Da hatte die sonst so perfekte Parteitagsregie gepatzt: In Niedersachsen eine Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) der Grünen durchzuführen und einen Antrag zum Atommüll-Lager Gorleben in den Anträgen zu „Verschiedenes“ zu versenken, wenn in zwei Monaten in diesem Bundesland ein neuer Landtag gewählt wird, – das ist politisch zumindest unklug. Das sah auch eine Mehrheit der Delegierten so und erhob diese Frage bei der Behandlung der Formalia zum eigenständigen Tagesordnungspunkt auf der Agenda des Parteitags.
Wie es wohl gar nicht anders zu erwarten war, forderte der Parteitag: „Kein Atommüll mehr nach Gorleben! Für eine bundesweite, offene Suche nach dem bestmöglichen Endlager!“ Doch was sich so eindeutig liest, ist keineswegs so eindeutig. Um den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann mit seinem Vorstoß vom Herbst 2011 für eine bundesweite Suche nach einem Atommüll-Endlagerstandort nicht zu desavouieren, entschieden sich die Delegierten dafür, Gorleben bei der Endlagersuche nicht von vornherein auszuschließen. Sie setzen vielmehr darauf, dass die Suchkriterien für ein Endlager so gefasst werden, dass im Vergleich mit anderen Optionen Gorleben als geologisch ungeeigneter Standort rasch ausscheidet. Kein Zweifel, dass sich die Aktivisten der Antiatombewegung eine klarere Aussage gewünscht hätten.
Schwerpunkte der 34. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen, die vom 16. bis zum 18. November 2012 in Hannover tagte, waren aber die Europapolitik, die Außenpolitik und die Sozialpolitik. Die rund 800 Delegierten wählten einen neuen Bundesvorstand und einen neuen Parteirat. Sie beschlossen den Haushalt der Partei und befassten sich mit Satzungsfragen. Die BDK diente zugleich der Vorbereitung ihres Programmparteitags im April 2013 und des Mitgliederentscheids zu den Wahlkampfschwerpunkten im Juni 2013. Zu den Gästen des Parteitages gehörte Andrea Nahles, die Generalsekretärin der SPD.
Reden der grünen Spitzenpolitiker
Alle Spitzenpolitiker der Grünen plädierten auf dem Parteitag dafür, im angelaufenen Bundestagswahlkampf auf Rot-Grün zu setzen. Sie waren bestrebt, der in den Medien weit verbreiteten These entgegenzutreten, die Öko-Partei würde auch eine Koalition mit den Unionsparteien eingehen, falls es für Rot-Grün nicht reichen sollte. Auch Exponenten des Realo-Flügels wie der frisch gewählte Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn votierten gegen eine schwarz-grüne Option.
Die Politische Rede des Bundesvorstands nutzte Parteichef Cem Özdemir, um die schwarz-gelbe Bundesregierung zu attackieren und Die Grünen dazu aufzurufen, sich im Bundestagswahlkampf für ein Bündnis mit der SPD einzusetzen: „Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass 2013 in dieser Republik wieder SPD und Grüne regieren!“ Allerdings müssten sowohl Die Grünen als auch die Sozialdemokraten für das gemeinsame Ziel „noch eine Schippe drauflegen“. Die schwarz-gelben Regierungsjahre seinen verlorene Jahre - egal, ob es um die Bildungspolitik gehe oder um die Bekämpfung der sozialen Spaltung des Landes, in dem die Schere zwischen Arm und Reich immer größer werde. Die amtierende Koalition betreibe Klientelpolitik zulasten der Arbeitnehmer. Selbstbewusst und angriffslustig verkündete der Parteivorsitzende daher: „Wir wollen Schwarz-Gelb von der Last des Regierens befreien – und die Bürgerinnen und Bürger von der Last der schwarz-gelben Regierung.“
