Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung Ohne Visionen

Zum Friedenskongress von Bündnis 90 / Die Grünen am 7./8. März 2008 in Berlin

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Jochen Weichold,

Erschienen

März 2008

Die Grünen müssten wieder das Realpolitische im Utopischen erkennen, verlangte der Bundestagsabgeordnete Winfried Hermann im Pazifismus-Workshop des Friedenskongresses der Grünen am 7./8. März 2008 in Berlin. Der Kongress zeigte aber eher, dass den einstigen Ökopaxen vor lauter Pragmatismus die Visionen abhanden gekommen sind. Vor allem die Führungsriege der Partei hatte stets die Schere der künftigen Regierungsfähigkeit (und das heißt der Passfähigkeit an einen Seniorpartner) im Kopf.

Berichte und Positionspapiere

Von diesem Herangehen war bereits der sogenannte Zwischenbericht der „Friedenspolitischen Kommission“ der Partei gekennzeichnet, der im Vorfeld des Kongresses veröffentlicht worden war. Das konnte insofern nicht verwundern, als der Kommission unter dem Vorsitz von Parteichefin Claudia Roth Parteistrategen wie Fritz Kuhn, Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Angelika Beer und Fischer-Intimus Daniel Cohn-Bendit angehören, die zumeist in die rot-grüne Regierungspolitik der Jahre 1998 bis 2005 eingebunden waren.

Dieser Bericht analysierte die rot-grüne Außenpolitik und wertete den Kosovokrieg 1999 als Sündenfall grüner Außenpolitik, jedoch nicht als Fehler. Damals hatte sich die Bundesrepublik Deutschland ohne Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) am NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien im Konflikt um das Kosovo beteiligt. Die Konsequenz, die die friedenspolitische Kommission nun zog, lautete: mehr Krisenprävention. Trotz der Kritik im Detail urteilten die Autoren: „Unterm Strich ist die Bilanz positiv. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst von Joschka Fischer. Rot-Grün hat in den Jahren der Bush-Regierung Europa, die Vereinten Nationen und die Bemühungen um einen kooperativen Multilateralismus entscheidend gestärkt.“

Deutschland müsse aber bereit sein, verlangte der Report, „einen größeren Beitrag für die Friedenssicherung innerhalb der VN zu leisten – durch das Bereitstellen von Blauhelmen und Polizisten, durch finanzielles Engagement, durch diplomatische Initiativen und weitere Maßnahmen, die geeignet sind, VN-mandatierte Friedenssicherung zu effektivieren.“ Das Letztgenannte dürfte wohl auch NATO-Einsätze einschließen.

Nicht nur die radikale linke „Grüne Friedensinitiative“ von Wilhelm Achelpöhler und Ulrich Cremer hatte harsche Kritik an diesem Zwischenbericht geübt, auch die Grüne Jugend setzte sich in einer umfangreichen Broschüre detailliert mit dem Papier auseinander. Das Gegenpapier der „Grünen Friedensinitiative“ konstatierte, dass mit der von der Kommission vorgelegten außenpolitischen Konzeption „ein eigenständiges GRÜNES Profil in diesem Bereich weiter aufgegeben“ werde und verriss den Zwischenbericht als „unehrlich“.

In der Tat spiegelt sich der tiefe Konflikt innerhalb der Grünen, der sich auf dem Sonderparteitag Mitte September 2007 in Göttingen in der Ablehnung des Antrags der Parteiführung geäußert hatte, überhaupt nicht im Papier der „Friedenspolitischen Kommission“ wider. Damals war es dem bis dahin völlig unbekannten Robert Zion mit seinem widerständigen Kreisverband Gelsenkirchen gelungen, eine Parteitagsmehrheit von der Notwendigkeit der Ablehnung des Afghanistan-Einsatzes samt Tornados zu überzeugen.

Die „Grüne Friedensinitiative“ warf der „Friedenspolitischen Kommission“ insbesondere vor, lediglich die „Attitüde des GRÜNEN Andersseins“ hochzuhalten, habe doch die Gewaltfreiheit für Die Grünen mittlerweile die „Rolle eines alten Familienmöbels angenommen, das man pietätvoll erhält, das aber von keinem großen praktischen Nutzen mehr ist“. Die Grünen würden Gewaltfreiheit lediglich noch als Ziel für die Zukunft benennen, hätten sich jedoch längst mehrheitlich zum Militär bekannt. Forderungen nach Abschaffung der Bundeswehr oder Überwindung der NATO würden längst der Vergangenheit angehören. Der Zwischenbericht der „Friedenspolitischen Kommission“ setze sich daher die Aufgabe, „zu klären, unter welchen Bedingungen das deutsche Militär eingesetzt werden und wie es dafür aussehen soll“. Insgesamt sei das Papier von dem Bemühen um Anschlussfähigkeit an die Regierungspolitik gekennzeichnet.

