Analyse | Rosalux International - Brasilien / Paraguay Erfolgreich, aber machtlos: Ein Jahr Lula

Rechte Mehrheit blockiert fortschrittliche Wirtschafts- und Sozialpolitik

Information

Autor

Andreas Behn,

2. Februar 2024: Präsident Luiz Inácio Lula da Silva betankt ein Elektrofahrzeug bei der Ankündigung des neuen Investitionszyklus von Volkswagen do Brasil in São Bernardo do Campo
«Der neoliberale Konsens im gesamten rechten Spektrum zwingt Lula, ganz traditionell auf Wirtschaftswachstum zu setzen, um so zumindest in Teilen eine Umverteilungspolitik gestalten zu können.» 2. Februar 2024: Präsident Luiz Inácio Lula da Silva betankt ein Elektrofahrzeug bei der Ankündigung des neuen Investitionszyklus von Volkswagen do Brasil in São Bernardo do Campo, Foto: IMAGO / Fotoarena

Das erste Jahr von Lulas dritter Amtszeit als Präsident Brasiliens liest sich auf den ersten Blick wie eine Erfolgsgeschichte. Das größte Land Lateinamerikas ist politisch und wirtschaftlich stabil, die Rechtsradikalen um seinen Vorgänger Jair Bolsonaro sind in der Defensive, und auf internationalem Parkett wird Brasilien wieder als gewichtige Stimme wahrgenommen.

Doch der Erfolg steht auf wackeligen Füßen. Der konservativ dominierte Kongress engt den Spielraum der regierenden Arbeiterpartei PT ein und zwingt Lula insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ständig zu Kompromissen. Diese Gradwanderung zwischen fortschrittlichem Anspruch und liberaler Realpolitik geht zu Lasten seines politischen Rückhalts und kann zum Einfallstor eines neuen Rechtsrucks werden.

Das Erbe Bolsonaros

Die insgesamt positive Einjahresbilanz war keineswegs ausgemacht, als Luiz Inácio Lula da Silva am 1. Januar 2023 nach einem hauchdünnen Wahlsieg gegen Bolsonaro das höchste Staatsamt antrat. Schon eine Woche später stürmte ein Mob das Regierungsviertel in der Hauptstadt Brasilia und versuchte erfolglos, die demokratische Machtübergabe zu verhindern. Die Bilder dieser Zerstörungswut kostete die Bolsonatistas viel Unterstützung in der Bevölkerung. Die juristische Aufarbeitung mit teils langjährigen Haftstrafen für die Rädelsführer*innen sowie immer neue Enthüllungen über korrupte Machenschaften des Bolsonaro-Clans halten die extreme Rechte bis heute halbwegs in Schach. Trotz steter Präsenz ihrer Positionen im Kongress und in ihren über große Reichweite verfügenden sozialen Medien hat sie nicht die Mobilisierungskraft wiedererlangt, mit der sie Mitte des vergangenen Jahrzehnts im Einvernehmen mit der traditionellen Rechten die Präsidentschaft von Dilma Rousseff vorzeitig beendete und dann 2018 den langjährigen Parlaments-Hinterbänkler Bolsonaro zum Wahlsieger küren konnte.

Andreas Behn lebt seit zwanzig Jahren in Brasilien und leitet seit 2022 das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.

Die Allianzen und Trennungslinien innerhalb der Rechten sind nicht nur für Brasiliens Zukunft, sondern auch für rechtsradikale Experimente in anderen Ländern – wie jetzt in Argentinien – von großer Bedeutung. Der Sturz Rousseffs war 2016 noch eine Initiative der traditionellen, unternehmensfreundlichen Rechten, die nach 14 Jahren sozialdemokratischer PT-Politik das Land wieder auf einen stramm neoliberalen Kurs führen wollte. Ihre Verleumdungskampagne – insbesondere zum stets dankbaren Thema Korruption – wurde von der Mainstreampresse angeführt, und die Richter*innen des Obersten Gerichtshofs besiegelten die Absetzung Rousseffs und später die Inhaftierung Lulas. Doch die Rechnung ging nicht auf: Bei der Wahl 2018 kam die neoliberale PSDB nur auf fünf Prozent der Stimmen, während der rechtsextreme Bolsonaro gewann.