Özdemir ermutigte die Mitglieder der Grünen, sich von der aktuellen Schwarz-Grün-Debatte in den Medien nicht kirre machen zu lassen: „Wir wollen nicht die Union, sondern wir wollen die Wählerinnen und Wähler der Union.“ Und er machte deutlich, wo er Die Grünen verortet: Die Grünen seien wertkonservativ, aber nicht strukturkonservativ. „Und natürlich sind wir links.“ Links zu sein bedeute für ihn, „dass wir den Anspruch haben, dass jede und jeder das Recht auf gleiche Freiheit hat“. Und natürlich seien Die Grünen auch liberal. Freiheit würden sie aber nicht wie die FDP denken, wo sich jeder selbst der nächste sei, sondern ihnen gehe es um Selbstbestimmung und Teilhabe. Dabei würden sie an alle denken und nicht – wie die Neoliberalen – an ein paar wenige. Freiheit sei kein rechter Begriff. „Freiheit ist ein linker Begriff.“
Katrin Göring-Eckardt, gerade erst durch Urwahl zur Spitzenkandidatin der Partei für die Bundestagswahl 2013 gekürt, ging Kanzlerin Merkel und ihre Minister frontal an. Da werde das Denkmal für die verfolgten und ermordeten Eltern und Großeltern der Sinti und Roma eingeweiht, und am gleichen Tag schicke der Innenminister die Nachfahren zurück in Hunger und Kälte. „Das ist nicht christlich, das ist nicht sozial, das ist unwürdig für ein reiches Land, wie wir es sind.“ Göring-Eckardt, unlängst vom SPIEGEL als „Mutter Theresa der Grünen“ apostrophiert, ließ vergessen, dass sie einst zu den Einpeitschern von Hartz IV gehörte, und sprach sich für eine ökologische, soziale und weltoffene Gesellschaft aus. Auch sie erklärte: „Rot-Grün ist unser Ziel. Da muss man nicht lange drum rum reden.“ Sie unterstrich jedoch gleichzeitig: „Mit uns wird auf Augenhöhe geredet. Und dafür braucht es starke Grüne.“
Jürgen Trittin, der zweite Spitzenkandidat, erhob für Die Grünen den Anspruch, „gesellschaftliche Mehrheiten“ in den Positionen von Sozial-, Bildungs- und Umweltpolitik zu vertreten. Acht von zehn Deutschen wollten eine neue Wirtschaftsordnung, die Umweltschutz stärker betont und für sozialen Ausgleich sorgt, referierte Trittin jüngste Meinungsumfragen. 89 Prozent der Deutschen fänden die Einkommensunterschiede in Deutschland zu groß, 76 Prozent seien für einen Mindestlohn, 80 Prozent für die Gleichstellung der Homo-Ehe. Das sei die Mitte in Deutschland. Es sei eine grüne Mitte, es sei eine linke Mitte. „Wir haben die Mitte der Gesellschaft nach Grün verschoben.“
Die Grünen – so Trittin – würden auf allen Politikfeldern über detaillierte Positionen verfügen. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag forderte kämpferisch, man müsse den Mut haben, Besitzstände anzugreifen, ökologisch schädliche Subventionen abzubauen und „denen, die viel haben und es sich leisten können, auch mehr abzuverlangen“. Der Spitzenkandidat zeigte sich siegessicher, dass Die Grünen gemeinsam mit den Sozialdemokraten im Ergebnis der Landtagswahl im Januar 2013 in Niedersachsen die Regierung übernehmen werden, und verbreitete Aufbruch-Stimmung: „Wenn wir am 20. Januar Schwarz-Gelb hier in Niedersachsen ablösen, wenn wir hier die Studiengebühren abschaffen, die Massentierhaltung zurückdrängen, den Elternwillen in den Schulen durchsetzen, dann werden von der Flensburger Förde bis nach Konstanz 50 Millionen Deutsche von Grünen und Roten regiert.“
Auch Parteichefin Claudia Roth attackierte Kanzlerin Merkel und deren Koalition, die schlechter nicht sein könne, – eine Regierung Merkel, „die wir ablösen wollen, die wir ablösen können und die wir ablösen müssen, weil es sonst zappenduster um die Zukunft bestellt ist“. Die Grünen hätten die besseren Ideen und die besseren Konzepte, wie zum Beispiel die Urwahl der Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl 2013 gezeigt habe. Die politischen Mitbewerber und Konkurrenten seien in der Defensive: „eine SPD, wo der Kanzlerkandidat sich selbst ausgewählt hat, eine CDU, wo Basisarbeit im Haussender CDU-TV stattfindet, eine CSU, die aus lauter Angst vor den BürgerInnen die Studiengebühren wohl selbst zurücknimmt“. Und LINKE und Piraten – so Roth – würden sich vor einer Urwahl fürchten, „weil sie davon glatt zerrissen würden“.