Weitaus gemäßigter ist der Ton, der im „Abschlussbericht der friedenspolitischen Kommission der Grünen Jugend“ angeschlagen wurde. Dieser Bericht spendet Lob und Tadel, ist jedoch deutlich kritischer als der Zwischenbericht der „Friedenspolitischen Kommission“. Als Kernerfolge werden eine Begrenzung und Reglementierung von Rüstungsexporten sowie substanzielle Fortschritte in der Ermöglichung ziviler Krisenprävention und der Förderung von Friedensforschung ausgemacht. Zum Negativ-Saldo gehöre, dass es den Grünen bereits in den rot-grünen Koalitionsverträgen „im Bereich der Friedenspolitik nicht gelang, Kernstücke ihrer Programmatik, wie die Abschaffung der Wehrpflicht und die Zurückdrängung der NATO, zu verankern; genauso wenig konnte die Reform der Vereinten Nationen vorangetrieben werden“. Fakt bleibe auch, „dass die Militarisierung Deutschlands und der internationalen AkteurInnen – konträr zu grünen Vorstellungen – nicht verhindert wurde“.

Eröffnungs-Statement der Parteivorsitzenden

Auf dem Friedenskongress selbst, auf dem die verschiedenen Berichte neben weiteren Papieren auslagen, erklärte Parteichefin Claudia Roth in ihrem Einführungs-Statement hinsichtlich der Bilanz rot-grüner Außenpolitik, Die Grünen hätten es geschafft, im Bereich der zivilen, nicht-militärischen Konfliktbearbeitung „entscheidende konzeptionelle Weiterentwicklungen auch ganz praktisch durchzusetzen“. Dies und das Nein zum Irak-Krieg sowie das starke europapolitische Engagement gehörten eindeutig zur Haben-Seite grüner Außenpolitik. Gemischt sei hingegen die Bilanz bei den Menschenrechten, bei Abrüstung und Rüstungsexporten. Unkritische Exportförderpolitik gerade gegenüber Russland und China aus dem Kanzleramt, gepaart mit Desinteresse an Fragen der Menschenrechte, hätten der Glaubwürdigkeit rot-grüner Außenpolitik geschadet.

Strittig seien bei den Grünen Entscheidungen wie der Einsatz im Kosovo. Grüne Politik habe damals vor einem Dilemma gestanden und „konnte eigentlich nur zwischen zwei falschen Alternativen wählen“. Solche Dilemmata in der Zukunft vor allem zu vermeiden, sei eine vordringliche Aufgabe grüner Politik. In diesem Kontext setzte sich die Parteivorsitzende für eine Renaissance der Abrüstung, für eine langfristige Politik der Krisen- und Konfliktprävention, für eine Stärkung der zivilen Krisenreaktion, für die Ausgestaltung der Zivilmacht Europa und für eine Stärkung der UNO ein.

Hinsichtlich Afghanistans legte Roth dar: „Wir sind prinzipiell für den VN-mandatierten Einsatz zur Absicherung des zivilen Wiederaufbaus, kritisieren aber die falsche Strategie der Bundesregierung.“ Die Bundeswehr werde nicht ewig in Afghanistan bleiben können. Um die beständige Eskalationsspirale zu stoppen, bedürfe es dringend eines Strategiewechsels. „Neben einer zivilen Offensive gehört dazu eine prinzipielle Unterstützung von ISAF, die Beendigung von OEF und der Abzug der deutschen Tornados.“

Grüne Außenpolitik, betonte die Parteivorsitzende, sei parteiisch für die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte. Sie rücke die gewaltfreie Beseitigung der vielfältigen Ursachen von Gewalt und Konflikten ins Zentrum der Politik. Grüne Politik sei und bleibe militärkritisch: „Wir sind für eine Politik der Entmilitarisierung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen. Krieg als Geißel der Menschheit muss geächtet werden.“ Dafür seien die UNO und das Völkerrecht unverzichtbar.

Auch im Kampf gegen den Terrorismus, so die Spitzen-Grüne, dürfe es keine Erosion des Rechts geben, „sonst haben wir schon verloren, was wir verteidigen wollen“. Rechtsfreie Räume wie Guantanamo oder Bagram diskreditierten die Demokratie als solche und müssten umgehend geschlossen werden.