Dieselben Verfassungsrichter*innen haben dann später, erschrocken über die offene Demokratiefeindlichkeit der Bolsonaro-Regierung, deren Dekrete und demokratiewidrige Winkelzüge – teils an der Grenze der Rechtsstaatlichkeit – außer Kraft gesetzt. Seit Lulas Amtsantritt gehen sie mit harter Rechtsauslegung gegen rechtsextreme Umtriebe vor. Auch die Anti-PT-Presse schlug sich 2022, vor die Wahl zwischen Bolsonaro und Lula gestellt, mehrheitlich wieder auf die Seite der Demokratie. Vor diesem Hintergrund gelang es Lula, eine in der lateinamerikanischen Region wohl einzigartige parteipolitische Allianz von links bis weit nach rechts zu zimmern, die ihm den knappen Wahlsieg ermöglichte.

Diese Ausgangslage erklärt den engen politischen Spielraum, der Lula – anders als bei seinen ersten zwei Amtszeiten von 2003 bis 2010 – die Amtsführung erschwert. Zu seinem Regierungsbündnis gehören starke rechte Kräfte, die entweder jede Stärkung des Sozialstaats ablehnen oder eine klientelistische Politikauffassung vertreten, also eher ideologiefrei darauf setzen, staatliche Pfründe zu ergattern und der eigenen Wählerschaft zugutekommen zu lassen. Zudem sind im politischen Alltagsgeschäft die Grenzen zur ebenfalls starken rechtsradikalen Opposition nicht klar gezogen, beispielsweise im einflussreichen Segment der wertkonservativen evangelikalen Kirchen. In der Praxis bedeutet dies, dass jedes Entgegenkommen von Lula keinen Kompromiss bedeutet, sondern neue rechte Forderungen nach sich zieht.

Linker Pragmatismus: Einsicht in die Notwendigkeit

Auch die Linke hat noch nicht zu alter Stärke zurückgefunden und verharrt im Spannungsfeld der skizzierten Machtkonstellation. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer breiten, rechtslastigen Allianz vor der Präsidentschaftswahl führte zu der Erkenntnis, dass eine zu scharfe Kritik an Lulas Kompromisslinien womöglich der extremen Rechten in die Hände spielen würde. Regierungsfähigkeit ist angesichts dieser Bedrohungslage zu einer neuen Richtlinie im fortschrittlichen Spektrum geworden.

Dennoch ist zu spüren, dass der Spielraum für Politik von unten deutlich größer geworden ist. Statt auf Mobilisierung und Protest setzen soziale Bewegungen und linke Organisationen auf die Entwicklung neuer Inhalte, mit denen sie die eher althergebrachten Rezepte der Lula-PT modernisieren wollen. Stichworte sind moderne Stadtpolitik, Antirassismus, sozialpolitische Ansätze, die über Umverteilung und Transferleistungen hinausgehen, und die Organisierung von Beschäftigten der Plattformökonomie jenseits klassischer Gewerkschaftsmodelle.

Doch im Jahr eins der dritten Lula-Amtszeit herrschte eher Pragmatismus. Der neue alte Präsident machte viele der ärgsten Rückschritte der Bolsonaro-Regierung rückgängig, darunter mehrere Gesetze für erleichterten Waffenbesitz sowie politische Privilegien für Militärs; die Quotenregelungen an Universitäten sowie die Politikbeteiligung der Zivilgesellschaft durch Räte sind ebenso zurück wie das erfolgreiche Sozialprogramm Bolsa Familia. Der Schutz von Minderheiten ist wieder Staatsräson, die Abholzung im Amazonasgebiet geht erstmals seit langem zurück und sogar eine seit 30 Jahren eingefrorene Steuerreform konnte verabschiedet werden – wenn auch ohne jegliche Höherbesteuerung der Reichen. Die Inflation ist unter Kontrolle, das Wirtschaftswachstum mit rund drei Prozent ansehnlich, und die absurd hohen Zinsen konnten gesenkt werden. Die Privatisierung großer Staatsbetriebe wurde gestoppt und der Mindestlohn real angehoben.

Die Macht des Agrobusiness

Die Liste der Erfolge im Vergleich zu den Rückschritten der vergangenen vier Jahre ist noch deutlich länger. Doch sie täuscht darüber hinweg, dass die Regierung Lula bei vielen wichtigen Themen machtlos ist. So musste der Präsident kürzlich ein Gesetz zur Freigabe von Pestiziden unterschreiben, deren Einsatz in vielen Fällen in der EU verboten ist. Die Lobby des Agrobusiness konnte sich durchsetzen, da sie die Rechten im Oppositions- wie im Regierungslager unter Kontrolle hat. Ähnliches geschah beim dramatischen Tauziehen zum sogenannten Marco Temporal – der These, dass indigene Gebiete den Ethnien nur dann zugesprochen werden dürfen, wenn sie diese bereits vor 1988 besiedelten. Obwohl der Oberste Gerichtshof diese These für verfassungswidrig erklärt hatte, goss der Kongress sie wenig später in Gesetzesform – ein Affront gegen die Justiz, gegen die Regierung und vor allem gegen die Indigenen, die seit Jahrzehnten um ihre Landrechte kämpfen.

