Der Vertrag über die Ächtung des Krieges wurde vor achtzig Jahren, am 27. August 1928 in Paris unterzeichnet (er trat am 24. Juli 1929 in Kraft). Doch nicht nur wegen des „runden“ Datums ist es angezeigt, sich dessen zu erinnern. Die Ächtung des Krieges, d.h. das Verbot und die tatsächliche Unterbindung der Kriegsführung zum Zwecke der Durchsetzung machtpolitischer oder wirtschaftlicher Interessen ist immer noch oder wieder eine aktuelle Aufgabe.
I.
Die diplomatiegeschichtliche Konstellation entsprang übrigens nicht hehren Zielen, sondern der internationalen Lage auf dem europäischen Kontinent in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Deutschland, das die Hauptschuld am Entstehen des ersten Weltkrieges trug, und die Mittelmächte hatten jenen Weltkrieg verloren. Der Versailler Vertrag postulierte allerdings eine Alleinschuld Deutschlands an jenem Kriege, was einerseits die anderen imperialistischen Mächte exkulpierte und andererseits den Forderungen nach Revanche in Deutschland zusätzlichen Auftrieb gab. Deutschland erholte sich trotz Reparationen wirtschaftlich. Frankreich, das eine führende Stellung im Völkerbund einnahm und die eigentliche Garantiemacht der europäischen Vertragssysteme war, sah sich nicht in der Lage, diese politisch, wirtschaftlich und militärisch dauerhaft zu garantieren. Großbritannien war an einer solchen Stellung Frankreichs auch nicht interessiert. Aristide Briand (1862-1932), der seit Jahrzehnten ein führender Politiker Frankreichs war, trat zum einen für einen französisch-deutschen Ausgleich ein; in diesem Sinne hatte er 1925 die Locarno-Verträge mit auf den Weg gebracht. Zum anderen suchte er als Außenminister 1927 eine Stärkung der Position Frankreichs durch eine sichtbare Anlehnung an die USA zu erreichen. So schlug er der US-Regierung vor, zwischen beiden Staaten einen „Vertrag über ewige Freundschaft und über das Verbot der Anwendung des Krieges als Mittel nationaler Politik“ abzuschließen.
Der Außenminister der USA, Frank Billings Kellogg (1856-1937), nahm den Vorschlag auf, modifizierte ihn aber dahingehend, dass er anregte, einen mehrseitigen Vertrag abzuschließen. Die USA wollten eine herausgehobene Position Frankreichs in Europa nicht stützen, und diesem blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Am 13. April 1928 unterbreiteten die USA Großbritannien, Deutschland, Italien und Japan den Vorschlag, sich zu einem solchen Vorschlag zu äußern. Nach diplomatischem Hin und Her wurde der Vertrag schließlich am 27. August 1928 von neun Staaten unterzeichnet, am 31. August 1928 trat auch die Sowjetunion bei (die ursprünglich nicht vorgesehen war). Seine Benennung nach den beiden Außenministern, Briand und Kellogg, blieb.
Die wichtigste Feststellung wird bereits in der Präambel getroffen, wo es heißt, „dass die Zeit gekommen ist, einen offenen Verzicht auf den Krieg als Werkzeug nationaler Politik auszusprechen“. Demgemäß erklären die Unterzeichnerstaaten im Artikel I, „dass sie den Krieg als Mittel der Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten“. Der Artikel II bestimmt in diesem Sinne, „dass die Regelung und Entscheidung aller Streitigkeiten oder Konflikte, die zwischen ihnen entstehen könnten, welcher Art und welchen Ursprungs sie auch sein mögen, niemals anders als durch friedliche Mittel angestrebt werden soll“.
Betrachten wir die Geschichte danach, so sind diesen hohen Bestimmungen die Massaker und Verbrechen des zweiten Weltkrieges gefolgt. Die Verpflichtung zum Frieden wurde jedoch zum konstituierenden Prinzip der UNO-Charta und des Völkerrechts, das nach 1945 geschaffen wurde. Doch auch für die seither vergangenen Jahrzehnte gilt: Es tobte und tobt bis heute eine Vielzahl von Kriegen. Es macht jedoch einen Unterschied, ob das internationale Recht dies sanktioniert, oder aber als Rechtsbruch anklagt. Der Briand-Kellogg-Pakt bedeutete in diesem Sinne einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte der internationalen Politik und des Völkerrechts.
II.