„Wir setzen auf einen kooperativen Multilateralismus und nicht auf das Recht des Stärkeren“, hob Claudia Roth hervor. Generell würden sich die großen Menschheitsherausforderungen wie der Klimawandel nur miteinander und nicht gegeneinander bewältigen lassen. Später, im Pazifismus-Workshop, warf der renommierte Friedensforscher Prof. Dr. Ekkehard Krippendorf der grünen Parteichefin mangelnde Substanz und eine „Aneinanderreihung von Sprechblasen“ vor.

Plenarveranstaltungen und Workshops

Auf dem Eröffnungs-Panel bestand Einigkeit hinsichtlich der Gefahren und Herausforderungen, vor denen die Außen- und Sicherheitspolitik in den kommenden Jahren stehen wird. Unterschiede gab es lediglich im Ranking der wichtigsten Gefahren und Herausforderungen. Außen- und Sicherheitspolitik müsse reagieren auf das Problem der globalen Armut, auf den Klimawandel, auf das Problem zerfallender Staaten bzw. von Räumen begrenzter Staatlichkeit, auf Aufrüstung und auf Ressourcenkrisen, auf das Problem des internationalen Terrorismus oder auf das Phänomen des Aufstiegs neuer Mächte wie China und Indien.

In vier weiteren Plenarveranstaltungen und in einem Dutzend Workshops diskutierten die rund 300 Teilnehmer unter dem Motto „Konflikte erkennen. Frieden bewegen“ Fragen der Krisenprävention und der zivilen Krisenbearbeitung, Fragen der Entwicklungszusammenarbeit, der Abrüstung und des Pazifismus, aber auch Fragen der Entwicklung der NATO oder der Verhältnismäßigkeit zukünftiger militärischer Einsätze unter UNO-Mandat in Krisenregionen. Nicht zuletzt ging es um ein Stück Selbstreflexion grüner Außenpolitik der Jahre 1998 bis 2005 und um die Perspektiven grüner Friedens- und Sicherheitspolitik.

In den Debatten spielte der Afghanistan-Konflikt eine zentrale Rolle. Einigkeit bestand unter den Experten, dass die Afghanistan-Frage nicht mit militärischen Mitteln zu lösen ist. Es bedarf dringend einer Verstärkung der zivilen Hilfe – von der Verwaltung über die Polizei bis zum Rechtssystem. Die für zivile Hilfe bereitgestellten Finanzmittel seien völlig ungenügend, unterstrich der stellvertretende Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin, in diesem Kontext. Selbst der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, erklärte, in Krisengebieten sollte der Einsatz von Militär nur das letzte Mittel sein. Parteichefin Claudia Roth beklagte: „Wir haben heute in Deutschland 250.000 Soldaten und können kaum 100 Polizisten nach Afghanistan schicken. Wir leisten uns teure Eurofighter und haben zu wenig Mittel für humanitäre Hilfe.“

Mögliche Hoffnungen der grünen Basis, mit Barack Obama oder Hillary Clinton als neue Präsidenten würde sich die Afghanistan-Politik der USA zum Positiven verändern, wurden sowohl von den Experten wie von führenden Grünen-Politikern gedämpft: In dieser Frage werde es kaum eine Änderung der US-Politik geben.

„Responsibility to Protect“ heißt das neue Zauberwort, mit dem (künftige) „humanitäre“ Interventionen auch ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates begründet werden. Wenn ein Staat seine Bürger vor Menschenrechtsverletzungen nicht schützen kann oder an seinen Bürgern Menschenrechtsverletzungen begeht, könnte danach die NATO – wie an der Jahrtausendwende im früheren Jugoslawien – in diesem Staat intervenieren. Grüne Basisvertreter kritisierten, dass in der Frage der Menschenrechte ganz offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen werde. Verstößt ein kleines Land gegen die Menschenrechte, wird interveniert. Verletzen Russland, China oder die USA diese Rechte, werde bestenfalls der Zeigefinger erhoben.

Ganz staatsmännisch verwiesen führende Grünen-Politiker auf die Begrenztheit der Mittel. Solle man denn, fragte scheinheilig die Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, nicht wenigstens einen Teil der Hungernden in der Welt speisen, auch wenn man keineswegs allen Hungernden helfen könne? Solle man ihnen sagen, da wir nicht allen helfen können, helfen wir euch auch nicht? Das von ihr bemühte Bild konnte die Zweifler wohl kaum überzeugen, verdeutlichte aber, wie politischer Pragmatismus der Führungsriege grüne Prinzipien durchlöchert und unglaubwürdig werden lässt.