Gegen das Agrobusiness, in seiner Mehrheit treuer Alliierter Bolsonaros, kommt Lula bei der jetzigen Machtkonstellation nicht an. Das bedeutet Stillstand bei der Frage der extrem ungerechten Landverteilung, der Umwelt- und Klimapolitik auf dem Land und auch bei der Subventionspolitik – die immensen staatlichen Finanzspritzen für diesen angeblich dynamischsten Sektor der brasilianischen Wirtschaft sind höher als je zuvor.

Ähnlich verhält es sich beim Thema Staatsausgaben und Sozialstaat. Die brasilianische Variante der Schuldenbremse – eine von Übergangspräsident Michel Temer 2017 durchgesetzte Deckelung der Staatsausgaben für Gesundheit, Bildung und Soziales – konnte von Finanzminister Fernando Haddad nur ansatzweise revidiert werden. Dadurch hat die Regierung bei der Sozialpolitik, staatlichen Investitionen und nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik wenig Spielraum. Diese Ausrichtung war und ist jedoch Lulas Erfolgsrezept, auch mit Blick auf Machterhalt und Umfragewerte vor allem bei der ärmeren Bevölkerungsmehrheit. Der neoliberale Konsens im gesamten rechten Spektrum zwingt Lula, ganz traditionell auf Wirtschaftswachstum zu setzen, um so zumindest in Teilen eine Umverteilungspolitik gestalten zu können. Das verlangsamt den Kampf gegen Hunger, der seit Bolsonaro und der Pandemie wieder zu einem Thema im Land geworden ist, stärkt den Einfluss der Konzerne auf die Wirtschaftspolitik und drosselt Lulas ohnehin nicht sonderlich ausgeprägtes Engagement in der Umwelt- und Klimapolitik. Dass der 78-jährige die Erschließung neuer Erdölvorkommen im Amazonasgebiet vorantreibt, kann daher nicht überraschen.

Außenpolitischer Multilateralismus

Nur in der Außenpolitik, die für die inneren Kräfteverhältnisse angesichts der kontinentalen Größe Brasiliens kaum eine Rolle spielen, hat Lula weitgehend freie Hand. Dass er nach Amtsantritt allerorten als lange vermisster, ernst zu nehmender Partner begrüßt wurde, kann er als persönlichen Erfolg verbuchen. Dass seine Positionen zu den Kriegen in der Ukraine und Nahost im Westen teils auf Unverständnis stießen, ist dabei in erster Linie auf dort herrschende Unkenntnis zurückzuführen, da Brasilien seit jeher auf eine unabhängige Außenpolitik pocht und sich eher als Vermittler denn Waffenlieferant versteht.

Doch birgt die weltweite Polarisierung auch hier Gefahren. China ist schon seit bald 15 Jahren Brasiliens wichtigster Handelspartner, und als Mitglied der BRICS-Staatengruppe steht die Regionalmacht, trotz enger kultureller Anbindung an den Westen, für eine multipolare Weltordnung. Wenn der Druck, sich für eine Seite zu entscheiden, zunimmt, würde Lula wichtigen internationalen Rückenwind verlieren. Das absehbare Scheitern der Verhandlungen über eine Freihandelszone zwischen der EU und den Mercosur-Staaten wird die Distanz beider Regionen jenseits aller Kritik an dem wirtschaftsliberalen Vertragsentwurf ebenfalls vorantreiben, obwohl Lula trotz Vorbehalte ein Verfechter des Abkommens ist.

Auch wenn Brasilien sich im Januar explizit hinter die Genozid-Anklage Südafrikas gegen Israel gestellt hat, ist davon auszugehen, dass die Lula-Regierung international weiterhin nicht auf Polarisierung, sondern auf Ausgleich setzen wird. Dies ist allerdings im eigenen Land bisher nicht gelungen. Politik und Gesellschaft sind nach wie vor gespalten, ohne jede Verständigung beider Lager. Das ist Lula nicht vorzuwerfen, denn bekanntlich profitiert vor allem die Rechte von dieser Polarisierung. Es ist aber Teil der einjährigen Bilanz Lulas, für diese Herausforderung noch kein Rezept gefunden zu haben.
 

Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.