Mit den gegenwärtigen Mitteln der deutschen Außenpolitik lässt sich in den Ländern des arabischen Frühlings keine Stabilität erzeugen. Deutschland sollte mehr Wert auf soziale Gerechtigkeit legen. Auch islamische Akteure sollten einbezogen werden.
Fast vier Jahre nach dem "Arabischen Frühling" von 2011 ist die Lage in den betroffenen Ländern schlechter als zuvor. Libyen, Syrien und Jemen versinken in Bürgerkriegen. Gegenüber der Militärdiktatur in Ägypten erscheint die vormalige Mubarak-Regierung fast als demokratisch. In Bahrein wurde die alte Ordnung mit Panzern wiederhergestellt. In Marokko ließ sich ein Teil der Protestbewegung mit Zugeständnissen beruhigen. Einzig in Tunesien ist eine positive Entwicklung auszumachen.
Die Stabilisierung dieser Länder liegt im außenpolitischen Interesse der Bundesregierung. Stabilität soll Absatzmärkte sichern und dazu beitragen, Flüchtlingszahlen zu begrenzen und (islamistischen) Terrorismus zu bekämpfen. Am Beispiel von Tunesien möchte ich zeigen, warum das mit den gegenwärtigen Mitteln nicht funktionieren wird.
Soziale Gerechtigkeit als Stabilisierungsfaktor
Die hohe Armutsrate und die großen Entwicklungsunterschiede innerhalb Tunesiens werden als wesentliche Ursachen für die Proteste gesehen, die vor fast vier Jahren zur Flucht des Diktators Ben Ali führten. Die Wirtschaft Tunesiens ist heute jedoch in einem schlechteren Zustand als vor 2011. Die Infrastruktur ist ausbaubedürftig, Touristenzahlen sind stark zurückgegangen, die Arbeitslosigkeit ist groß. Die gängige Auffassung der Entwicklungshilfe ist, dass wieder ein investitionsfreundliches Klima geschaffen werden müsse. Damit könne die Zahl der Arbeitsplätze erhöht und den Menschen ein besseres Leben ermöglicht werden. Tunesien ist jedoch noch aus Diktaturzeiten hochverschuldet und verschuldete sich wegen zurückgehender Einnahmen ab 2011 weiter.
17 Prozent des tunesischen Staatshaushalts von 2014 werden vom Schuldendienst verschlungen. Zum Vergleich: für Bildung sind 13 Prozent des Etats, für Gesundheit 5,4 Prozent und für regionale Entwicklung 1,5 Prozent eingeplant. Vor allem letzteres, die regional ungleiche Entwicklung Tunesiens, wird von internationalen Gebern als wichtiger Mangel gesehen, an dessen Behebung auch mit deutschen Projekten gearbeitet wird. Solange jedoch das heutige Tunesien die verzinsten Schulden des alten Regimes begleichen muss, fehlen die Mittel für die Erfüllung gesellschaftlicher Grundbedürfnisse. Eine auf Krediten und ausländischen sowie privaten Investitionen basierende Wirtschaft kann zwar schlecht bezahlte Arbeitsplätze schaffen. Langfristig profitieren werden jedoch die ausländischen Kreditgeber und die Privatinvestoren.
Es ist zudem davon auszugehen, dass ohne gleichberechtige Ressourcenverteilung und ohne verbesserte Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsysteme keine politische Kraft Tunesiens den glaubwürdigen, nachhaltigen Ausbau demokratischer Institutionen vorantreiben kann. Bevölkerungsteile ohne Mitbestimmungsrechte und ohne Ressourcenzugang können dann nur wieder mit Gewalt kontrolliert werden. Alle wohlmeinenden Unterstützungsprojekte für eine nationale Wirtschaft greifen zu kurz, solange diese in Abhängigkeit gehalten wird. Ein Schuldenerlass würde Tunesien (und anderen Ländern der Region) jedoch die Möglichkeit für souveräne Entwicklung geben.