Im Bundestagswahlkampf gehe es um grüne Schwerpunkte – um die Energiewende und die schnellstmögliche Abschaltung aller Atomkraftwerke. Es gehe um die großen Gerechtigkeitsfragen – vom Mindestlohn über gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, die Bürgerversicherung in Gesundheit und Pflege bis zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Es gehe um eine solidarische Gesellschaft. „Wir Grünen wollen die Pfadfinder sein, wollen die neuen Fragen stellen und die Zukunftsantworten geben,“ erklärte die Parteichefin ganz im Sinne der grünen Anfänge, als die Partei mit dem Slogan „Wir sind weder rechts noch links, sondern vorn“ die verkrustete Gesellschaft aufmischen wollte.
Diskussion und Beschlüsse zur Europapolitik
Der Parteitag begann mit einer Workshop-Phase, in der die Delegierten in elf der zwölf Workshops über Europa-Politik diskutierten:
- Workshop 01: Junge Menschen in der (europäischen) Krise
- Workshop 02: It´s European democracy stupid
- Workshop 03: Europäischer Steuerpakt
- Workshop 04: Soziales Europa
- Workshop 05: Subsidiarität – Europa und die Mitbestimmung von unten
- Workshop 06: Green New Deal 2.0 – Grüne Industrie auch für Europas Süden?
- Workshop 07: Deutschland als Krisengewinner?!
- Workshop 08: Europäischer Klimaschutz- und Energiewende – in Verbindung mit deutscher Energiewende
- Workshop 09: EU-Haushalt: Grüne Investitionen statt Schrumpfkurs
- Workshop 10: Ursachen der Krise – Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion
- Workshop 11: Keine Festung Europa!
- Workshop 12: Innerparteiliche Demokratie
Die Workshops zur Europa-Politik dienten allerdings eher der Beantwortung von Fragen der Delegierten als einer wirklichen Diskussion des Themas. Im Workshop zu den Ursachen der Krise und zu den Konstruktionsfehlern der Wirtschafts- und Währungsunion vertraten die grünen Bundestagsabgeordneten Lisa Paus und Frithjof Schmidt die Auffassung, dass nicht die Staatsverschuldung Griechenlands ursächlich für die Euro-Krise sei (wie oft dargestellt), sondern die Finanzmarktkrise. „Euroland“ sei in die Krise gekommen, weil es Konstruktionsfehler der Euro-Einführung gegeben habe. So hätte es eines gemeinsamen Bankensystems in einer europäischen Währungsunion mit einer gemeinsamen Bankenaufsicht und einer abgestimmten Wirtschaftspolitik in den Ländern der Eurozone bedurft. Die Realwirtschaft habe sich zudem in der Europäischen Union auseinanderentwickelt, wie an den Exportüberschüssen Deutschlands in die Eurozonenländer zu beobachten sei. Beide Politiker plädierten u.a. für einen europäischen Bankenrettungsfonds und einen Altschuldentilgungsfonds, der durch eine europaweite Vermögensabgabe mit einem 20-Jahres-Pfad finanziert werden sollte.
Auf dem Feld der Europa-Politik bekennen sich Die Grünen zu einem offenen, solidarischen und starken Europa, das Frieden und Bürgerrechte sichert und in einer globalisierten Welt die richtigen Lösungen bietet. Kein Mitgliedsland der EU wäre jenseits der Europäischen Union noch in der Lage, seiner Bevölkerung dauerhaft Frieden, Sicherheit, Bürgerrechte und Wohlstand zu ermöglichen – auch Deutschland nicht, das bisher am wenigsten unter den Krisenprozessen leide. Ein solches Europa könne jedoch nur entstehen, wenn es sich demokratisch legitimiere und den Menschen nahe komme. Daher plädieren Die Grünen für eine „starke regionale, nationale und supranationale Demokratie“.
