortes Antisemitismus, die er für das Beispiel Großbritannien zugleich auch skizziert.[5]
aus: Ullrich, Peter, Sina Arnold, Anna Danilina, Klaus Holz, Uffa Jensen, Ingolf Seidel und Jan Weyand (Hrsg): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft. Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart Bd. 8. Göttingen: Wallstein Verlag, 2024, 315 S., ISBN 978-3-8353-5070-0, 24 €.
[1] Zu Begriffsgeschichte vgl. Bergmann (2006), Engel (2009) und Feldman (2018).
[2] Wie die Vorstellung «semitisch» bereits seit der Jahrhundertmitte zirkulierte, so kam es auch bereits früher zu einzelnen Verwendungen des Wortes «antisemitisch». So kritisierte 1860 der deutsch-jüdische Bibliograph und Orientalist Moritz Steinschneider 1860 den französischen Religionswissenschaftler Ernest Renan für die «Inkonsequenzen seiner antisemitischen Vorurtheile». Siehe Steinschneider (1860), vgl. auch Thiede (1991).
[3] Die Konzeption des Jüdischen als schicksalhafte, essenzielle, über das Blut determinierte Abstammungsgemeinschaft ist jedoch nicht gänzlich neu, sondern schien schon in den spanischen Verfolgungen von Jüdinnen*Juden während und nach der sogenannten Reconquista auf. Diese protorassistische Konzeption war aber nicht grundsätzlich typisch für die Zeit des vor allem christlich grundierten, also religiösen Antijudaismus (Grüttner 1996; Delacampagne, Widmann, und Delacampagne 2005, 20; Schüler-Springorum 2020).
[4] Auch wenn es einen deutschen Antisemitismusbeauftragten gibt, der reichlich ungewöhnliche mediendeterministische Ideen zum «Semitismus» als positivem Gegenprinzip zum Antisemitismus entwickelt (Blume 2021; Main 2019; kritisch dazu Elbe 2019).
[5] Eine solche unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht vom Unterfangen dieses Buches. Sie wäre eine historisch-genetische Sicht auf das Wort und seinen Gebrauch in Öffentlichkeit und Wissenschaft, während hier ein systematisch-orientierterer Zugang zum Begriff verfolgt wird, der sich mit den wissenschaftlichen Sichtweisen auf den Gegenstand der Judenfeindschaft unabhängig von der jeweiligen gewählten Bezeichnung beschäftigt.