100 Tage NSU-Prozess bedeuten für alle Beteiligten im bunkerartigen, fensterlosen Gerichtssaal des Oberlandesgerichts in München im Grunde eine Art Haft in einer muffigen Massenzelle mit Beate Zschäpe und den anderen Angeklagten: die Schaulustigen, die immer noch strömen, mit eingerechnet finden sich an Gerichtstagen fast 200 Menschen im Saal ein und setzen sich unter verschärften architektonischen und arrest-ähnlichen Bedingungen dem Entsetzen über den NSU-Terror aus.
Dutzende Zeuginnen und Zeugen, Sachverständige, Vernehmungsbeamte, Gutachter, Opferangehörige und Mitarbeiter der Inlandsgeheimdienste haben schon ausgesagt und verdichten zusehends ein Bild des Schreckens. Kein Prozesstag vergeht, an dem einem nicht die Haare zu Berge stehen oder der Atem stockt, und sei es nur wegen eines unfassbaren Details. So erfährt man von einer vor Selbstmitleid zerfließenden Zeugin aus der Jenaer Nazi-Szene und dem Nahbereich eines der Angeklagten, die damals zudem Informationen an den Geheimdienst weitergegeben hat, dass sie einst in geselliger Runde mit den Protagonisten des „Thüringer Heimatschutzes“ und den späteren NSU-Mördern die abscheuliche Nazi-Variante des Monopoly-Spiels „Pogromly“ gespielt hat, das den Holocaust in widerlicher und gemeiner Art verherrlicht. Man hat sich köstlich amüsiert.
100 Prozesstage im Münchener NSU-Verfahren liegen hinter uns, das Ende des Bundestags-Untersuchungsausschusses liegt bereits ein halbes Jahr zurück und die Edathy-Affäre hat ihn noch weiter in den Hintergrund gedrängt. Die öffentliche Aufmerksamkeit für den Prozess in München beginnt langsam – erstaunlich spät – zu erlahmen, seit es nicht mehr um die Morde und das Schicksal der Opferangehörigen geht, sondern vor allem um die Nazi-Szene, aus der heraus diese Morde begangen wurden: ein Defilee von angeblich ahnungslosen oder von Erinnerungslücken geplagten Kadern wird durch den Gerichtssaal geschleust und darf in endlosen, mühsamen Befragungen mit dem schier unerschöpflichen Langmut des Gerichts rechnen. Im Klein-Klein des Gerichtsalltages mag man bisweilen aus den Augen verlieren, dass es bei dem Verfahren um 10 Morde, mindestens drei Sprengstoffanschläge mit zahlreichen, zum Teil schwer Verletzten und 15 Raubüberfälle geht.
Die großen Erwartungen, die in den spektakulären NSU-Prozess gesetzt worden sind, das wird allmählich allen deutlich, können nur enttäuscht werden: das Bedürfnis der Angehörigen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Genugtuung wird hier mit Sicherheit nur in sehr eingeschränkter Weise befriedigen werden können, nicht nur weil die Strafprozessordnung mehr nicht hergibt, sondern auch weil die Bundesanwaltschaft als Sachwalterin der Staatsräson eine lückenlose Aufklärung der Verbrechen und ihrer Hintergründe hintertreibt und zu verhindern wissen wird.Vom ersten Prozesstag an tobt eine Schlacht zwischen der Bundesanwaltschaft und einem engagierten Teil der über 50 Nebenklage-Anwältinnen und Anwälten, der mit ungeheurem Arbeitsaufwand, der weit über die 100 Prozesstage im Bunker hinausweist, Beweisanträge zusammenträgt und aus den 350.000 Seiten Ermittlungsakten herausdestilliert. Das Bemühen der Nebenklagevertretung, im Zuge des Gerichtsverfahren und im Sinne ihrer Mandantschaft auch den bodenlosen Rassismus im Apparat der ermittelnden Behörden und die zwielichtige Rolle des Inlandsgeheimdienstes und seine Verstrickung ins Geschehen auszuleuchten, lässt die Bundesanwaltschaft regelmäßig und arrogant ins Leere laufen: man sei schließlich hier kein Untersuchungsausschuss und auch nicht das Jüngste Gericht.
In Anlehnung an Rilke könnte man sagen: Der Blick ist vom Vorübergehen der Zeugen so müd' geworden, dass er nichts mehr hält, ihm ist, als ob es 1000 Zeugen gäbe und hinter 1000 Zeugen keine Welt. Die offensichtlicher werdenden Grenzen der gerichtlichen Aufklärung mahnen dazu, den Blick auch wieder auf das Geschehen außerhalb des Gerichtssaals zu öffnen und darüber nachzudenken, auf welche Weise den strafprozessualen Einschränkungen und Blockaden beizukommen wäre. Müssen nicht zwingend weitere NSU-Untersuchungsausschüsse in einem halben Dutzend Landesparlamenten – vor allem und dringend in Baden-Württemberg – installiert und der Ausschuss des Bundestages neu aufgelegt werden? Immerhin hat der Prozess bisher wenig ergeben, was nicht vorher schon in den Untersuchungsausschüssen des Bundestags und vor allem des Thüringer Landtags ans Licht gekommen war und kommt.
Und könnte nicht eine unabhängige, internationale Untersuchungskommission, eine Art NSU-Tribunal, die Bedürfnisse der Opfer und Opferangehörigen sowie einer ganzen verunsicherten Einwanderer-Community befriedigen?
Vor uns liegen gewiss weitere 100 Prozesstage und kaum jemand zweifelt noch daran, dass die Diva des Saales A 101 im Strafjustizzentrum in München, die immer noch schweigende und unbeteiligt wirkende Beate Zschäpe, den Rest ihres Lebens hinter Gitter verbringen wird und auch die Mitangeklagten dort lange Zeit bleiben werden.
Aber alles weitere wird eine Frage der parlamentarischen, institutionellen und gesellschaftlichen Aufarbeitung sein, die definitiv außerhalb des Gerichts stattfinden muss.
© Friedrich Burschel / Radio Lotte Weimar
Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - NSU-Komplex Im Bunker mit Beate
Ein Kommentar zum 100. Verhandlungstag im NSU-Prozess in München von Fritz Burschel.