Die Grünen treten für einen öffentlichen Europäischen Konvent unter Beteiligung von Zivilgesellschaft und Sozialpartnern unter Führung des Europäischen Parlaments ein, um die auf dem Tisch liegenden Vorschläge zur Überwindung der Finanz- aber gerade auch der Vertrauenskrise sowie die entscheidenden Weichenstellungen zur Zukunft Europas transparent zu diskutieren. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente müssten stärker institutionalisiert zusammenarbeiten. Das Europäische Parlament müsse das Initiativrecht bekommen und der Ort der maßgeblichen Debatten und Entscheidungen sein, auch und gerade in der „Krisenpolitik“. Die verschiedenen Enden der wirtschaftspolitischen Steuerung in Kommission und Rat sollen bei einem besonders stark vom Europäischen Parlament abhängigen Kommissar für Wirtschaft und Finanzen so gebündelt werden, dass nachvollziehbar wird, wo die Entscheidungen getroffen werden, und dass diese Entscheidungen durch die Europawahl politisch beeinflusst werden können.
Angesichts der andauernden Finanzmarktkrise setzen sich Die Grünen für eine starke internationale Finanzmarktregulierung, für die Schaffung eines Altschuldentilgungsfonds, für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer und für die langfristige Einführung von Eurobonds ein. Als wichtigen Schritt zu einer internationalen Finanzmarktregulierung verlangen sie die Schaffung einer starken europäischen Bankenunion, bestehend aus einer gemeinsamen Bankenaufsicht, gemeinsamen Mechanismen zur Abwicklung von Krisenbanken sowie einem europäischen Einlagensicherungssystem. Die Öko-Partei will diese Maßnahmen durch einen europäischen Steuerpakt flankieren, der folgende vier Elemente umfassen soll: (a) europaweit koordinierte Vermögensabgaben, (b) Einführung einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), (c) ein Mindeststeuersatz für die Körperschaftsteuer von 25 Prozent, (d) die Besteuerung natürlicher Ressourcen.
Die Delegierten folgten damit weitgehend dem Leitantrag des Bundesvorstandes, in den – ebenso wie bei den Leitanträgen zur Außenpolitik und zur Sozialpolitik – im Rahmen der Antragstellertreffen durch Übernahmen bzw. modifizierte Übernahmen von Änderungsanträgen Vorstellungen aus der Parteibasis eingeflossen waren. Bei den vergleichsweise wenigen Abstimmungen zur Europa-Politik folgten die Delegierten mit großer Mehrheit ihrer Parteiführung. Anträge wie derjenige, die Forderung nach einem Altschuldentilgungsfond durch eine solche nach Zinszuschüssen für notleidende Euro-Staaten zu ersetzen, hatten keine Chance.
Debatten und Beschlüsse zur Außenpolitik
Außenpolitik wurde auf dem Parteitag der Grünen primär unter dem Aspekt des Schutzes der Menschenrechte und damit als bürgerrechtliche Frage diskutiert. Bis auf eine marginale Gruppe um den Hamburger Parteilinken Uli Cremer, die prinzipiell gegen jegliche militärische Interventionen in Krisengebieten plädierte, waren sich die Delegierten darin einig, dass nach dem 2005 von der UNO-Generalversammlung beschlossenen Grundsatz „Responsibility to protect“ Militärinterventionen zum Schutz von Menschenrechten als ultima ratio zulässig sind. Dabei müsse aber der Gesichtspunkt „Responsibility to prevent“ im Vordergrund stehen, d.h. es müsse zunächst mit diplomatischen Mitteln alles versucht werden, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Das gelte im aktuellen Fall auch für den Syrien-Konflikt. Prinzipiell sei für Militäreinsätze ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates oder der UNO-Generalversammlung erforderlich.
