Das Entsetzen hat Einzug gehalten in den NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München. Nach wochenlangem Gezerre um Presseplätze und Anträge der Verteidigung und der rund 50-köpfigen Nebenklagevertretung kam in den zwei darauf folgenden Monaten bis zur gerichtlichen Sommerpause die rassistische Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) zur Sprache. Zehn Menschen sind vom NSU ermordet worden, bekannt haben sich die Nazi-Terroristen dazu erst nach ihrem Auffliegen bzw. – was die zwei mutmaßlichen Haupttäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt betrifft – nach ihrem angeblichen Doppelselbstmord am 4. November 2011 im Gefolge eines Banküberfalls in Eisenach. Auf der Anklagebank sitzt die Dritte in diesem Bunde, Beate Zschäpe und vier Helfer des NSU: die geständigen oder teilgeständigen Holger Gerlach und Carsten Schultze sowie Ralf Wohlleben und André Eminger, die beide zu den Vorwürfen ebenso schweigen wie Zschäpe.
Ende Juni wurden vor Gericht verschiedene Versionen dieses NSU-Bekennervideos gezeigt, welche Beate Zschäpe nach dem Ende der so genannten Zwickauer NSU-Zelle noch verschickt hatte, ehe sie sich selber der Polizei stellte. Die infamen Trickfilmmontagen mit der Comic-Figur Paulchen Panther, die als eine Art Conférencier mit höhnischen Texten und perfidem Spaß durch die Mordserie führt, wobei Tatortfotos die zehn Mordopfer eines völkischen Rassismus höhnisch verspotten und der Schaulust bloßstellen, verursachen Beklemmung und Grauen.
Der Kölner Rechtsanwalt Reinhard Schön sagt über das Video, es konfrontiere „mit der Brutalität und Gemeinheit der Tötung selbst und dem anschließenden Triumphieren über die eigene Tat und die Verhöhnung der Opfer. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Tötungsbeweggrund niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Damit allerdings sind diese auf dem Video geschilderten Taten immer noch unzureichend beschrieben.“ (Siehe Nebenklage on the Blog ).
Aber auch die ausführliche polizeiliche Foto-Dokumentation dessen, was man damals an den Tatorten vorgefunden hat, geht an die Nieren und ist in der nochmaligen, sehr schonungslosen Bloßstellung der Opfer des Nazi-Terrors durchaus fragwürdig. Die toten Körper werden im Gerichtssaal für eine morbide Inaugenscheinnahme extragroß auf die Wandflächen an beiden Seiten des Saales A 101 projiziert. Die von Kugeln durchsiebten Körper von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Habil Kılıç wurden dieser entsetzlichen Leichenschau bereits unterzogen. Zwei der angeschossenen Männer lebten noch als die Rettungskräfte eintrafen, die an den Sterbenden Wiederbelebungs- und Rettungsmaßnahmen versuchten und das sprichwörtliche Blutbad zu einem infernalischen Bild vom gewaltsamen Tod verschmierten, das dann von der Spurensicherung festgehalten wurde. Und jetzt blicken fast 200 Augenpaare auf die geschändeten Körper der Hingerichteten; in die durchbohrten und vom Blut aufgeschwemmten Gesichter, um die Einschußwinkel der Projektile zu erhellen; ein letztes Mal werden sie dem schamlosen Blick dessen präsentiert, was in der Rechtsordnung Öffentlichkeit heißt. Nach allem, was ihnen post mortem und ihren Familien schon widerfahren und zugemutet worden ist. Unvorstellbar, was diese Bilder bei den anwesenden Angehörigen der von Nazis umgebrachten Männer Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und der einen Frau, der Polizistin Michèle Kiesewetter, auslösen mögen. Viele von ihnen sind gar nicht oder nicht mehr regelmäßig im Gerichtssaal anwesend, vermutlich um sich diesem Grauen, zumal in Anwesenheit der unbeeindruckt scheinenden, wahrscheinlichen Mittäterin, nicht aussetzen zu müssen. Nach allem, was sie und ihre Familien schon durchlitten haben.