Angesichts der riesigen, bis dahin ungekannten Zahl von Opfern des ersten Weltkrieges – insgesamt kamen rund zehn Millionen Menschen ums Leben – rückte die Forderung nach einer Welt ohne Kriege stärker in das Zentrum der politischen Aufmerksamkeit als je zuvor. Dennoch führte der von Hitlerdeutschland vom Zaune gebrochene zweite Weltkrieg zu noch mehr Toten. Etwa 60 Millionen Menschen waren 1939 bis 1945 dem zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen, darunter über 20 Millionen aus der Sowjetunion (nach späteren Schätzungen sogar 26 Millionen). Angesichts der gewaltigen Zerstörungskraft der Waffen, nicht zuletzt nach dem Abwurf der US-amerikanischen Atomwaffen gegen Hiroshima und Nagasaki, war klar, dass ein dritter Weltkrieg die Existenz der Menschheit bedrohen würde. Zugleich war am Ende des Krieges mit der Errichtung der Organisation der Vereinten Nationen, der UNO-Charta und dem UNO-Sicherheitsrat versucht worden, eine mit internationaler Exekutivkompetenz ausgestattete starke Weltorganisation zu schaffen, die zur Sicherung des Weltfriedens beiträgt. Dies geschah nur zum Teil, da die beiden Hauptmächte des Kalten Krieges – die USA und die UdSSR – ihre Vetomacht im Sicherheitsrat benutzten, um sich und ihre jeweiligen Verbündeten bzw. Klienten vor einer Verurteilung zu bewahren.
Insofern war die Zeit von 1945 bis 1990, vom Ende des zweiten Weltkrieges bis zur „Charta von Paris“, nicht eine Phase allgemeinen Friedens, sondern politischer, wirtschaftlicher, geistiger und nicht zuletzt militärischer Auseinandersetzungen, dies zunächst auch in Europa. In Polen und Griechenland gingen bewaffnete Bürgerkriege bis 1948; sie wurden in Polen zugunsten des Realsozialismus und in Griechenland zugunsten des Westens entschieden. Die Auseinandersetzungen in und um Deutschland wurden mit der Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen, der Blockade Westberlins (Juni 1948 bis Mai 1949) durch die Sowjetunion und der Luftbrücke durch die Westalliierten, die doppelte Staatsgründung 1949 bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 geführt. Danach war klar, dass die zwei deutschen Staaten in die beiden gesellschaftlich-politischen Systeme und Bündnisorganisationen eingeordnet sind, solange die Bedingungen des Kalten Krieges und der Systemauseinandersetzung anhalten. Durch die Verträge der Sowjetunion und Polens mit der Bundesrepublik Deutschland (1970), das Vierseitige Abkommen über Westberlin (1971), die darauf folgenden Verträge zwischen der DDR und der Bundesrepublik sowie zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik und schließlich die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (1975) wurde die Lage in Europa entspannt und produzierte keine eigenen Kriegsgefahren mehr.
Charakteristisch für den Kalten Krieg blieben jedoch Kriege an der „Peripherie“ des Ost-West-Konflikts, d.h. Kriege in Asien, Afrika und Lateinamerika. Insbesondere waren dies der Korea-Krieg der USA und des Westens (1950-53), die Vietnam-Kriege Frankreichs (1946-54) und der USA (1965-75), die Kriege im Nahen Osten seit 1956, der Afghanistan-Krieg der Sowjetunion (1979-89) sowie seit den 1960er Jahren mehrere Kriege in Afrika und der von den USA geführte Krieg gegen die Sandinistas in Nikaragua (1981-90). Hinzu kam das Wettrüsten zwischen USA und UdSSR, NATO und Warschauer Vertrag als die dritte Dimension der Ost-West-Auseinandersetzung. Insbesondere das Rüsten auf dem nuklear-strategischen Gebiet produzierte die Gefahr eines mit Atomwaffen geführten Weltkrieges, der die Vernichtung der Menschheit hätte zur Folge haben können. Die wohl deutlichste Zuspitzung war die „Kuba-Krise“ 1962, als beide Seiten plötzlich merkten, dass ihre Politik der Eskalation des Konfliktes an den Rand des Abgrundes geführt hatte. Es wurde vereinbart, dass die USA Kuba nicht militärisch angreifen und die Sowjetunion im Gegenzug keine Mittelstreckenraketen auf Kuba stationiert. Danach folgten Schritte zur Eindämmung des Wettrüstens, so die Einrichtung einer direkten Telefonverbindung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml, der Vertrag über die Begrenzung der Kernwaffenversuche (1963), der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (1968) sowie die Verträge zur Begrenzung strategischer Waffensysteme, zum Verbot biologischer Waffen und zur Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen (1970er und 80er Jahre).