Gespalten zeigte sich die BDK allerdings in der Frage, wie zu verfahren sei, wenn der UNO-Sicherheitsrat durch eine oder mehrere der Veto-Mächte blockiert ist. Da es hierzu bereits in der Antrag stellenden Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Frieden & Internationales zwei gegensätzliche Positionen gegeben hatte, enthielt schon der Leitantrag eine Alternative A und eine Alternative B, über die zu diskutieren und abzustimmen war. Ein Teil der Delegierten trat im Falle der Blockade des Sicherheitsrates für eine Befassung der UNO-Generalversammlung im Sinne der „Uniting for peace“-Resolution von 1950 ein, „um durch Empfehlungen an den VN-Sicherheitsrat den Handlungsdruck zu erhöhen“ (Alternative B). Ein anderer Teil der Delegierten meinte, die UNO-Generalversammlung sollte das Recht beanspruchen, nach dem Vorbild der „Uniting for peace“-Resolution 377 von 1950 mit qualifizierter Mehrheit „den Sicherheitsrat für blockiert zu erklären und an seiner Stelle friedenserzwingende Maßnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta zu beschließen“ (Alternative A). Obwohl Grünen-Politiker wie Tom Koenigs danach fragten, wie sich denn die UNO-Generalversammlung im Fall der Fälle praktisch gegen die Veto-Mächte USA, Russland oder China durchsetzen könnte, und die Alternative A für unrealistisch erklärten, entschied sich eine knappe Mehrheit der Delegierten für die Variante A.
In der Debatte wurde DIE LINKE kritisiert, weil sie im Bundestag jegliche Militäreinsätze (wie jüngst den zur Überwachung des Waffenstillstands im Sudan) ablehnte: Ihr Handeln würde sich im Nichtstun erschöpfen. Im Beschluss der BDK zur Außenpolitik wenden sich Die Grünen - allerdings ohne DIE LINKE zu nennen - gegen eine Politik, „die Friedensmissionen und Auslandseinsätze der Bundeswehr nach den entsprechenden Kapiteln der VN-Charta pauschalierend und differenzlos ablehnt“. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte am 19. November 2012: „Die außenpolitischen Positionen, die die Grünen in Hannover beschlossen, geben nur noch ein schwaches Echo jenes idealistischen Pazifismus wieder, der einst die Gründung der Grünen aus der Friedensbewegung heraus bestimmte.“
Debatten und Beschlüsse zur Sozialpolitik
Bereits im Vorfeld der BDK zeichneten sich auf dem Feld der Sozialpolitik zwei Streitpunkte ab. Der erste Streitpunkt betraf die Höhe, auf die das Arbeitslosengeld II angehoben werden soll. Der Antrag des Bundesvorstandes fixierte zwar grundsätzlich das Ziel der Partei, den Regelsatz für Erwachsene auf 420 Euro heraufzusetzen. Jedoch plädierte er dafür, schrittweise vorzugehen und zunächst die Berechnung des Regelsatzes „verfassungskonform“ zu gestalten, was einer Erhöhung des derzeitigen Regelsatzes um ganze 17 Euro auf 391 Euro entsprechen würde. Erst 2014 sollte dann eine genaue Berechnung der Erhöhung auf der Basis dann vorliegender neuer statistischer Daten erfolgen.
Damit wollten sich Parteilinke wie der Berliner Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg nicht abfinden. Sie verwiesen auf die Berechnungen der großen Wohlfahrtsverbände und forderten eine Anhebung des Regelsatzes auf rund 475 Euro bzw. 480 Euro für Alleinstehende. Nach Debatten hinter den Kulissen, bei den sogenannten Antragstellertreffen, zog jedoch der Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg seinen Antrag zurück, anstatt ihn zur Abstimmung zu stellen. Beschlossen wurde schließlich in Hannover der Satz: „Wir wollen den Regelsatz für Erwachsene auf 420 Euro erhöhen.“
Der zweite Streitpunkt betraf die Frage der Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger. Hier plädierte der Grünen-Vorstand in seinem Antrag für ein „Sanktionsmoratorium“. Auch dagegen rebellierten Parteilinke aus Berlin und aus Nordrhein-Westfalen und forderten in mehreren Anträgen einen endgültigen Stopp der Sanktionen bzw. „eine sanktionsfreie Grundsicherung“. Dieser Konflikt ließ sich offensichtlich nicht hinter den Kulissen beilegen und wurde daher offen im Plenum ausgetragen. Die Parteilinken argumentierten, dass Sanktionen, die massiven Druck auf die ALG-II-Empfänger ausüben, sowohl den offiziell angestrebten kooperativen Charakter des sogenannten Fallmanagements in Frage stellen als auch ein menschenwürdiges Existenzminimum gefährden würden. Zudem hätten die Sanktionen keine Auswirkungen auf die Langzeitarbeitslosigkeit.