Ein Bild von Unbeholfenheit gab dann auch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl ab, als die erste Opferangehörige, die Witwe Pinar Kılıç, in den Zeugenstand tritt. Diese Szenen machen deutlich, wie wenig der Umgang mit diesem immensen Leid im Verfahren vorgesehen und gewollt ist. Frau Kılıç, die 1977 nach Deutschland eingewandert ist, ehe der Ehemann ihr einige Jahre später folgen konnte, spricht nur gebrochen Deutsch. Sie ist von dem Geschehen gezeichnet, präsentiert sich aber nicht als das „Opfer“, als das sie Gehör finden soll. Sie ist renitent als der Richter sie auffordert, zu schildern, wie es nach der Tat für sie und ihre Tochter gewesen sei: „Wie kann das sein? Können sie das nicht überlegen? Wie über uns geredet wird? Wie schlecht geredet wird? Wie man uns behandelt hat…“ Und erstmals konfrontiert sie Beate Zschäpe selber mit den ihr vorgeworfenen Taten, indem sie, auf Zschäpe deutend, fragt: „Wie soll ich das hier der Frau erklären? Jahrelang bin ich verdächtigt worden; jahrelang bin ich herumgeschoben worden? Wir mussten das ganze Blutbad selber sauber machen; wie kommt das ganze Blut in die ganze Wohnung?“ Götzl bohrt ungewohnt unsensibel nach, vielleicht auch genervt von den Verständigungsschwierigkeiten und herrscht die Zeugin an: „Wenn ich sie hier höflich etwas frage, erwarte ich auch eine höfliche Antwort!“ Frau Kılıç, deren Leben durch den Mord an ihrem Mann zerstört wurde, lässt sich davon nicht beeindrucken und weigert sich hartnäckig, etwas zu den psychischen Folgeschäden des Mordes an ihrem Mann zu offenbaren: „Fragen sie meinen Anwalt und meinen Arzt“, insistiert sie, die ihr Leid nicht vor der ungerührten potentiellen Täterin ausbreiten will. Wohl aber, wie sie vom Freundeskreis geschnitten wurde, wie die soziale Umgebung sich zurückzog von ihr und ihrer Tochter, weil ihr erschossener Mann ja über Jahre der Verstricktheit in kriminelle Machenschaften, in Drogengeschäfte verdächtigt wurde. Man kann sich das vorstellen, wie hinter vorgehaltener Hand die stigmatisierende Wirkung der polizeilichen Ermittlungen – nach dem Motto „Da wird schon was dran sein, wenn die Polizei da so hinterher ist…“– sich sozial entfaltete.
Einer dieser Mordermittler, der nachmalige Chef der Mordkommission München und prominente Kriminaler, Josef Wilfling, hatte kurz vor Frau Kılıç als Zeuge ausgesagt. Der Mann ist eine Legende, er hat an der Aufklärung der Morde an Walter Sedlmayr und Rudolph Moshammer mitgewirkt und über Mord und Mörder Bücher geschrieben. Mit dem Sound seiner Stentorstimme weht einen das Bayern der 1970er und -80er Jahre unter Franz Josef Strauß an: dem Mann hier sind Selbstzweifel zumal im Kontext mit den Münchener NSU-Morden offenbar fremd. Kritiker_innen schnauzt er schon einmal an: „Man darf doch nicht den Fehler machen, mit dem Wissen von heute auf damals zu schließen!“ Es habe nur Spuren und Anzeichen für eine Serie im Bereich der Organisierten Kriminalität gegeben, die kurdische PKK, die Grauen Wölfe vielleicht oder die türkische Drogenmafia: „Jetzt soll man bitte nicht so tun, als gäbe es keine türkische Drogenmafia!“ trumpft Wilfling auf. Oder hatte Kılıç Schulden, war er „da in etwas hineingeraten“? habe man sich gefragt, und welchen Zusammenhang könnte es zu den Verbrechen in Nürnberg an Şimşek und Özüdoğru geben, die mit derselben Waffe verübt worden waren? Es kommt an diesem Tag zu lautstarken Wortgefechten, wo es immer und immer wieder um die Frage geht, wieso niemand, wirklich niemand, auf Nazis als Täter gekommen war. Statt den beiden Radlern hinterherzufahnden, folgten die Fahnder rassistischen Beschreibungen eines „dunkelhäutigen“ Täters, der vor dem Laden in einen „schwarzen Mercedes“ gesprungen und mit quietschen Reifen davongerast sei. Wilfling ließ seinerzeit nach einem „Mulatten“ suchen. Später stellte sich heraus, dass diese Geschichte von einer angetrunkenen und nachplappernden Nachbarinnen frei erfunden war.
Mundlos und Böhnhardt konnten nach der „professionellen Hinrichtung“ und einem „Fangschuß“ auf Kılıç – so die Worte Wilflings, zweiteres der Jägersprache entlehnt – in aller Ruhe den Tatort über die Hinterhöfe des Ladens in der Bad-Schachener-Straße verlassen und sich aus dem Staub machen. Berühmt geworden ist Wilfling mit seinem Satz, den er in diesem Zusammenhang vor dem NSU-Ausschuss des Bayerischen Landtags prägte: „Haben Sie schon mal einen Nazi auf dem Fahrrad gesehen?“ Niemand wollte und will behördlicherseits offenbar wissen, wie ausgerechnet Kılıç ins Visier der Nazi-Killer geraten konnte und welche Unterstützung sie dabei womöglich in der starken und gewalttätigen Münchener Szene erhalten haben. Und welche Nürnberger Kreise halfen der NSU ihre Mordanschläge dort vorzubereiten und auszuführen? Als es für Wilfling eng und brenzlig wird in der Befragung durch die Vertreter_innen der Nebenklage grätscht die Bundesanwaltschaft (BAW) für ihn ins Geschehen und mahnt – zum wiederholten Mal – an, sich auf die vorgeworfenen Taten und nicht auf polizeiliche Versäumnisse und Ermittlungsfehler zu konzentrieren, das tue nichts zur Sache.