In der Rückschau betrachtet war der Kalte Krieg „kalt“ in dem Sinne, dass er auf der globalen Ebene vor allem als Wettrüsten, aber nicht als großer Krieg geführt wurde; im Herzen Europas war er eine Auseinandersetzung, die vor allem mit politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Mitteln geführt wurde, während in der Welt des Südens tatsächlich blutige Kriege „niederer Intensität“ („niedrig“ im Vergleich zu dem gedachten und geplanten atomaren Weltkrieg) geführt wurden.
Der Ost-West-Konflikt, oder, mit einem anderen Wort, die Systemauseinandersetzung zwischen dem Realsozialismus und dem Westen endete in einer heroischen Illusion. Gorbatschow, Schewardnadse, Jakowlew und andere, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in Moskau Verantwortung trugen, hatten mit der von ihnen verantworteten Friedenspolitik der Sowjetunion die USA in eine außenpolitische Defensive gebracht, den Rückzug aus Afghanistan und anderen Ländern der Welt sowie einseitige Schritte der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung vollzogen und faktisch den Kalten Krieg beendet. Dabei waren sie davon ausgegangen, dass die systemische Differenz zwischen den beiden Gesellschaftssystemen die eigentliche Ursache der Spannungen und der Kriegsgefahr gewesen sei. Die „Charta von Paris für ein neues Europa“ als Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Staaten der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) vom 21. November 1990 wurde in diesem Sinne als Dokument der Beendigung des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation angesehen. Frieden, eine auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhende Demokratie sowie Marktwirtschaft sollten die gemeinsame Grundlage der weiteren Entwicklung Europas sein.[1]
III.
Tatsächlich jedoch wurde bereits mit dem Golfkrieg von 1990, das heißt vor der Unterzeichnung jener „Charta von Paris“, etwas anderes deutlich: Die USA unter Bush I wollten diesen Krieg, um ihre Dominanz in der angestrebten „Neuen Weltordnung“ – das heißt der internationalen Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts – deutlich zu machen. Die vielleicht folgenreichste Illusion am Ende des 20. Jahrhunderts war die, das Ausräumen des Ost-West-Konflikts würde eine lange Phase des Friedens einleiten. Auf das Ende der Organisation des Warschauer Vertrages ist nicht die Auflösung der NATO gefolgt, wie auch im Westen viele Friedensforscher Anfang der 1990er Jahre annahmen (oder hofften), sondern diese wurde mit veränderten Aufgaben versehen und zu einer weltweit einsatzfähigen Interventionsmaschinerie umgebaut. Insofern bleiben NATO-Auflösung und zunächst Austritt aus deren Militärorganisation wichtige, langfristige politische Forderungen der Linken.
Diese Illusion hatte einen speziellen Namen: „Friedensdividende“. Gemeint war, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und des damit verbundenen Wettrüstens würden Mittel frei werden, die weltweit in die Lösung sozialer, ökologischer und anderer drängender Probleme gesteckt werden könnten. Einige Zeit in den 1990er Jahren sah es so aus, als würde es in diese Richtung gehen. Jedenfalls sanken zunächst die Rüstungsausgaben. US-Präsident Bush II hat seit 2001 (dem „11. September“) drastisch umgesteuert. 2006 stiegen die Militärausgaben gegenüber dem Vorjahr um 3,5 Prozent und erreichten weltweit 1204 Milliarden US-Dollar. Das ist die Größenordnung, die am Ende der Block-Konfrontation und der Reagan-Jahre, die ebenfalls Hochrüstungsjahre waren, im Jahre 1988 erreicht worden war. 528 Milliarden Dollar, das sind 46 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben, entfallen dabei allein auf die USA. Sie sind heute das einzige Land der Welt, das militärtechnologisch von anderen Staaten unabhängig ist. 80 Prozent ihres Umsatzes wickeln die US-amerikanischen Rüstungskonzerne mit den US-Streitkräften ab, nur 20 Prozent entfallen auf Exporte, die allerdings ebenfalls die größten der Welt sind. Damit sind die USA weder auf Importe für ihre Streitkräfte noch auf Exporte für ihre Rüstungsfirmen angewiesen – nahezu alle anderen Staaten der Welt sind auf Importe, und seien es nur einzelne Waffensysteme oder Komponenten, angewiesen, und Russland, der zweitgrößte Exporteur der Welt, auf Erlöse aus dem Export, um seine Produktion und waffentechnische Entwicklung weiter betreiben zu können. Für das Haushaltsjahr 2008 hat die Bush-Regierung eine neuerliche Erhöhung der Militärausgaben vorgesehen, nun auf 647 Milliarden Dollar. Das ist eine Verdopplung seit 2001. Weltweit sind die Militärausgaben in dieser Zeit um über 25 Prozent gestiegen.