Die Befürworter eines „Sanktionsmoratoriums“ machten hingegen deutlich, dass sie zwar eine deutliche Abschwächung der Sanktionspraxis befürworteten, eine gänzliche Abschaffung von Sanktionen aber weder für sinnvoll noch für vermittelbar hielten. Schließlich finanziere auch die Verkäuferin bei Aldi mit ihren Steuern das Arbeitslosengeld II mit. Der grüne Bremer Staatsrat Horst Frehe sagte: „Eine Kürzung von bis zu 100 Prozent der Leistungen geht nicht, aber es geht auch nicht, dass jemand seine Weiterbildung beim Jobcenter versäumt.“ In der schriftlichen Abstimmung über den Antrag, die Sanktionspraxis zu beenden, unterlagen die Parteilinken mit 297 zu 391 Stimmen nur vergleichsweise knapp.
Wie in dieser Frage konnte sich der Parteivorstand in der Sozialpolitik insgesamt mit seinem moderaten Kurs durchsetzen. Anträge, die Riester-Rente abzuschaffen oder die Rente mit 67 Jahren rückgängig zu machen, wurden mit deutlicher Mehrheit abgelehnt – ebenso wie Forderungen, den Spitzensteuersatz statt auf 49 Prozent auf 53 Prozent anzuheben.
Im verabschiedeten Leitantrag zur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik setzen sich Die Grünen für die Zurückdrängung von Niedriglöhnen, Leiharbeit und befristeten Arbeitsverträgen und für die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns von mindestens 8,50 Euro pro Stunde ein. Sie wollen Mini-Jobs eindämmen und „baldmöglichst“ abschaffen. Arbeitslosengeld soll künftig schon dann gezahlt werden, wenn für mindestens vier Monate innerhalb von 24 Monaten Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt wurden. Hinsichtlich der Kranken- und der Pflegeversicherung (und später auch der Rentenversicherung) plädieren Die Grünen für eine Bürgerversicherung, in die auch gut verdienende Angestellte, Selbständige und Beamte einbezogen werden sollen. Mittels eines Energiesparfonds sollen Einkommensschwache mit drei Milliarden Euro bei Gebäudesanierung und Energiesparen gefördert werden.
Für Kinder will die Öko-Partei mittelfristig eine eigene Grundsicherung einführen. Ähnlich wie die SPD treten Die Grünen für eine steuerfinanzierte Garantierente in Höhe von rund 850 Euro für Menschen mit mindestens 30 Versicherungsjahren ein, halten jedoch an der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre fest. Allerdings soll das Renten-Niveau von derzeit etwa 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoverdienstes nur unwesentlich abgesenkt werden. Zudem sollen Rentenansprüche in der Ehe hälftig aufgeteilt werden: „Jede und jeder sollen eigene Ansprüche aufbauen können und eigenständig abgesichert sein.“
Zur Finanzierung insbesondere der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Vorhaben wollen Die Grünen den Spitzensteuersatz ab einem Jahresbrutto-Einkommen von 80.000 Euro von 42 auf 49 Prozent heraufsetzen, eine auf zehn Jahre befristete Vermögensabgabe erheben, die 100 Milliarden Euro einbringen soll, und das Aufkommen aus der Erbschaftssteuer verdoppeln. Für Kapitalerträge soll statt der Abgeltungssteuer von 25 Prozent der (deutlich höhere) individuelle Einkommenssteuersatz gelten. Das Ehegattensplitting soll abgeschmolzen und die Kinderfreibeträge sollen abgeschafft werden. Der Abbau ökologisch schädlicher Subventionen soll jährlich 7,5 Milliarden Euro einspielen.