Im Kosovo-Workshop verteidigten die Grünen-Politiker in ihren Statements die Anerkennung der Unabhängigkeit dieses Teils des serbischen Staates als alternativlos. Sowohl der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion der Grünen, Volker Beck, als auch Marieluise Beck und die Europa-Abgeordnete Gisela Kallenbach beteuerten unisono, es sei sicher die schlechteste Lösung, aber man habe keine andere Wahl gehabt. Hinweise der grünen Basisvertreter auf die Beispielwirkung dieses Aktes für Süd-Ossetien, Abchasien oder die Serbische Republik in Bosnien-Herzegowina wurden von den Abgeordneten und ihren Mitarbeitern mit der Bemerkung abgetan, mögliche Unabhängigkeitserklärungen dieser autonomen Republiken bzw. Gebiete würden international bestimmt nicht anerkannt werden. Hingegen qualifizierte der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo als klaren Völkerrechtsbruch.

In der Abschlussdiskussion zu „Bilanz und Ausblick grüner Friedenspolitik“ kam Ralf Fücks, Vorstand der grün-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, auf die eingangs umrissenen Gefahren und Herausforderungen zurück. Er glaube, dass die These vom „Clash of Civilizations“ drohe, Wirklichkeit zu werden. Dieser „Clash of Civilizations“ werde „gravierende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft“ haben. Erforderlich sei eine „strategische Initiative“, mit moderaten Kräften in muslimischen Gesellschaften zu kooperieren. Daher müssten sich Die Grünen für einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union (EU) einsetzen, bedürfe es des Ausbaus der Entwicklungshilfe und der Energiekooperation. Erforderlich sei ein sehr viel stärkeres Engagement der EU im Nahost-Konflikt, seien erhöhte Anstrengungen zur Stabilisierung von Afghanistan und Pakistan und nicht zuletzt des Irak. „Wir werden mehr Ressourcen einsetzen müssen für Außen- und Entwicklungspolitik – vor allem wirtschaftliche und kulturelle.“ Hier komme den politischen Stiftungen eine wichtige Aufgabe zu.

Parteichefin Claudia Roth unterstrich in der Abschlussrunde die Bedeutung des Prinzips „Responsibility to Prevent“. Die frühzeitige Erkennung von Konflikten, das Herausfinden und Analysieren der Ursachen und das zivile, präventive Engagement seien der Schlüssel grüner Friedens- und Sicherheitspolitik.

Resümee

Resümiert man den Friedenskongress der Grünen in Berlin, dann fallen folgende Punkte ins Auge:

Erstens. Wer auf dem Friedenskongress der Grünen spannende Debatten erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Kongress-Regie hatte die Podien zwar durchaus hochkarätig besetzt, doch waren sich die dort agierenden Wissenschaftler und Politiker in allen wesentlichen Fragen weitgehend einig. Vertreter der Parteibasis, die auf dem Afghanistan-Parteitag in Göttingen im September 2007 gegen die Führungsriege der Partei einen Kurswechsel erzwungen hatten, waren auf den Podien nicht präsent. Die Chance, eine kritische Bilanz rot-grünen Regierungshandelns zu ziehen, wurde so verspielt.

Zweitens hatte die Kongress-Regie generell für eine Meinungsäußerung der Teilnehmer wenig Zeit eingeräumt. Selbst in einer Reihe von Workshops waren die Politprofis aus dem Bundesvorstand, aus der grünen Bundestagsfraktion und dem Europa-Parlament (Abgeordnete wie ihre Mitarbeiter) überproportional vertreten. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die grüne Führungsriege eine Diskussion mit der Parteibasis fürchtete und daher eher behindern wollte. Es ging ihr offenbar darum, den grünen Basisvertretern zu verdeutlichen, dass sie sich auch künftig auf Ereignisse wie Jugoslawien- und Afghanistan-Kriege einstellen müssten.

Drittens diente der Friedenskongress der Vorbereitung der Erarbeitung der Wahlprogramme der Öko-Partei zu den Europa-Wahlen und zur Bundestagswahl im kommenden Jahr. Es war erklärtermaßen kein Afghanistan-Kongress beabsichtigt, sondern eine Veranstaltung, die die künftigen Leitlinien grüner Außen- und Sicherheitspolitik markieren und die Regierungsfähigkeit der Grünen unter Beweis stellen sollte.