Die Auseinandersetzung zwischen der BAW und etlichen Nebenklagevertreter_innen und auch den Verteidiger_innen der Angeklagten, ist der mäßig komische running gag im NSU-Verfahren. Vor allem die Hamburger Strafverteidiger_innen Thomas Bliwier, Doris Dierbach und Alexander Kienzle treten immer wieder mit scharfsinnigen Erklärungen und Beweisanträgen in Erscheinung, die es sich nicht nehmen lassen, tief in die Versäumnisse und Fehler sowie die Verstrickung staatlicher Stellen in den NSU-Komplex hineinzuleuchten. Sie vertreten die Familie des am 6. April 2006 in seinem Internet-Café erschossenen Halit Yozgat. Gerade dieser Fall enthält ein paar ungeheuerliche Besonderheiten: so befand sich zur Tatzeit nachweislich ein V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes, Andreas Temme, am Tatort. Temme, der später als Verdächtiger befragt wurde, trug in seinem Umfeld den Namen „Klein-Adolf“ wegen seiner politischen Ansichten. Vor weiterer Verfolgung schützte ihn die Intervention des damaligen hessischen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU), der keine Aussagegenehmigung erteilte, weshalb das Verfahren gegen Temme 2007 eingestellt wurde. Die Hamburger Anwält_innen wollen nun die Verstrickungen Temmes in ein Nazi-Netzwerk offenlegen, in welchem sich neben Mundlos, Böhnhardt und möglicherweise Zschäpe, auch deren aktueller Knastbrieffreund Robin Schmiemann sowie weitere Neonazis aus Dortmund befunden haben könnten, aber auch zwei weitere V-Leute des Verfassungsschutzes. Sie alle könnten sich, das wollen Bliwier, Dierbach und Kienzle nachweisen, bei einem Konzert der Nazi-Band „Oidoxie“ in Kassel getroffen haben. Und zwar am 18. März 2006, nur zwei Woche vor der Ermordung von Mehmet Kubaşık in Dortmund am 4. April 2006 und zwei Tage später der von Yozgat.
Immerhin sind zwei weitergehende Anträge der Hamburger Kanzlei bislang noch nicht negativ beschieden: man werde, so war seitens Thomas Bliwiers zu vernehmen, im Laufe des bis Ende 2014 terminierten Verfahrens mit bisher über 600 Zeug_innen immer wieder an diesen Punkt und zu diesen grundlegenden Fragen kommen, die den Kern des NSU-Komplexes träfen. Der Strafprozess diene eben nicht nur dazu, die Angeklagten zu überführen, halten die drei Anwält_innen der BAW entgegen. Diese hatte moniert, es handele sich hier nicht um einen weiteren Untersuchungsausschuss über staatliches Versagen. Es gehe vielmehr, so die Hamburger Jurist_innen, auch darum einen „Rechtsfrieden“ wieder herzustellen, in welchem den „Verletzten“, also den Mordopfern und ihren Hinterbliebenen sowie den bei Anschlägen und Raubüberfällen Geschädigten, die Möglichkeit der Genugtuung und lückenlosen Aufklärung eröffnet werden soll.
Es bleibt also zu hoffen, dass die Nebenklage-Vertretung weiter diese bohrenden Fragen stellt und mit Unterstützung einer kritischen und unabhängigen Presse und nicht-kommerzieller Prozessbeobachtung diesen elektrisierenden Verdachten nachgeht und dafür sorgt, dass den zum Teil bereits verblüffend weitgehenden Erkenntnissen der Untersuchungsausschüsse weitere erhellende Ergebnisse und Enthüllungen aus dem Prozess beigefügt werden können. Denn dass es sich nicht um eine winzige Drei-Personen-Zelle gehandelt haben kann, der eine Handvoll Helfer_innen zur Seite gestanden hat, dürfte inzwischen selbst Skeptikern klar sein. Welche Nazi-Netzwerke hier im Hintergrund agierten und wieviel Staat darin u.a. über so fragwürdige V-Leute wie Tino Brandt und etwa zwei Dutzend anderer, von einem halben Dutzend polizeilicher und geheimdienstlicher Stellen Angeworbener darin verwoben war, gehört zur „lückenlosen Aufklärung“ zweifellos dazu. (vgl. analyse + kritik Nr. 584)
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