Anträge zu anderen Fragen
Die sogenannten V-Anträge betrafen – neben anderen Problemen – die Asyl- und Flüchtlingspolitik, die Frage der Beschneidung, die Energiepolitik, die Angabe der CO2-Emissionen bei allen Fernverkehrsmitteln, die sozial-ökologische Transformation für globale Klimagerechtigkeit, das Arbeitsrecht in Betrieben in kirchlicher Trägerschaft und die Rüstungspolitik. Die Delegierten stimmten für einen Antrag, das Asylrecht in der alten Form wiederherzustellen und geltende Beschränkungen für Asylbewerber in Deutschland aufzuheben. Sie lehnten die „aktuellen Pläne“ der Bundesregierung ab, bewaffnete oder waffenfähige unbemannte Flugkörper (sogenannte Drohnen) für die Bundeswehr anzuschaffen.
Auf dem Feld der Energiepolitik stimmten Die Grünen für den Umstieg auf 100 Prozent erneuerbaren Strom bis zum Jahr 2030 und für den Stopp aller Subventionen für die klimaschädliche Braunkohle. Hinsichtlich des Arbeitsrechts in Betrieben in kirchlicher Trägerschaft setzten sie sich dafür ein, das Betriebsverfassungsgesetz dahingehend zu ändern, dass die Anerkennung als Tendenzbetrieb gemäß § 118 BetrVG nur für Betriebe in kirchlicher Trägerschaft gilt, die mehrheitlich vom jeweiligen Träger finanziert werden. In der Frage der Beschneidung vermied der Parteitag eine Entscheidung. Vielmehr soll sich der Bundesvorstand mit dieser kontrovers gesehenen Frage befassen.
Da Die Grünen einerseits seit geraumer Zeit in der sogenannten Sonntagsfrage weit von den 20 bis 25 Prozent der Stimmen entfernt gehandelt werden, die für sie 2011 prognostiziert wurden, und andererseits die Mitgliederentwicklung seit etwa einem Jahr bei knapp 60.000 Mitgliedern stagniert, rief die Politische Geschäftsführerin in Hannover die Parteibasis auf, in einer Kampagne neue Mitglieder zu gewinnen, um zunächst die FDP und dann DIE LINKE in dieser Frage hinter sich zu lassen: Wenn jede und jeder Grüne ein neues Mitglied wirbt, könne dieses Ziel erreicht werden.
Wahl des Bundesvorstandes und des Parteirates
Der alte Bundesvorstand der Grünen ist auch der neue. Alle Mitglieder des Gremiums traten ohne Gegenkandidaturen an. Trotzdem war der Wahlausgang mit Spannung erwartet worden, hatte doch Parteichefin Claudia Roth bei der Urwahl der grünen Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl 2013 eine „herbe Klatsche“ (Roth) erhalten. Sie hätte heftig mit sich gerungen, ob sie erneut als Parteivorsitzende kandidieren sollte oder nicht, erklärte sie in ihrer Bewerbungsrede. Resultat des Ringens: „Die Trauerzeit ist vorbei.“ Und: „Ihr müsst beantworten, ob ich die Richtige bin – so wie ich bin, mit Ecken und Kanten.“
Mit 88,5 Prozent der Stimmen fuhr Roth sogar ein noch besseres Ergebnis ein als ihr Pendant Cem Özdemir mit 83,3 Prozent der Stimmen und wurde von den Delegierten mit Standing Ovations gefeiert. Zur Politischen Geschäftsführerin wurde erneut Steffi Lemke gewählt, zum Schatzmeister Benedikt Mayer und zu Beisitzern Astrid Rothe-Beinlich und Malte Spitz. Die Delegierten bestätigten Frau Rothe-Beinlich zugleich als frauenpolitische Sprecherin.