Pluralismus heißt, islamische Akteure einbeziehen
Die Bundesregierung setzte in Tunesien auf anderem Gebiet positive Maßstäbe. Nach dem Wahlsieg der islamischen En-Nahda im Oktober 2011 legte das Außenministerium seine Scheuklappen gegenüber den Islamisten ab und warb für die Kooperation mit moderaten Strömungen innerhalb der Partei. Zu wünschen wäre, dass dieser Kurs fortgeführt wird, auch wenn En-Nahda seit den Wahlen 2014 nur noch zweitstärkste Kraft im Lande ist (sie erreichte jedoch in allen südlichen, von der Ressourcenverteilung benachteiligten Wahlkreisen die Mehrheit).
Fänden in arabischen Ländern freie Wahlen statt, würden Akteure des politischen Islam sicherlich große Stimmenanteile gewinnen. Sie verfügen über einen, im Gegensatz zu den meisten anderen politischen Kräften, unvergleichlichen hohen Organisierungs- und Mobilisierungsgrad. Sie sind wesentliche Akteure für politische Veränderung. Viele derjenigen, die sich zur Wahlen stellen (würden), sind in unterschiedlichen Kontexten damit beschäftigt, Fragen der gesellschaftlichen Identität, die Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit sowie freiheitliche Ideen mit ihren Vorstellungen von islamischer Lebensführung in Einklang zu bringen. Wenn beispielsweise die Muslimbruderschaft in Ägypten 2011 nicht Teil der Proteste gewesen wäre, hieße der Präsident heute noch Mubarak. Seither hat sich die Bewegung transformiert und verschiedene Strömungen hervorgebracht, von erzkonservativ bis fortschrittlich.
Die offizielle Politik muss einen politischen Umgang mit diesen Akteuren finden, weg vom bloßen Sicherheitsdenken oder dem religions- und kulturfixierten „Dialog mit dem Islam“. Islamisch bedeutet nicht undemokratisch. Und Säkularismus ist nicht synonym mit Demokratie. Dies zeigt nicht zuletzt die neue Militärdiktatur in Ägypten, die der vormaligen Regierungspartei (Muslimbrüder) und jeder weiteren Opposition mit Repression begegnet.
Zurück zu Tunesien: En-Nahda hat eine Ausstrahlung in der gesamten Region. Sie stellt eine Kraft dar, die bereits seit den 1980er Jahren für einen demokratischen Islam eintritt; eine Haltung, die die Bewegung trotz Gefängnis, Folter und Exil durchgehalten hat. En-Nahda ist deshalb eine glaubwürdige Kraft für eine Islaminterpretation, die für Demokratie und Pluralismus streitet, auch wenn die Bewegung in den ersten zwei Jahren nach 2011 einen politischen Schlingerkurs vollführte. Aber wer tat das in den sogenannten Transformationsländern der Region nicht?
Das heißt nicht, dass diese islamischen Akteure heute die Freiheitswerte vertreten, für deren Entwicklung Europa Hunderte von Jahren brauchte. Aber es muss zugestanden werden, dass es islamische und nicht-islamische Kräfte im arabischen Raum gibt, die auf einem guten Wege sind. Diese sollten Partner derjenigen sein, die Pluralismus in arabischen Ländern unterstützen.
Selbst bei einer ausschließlichen Betrachtung der arabischen Länder und Gesellschaften durch die Sicherheits- und Terrorismusbrille ist die Achtung dieser islamischen Kräfte geboten. Denn wer soll Bewegungen wie dem Islamischen Staat inhaltlich etwas entgegensetzen, wenn nicht diejenigen islamischen Akteure, die den Koran und die Prophetentradition als Basis für demokratische Entwicklung und friedliches Miteinander interpretieren?
Für die Glaubwürdigkeit der Demokratieunterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland wäre zugestandene Souveränität und nicht Bindung durch Schuldendienst zudem ein großer Gewinn. Und die politische Anerkennung derjenigen islamischen Akteure, die auf friedlichem Wege an der Verbesserung sozialer Gerechtigkeit arbeiten, wäre die tatsächliche Umsetzung der deutschen Werbung für Demokratie und Menschenrechte.
Der Text ist erschienen in dem Blog «Review 2014 - Außenpolitik weiter denken» |