Bei den Wahlen zum einflussreichen Parteirat, der den Vorstand berät und über Strategien entscheidet, bewarben sich 16 Kandidatinnen und Kandidaten für 13 Plätze. Nach der Urwahl der Spitzenkandidaten konnte es nicht verwundern, dass Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt klar den Einzug in dieses Gremium schafften. Überraschend verfehlte hingegen der Hardcore-Realo Boris Palmer (grüner Oberbürgermeister von Tübingen), ein Vorkämpfer für Schwarz-Grün, einen Sitz im Parteirat (siehe Übersicht im Anhang).
* * *
Zieht man eine Bilanz der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Hannover, sind drei Punkte hervorzuheben:
Erstens nutzten Die Grünen die BDK zu ihrer weiteren Profilierung als Bürgerrechtspartei, um in den bevorstehenden Wahlkämpfen für die Landtagswahlen in Niedersachsen und in Bayern und insbesondere für den Bundestag noch besser die moderne bürgerliche Mitte zu erreichen. Dabei dürfte ihnen auch helfen, dass die Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt, die eine wichtige Rolle in der Evangelischen Kirche spielt, als klassische Vertreterin des bürgerlichen Lagers gilt. Gleichzeitig rückten Die Grünen die soziale Frage stärker in den Focus der Partei. Hier wollen Die Grünen nicht nur Anhängsel der SPD sein, obwohl ihre Positionen zu denen der Sozialdemokraten passfähig sind.
Zweitens folgte die Parteibasis weitgehend den Forderungen der Parteiführung, Realismus an den Tag zu legen und möglichst nichts zu versprechen, was man dann in der angestrebten Regierungsbeteiligung (insbesondere auf dem Feld der Sozialpolitik) nicht halten kann. Da die BDK ohne größere Auseinandersetzungen verlief und die Personaldebatten beendet sind, die infolge des Machtkampfes um die Spitzenkandidatur das Erscheinungsbild der Partei belasteten, ging von diesem Parteitag ein deutliches Zeichen von Harmonie und Geschlossenheit der Grünen aus, ein Signal, das die Wähler mit Sicherheit honorieren werden.
Drittens haben Die Grünen auf dem Parteitag in Hannover ihren Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung im Bund nach der Wahl im Herbst 2013 bekräftigt. Obwohl das versammelte politische Feuilleton Die Grünen drängte und drängt, sich nach der Urwahl von Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt zu Spitzenkandidaten der Partei für die Bundestagswahl für eine schwarz-grüne Koalition auf Bundesebene zu öffnen, betonte der Parteitag, für eine Koalition mit den Sozialdemokraten kämpfen zu wollen und nicht für ein Bündnis mit der Union zur Verfügung zu stehen.
Jochen Weichold
Anlage
Ergebnisse der Wahlen zum Parteirat der GRÜNEN:
Name, Vorname | Anteil der Stimmen in Prozent | Bemerkungen |
Agena, Gesine | 66,13 |
|
Al-Wazir, Tarek | 60,08 |
|
Andresen, Rasmus | 59,27 |
|
Baerbock, Annalena | 67,88 |
|
Beck, Volker | 63,60 |
|
Göring-Eckardt, Katrin | 72,06 |
|
Harms, Rebecca | 66,85 |
|
Höhn, Bärbel | 72,33 |
|
Künast, Renate | 65,99 |
|
Lemke, Steffi | - | als Politische Bundesgeschäftsführerin geborenes Mitglied des Parteirats |
Özdemir, Cem | - | als Bundesvorsitzender geborenes Mitglied des Parteirats |
Remmel, Johannes | 55,21 |
|
Roth, Claudia | - | als Bundesvorsitzende geborenes Mitglied des Parteirats |
Schick, Gerhard | 69,42 |
|
Schopper, Theresa | 61,40 |
|
Trittin, Jürgen | 73,48 |
|
Bisher im Parteirat vertreten, erneut zur Wahl in den Parteirat angetreten, aber nicht gewählt: Boris Palmer
Zur Wahl in den Parteirat angetreten, aber nicht gewählt: Daniel Köbler, Anja Siegesmund
Nicht mehr zur Wahl in den Parteirat angetreten: Anja Hajduk, Antje Hermenau, Max Löffler, Volker Ratzmann
Berlin, 20. November 2012