Weitere zwanzig Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben entfallen auf die anderen NATO-Länder (das heißt die NATO ohne die USA), was praktisch bedeutet, dass die NATO für etwa zwei Drittel dieser Ausgaben weltweit verantwortlich ist. Die Militärhaushalte Chinas und Rußlands steigen ebenfalls, machen jedoch nur fünf bzw. drei Prozent der Rüstungsausgaben in der Welt aus. Rußland erhöhte seine Rüstungsausgaben auf geschätzte 34 Milliarden Dollar (2008), China von 26,1 Milliarden US-Dollar im Jahre 2001 auf etwa 66 Milliarden (2008). Der durchschnittliche Anteil der Rüstungausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt im Falle der USA bei vier Prozent und im Durchschnitt der anderen NATO-Länder bei 1,7 Prozent. Die regionalen Trends sind unterschiedlich. Lateinamerika, Mittelamerika und die Karibik gehören zu den am wenigsten militarisierten Regionen der Welt. Der durchschnittliche Anteil der Militärausgaben ab BIP betrug dort 2005 insgesamt 1,3 Prozent. Im Falle Brasiliens liegt er allerdings bei 3,1 Prozent und ist in den vergangenen Jahren angehoben worden. Das Land fühlt sich offenbar durch die Militär- und Rüstungspolitik der USA bedroht, wie auch andere große Staaten.
Das verstärkte Rüsten der USA hat eine zunehmende Aufrüstung anderer Länder zur Folge, auch wenn China deutlich gemacht hat, dass es sich durch die USA nicht in ein ruinöses Wettrüsten drängen lassen will, wie es die Sowjetunion im Kalten Krieg tat. Zugleich ist es aber bemüht, hinreichende militärische Kapazitäten vorzuhalten, die einen direkten militärischen Druck der USA zu kompensieren in der Lage sein sollen. Im Falle Russlands scheint es ähnlich. Zugleich sind die USA technisch uneinholbar aufgerüstet, so dass keine dieser Mächte, auch nicht die Europäische Union, sich darauf verstehen kann, mit den USA in eine militärische Konkurrenz zu treten. Das hat die Welt aber nicht sicherer gemacht. Das Bonner Zentrum für Konversion konstatiert eine „anhaltende Militarisierung“, die sich in „einer raschen Zunahme von kriegerischen Auseinandersetzungen“ widerspiegelt. Und weiter: „Zwischen 2005 und 2006 stieg die Anzahl an Konflikten, bei denen zumindest sporadisch physische Gewalt angewendet wurde, von 91 auf 111. Die Anzahl an Konflikten, die durch systematische Anwendung von Gewalt charakterisiert sind, kletterte von 16 auf 22. Die bei weitem gewalttätigsten Konflikte im Jahr 2006 fanden in Afghanistan, Irak, Israel/ Libanon, Somalia, Sri Lanka und dem Sudan statt.“[2]
Mit anderen Worten: Jene Konflikte, an denen sich die USA bzw. der Westen direkt beteiligen, sind die blutigsten. Die Hochrüstung hat nicht zu einer besseren Sicherheitslage in der Welt, sondern zu mehr Unsicherheit geführt. Es hat auch in der länger zurückliegenden Geschichte keine Kräftekonstellation gegeben, in der ein forciertes Wettrüsten nicht zu Krieg und Elend geführt haben. Das stillschweigende Abtreten der Sowjetunion nach 1989 ist hier die Ausnahme. Übrigens hat auch auf diesem Feld das „geräuschlose“ Funktionieren der derzeitigen Bundesregierung seine Ergebnisse gezeitigt: Deutschland rückte im weltweiten Rüstungsexport im Jahre 2006 auf Platz drei vor und führte Rüstungsgüter im Wert von 3,9 Milliarden US-Dollar aus. 2005 waren es „nur“ 1,5 Milliarden.
Neben der neuen Dimension des Wettrüstens sind die sich in die Länge ziehenden Kriege des Westens in Irak und Afghanistan Menetekel der Aussichtslosigkeit derzeitiger Politik. Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber, hat in seiner Karfreitagspredigt 2008 darauf verwiesen, dass im April 2003, als der Krieg der USA zur Besetzung des Irak begann, noch etwa 1,5 Millionen Christen in Irak gelebt haben. Inzwischen habe etwa die Hälfte von ihnen das Land verlassen. Es sei auf beklemmende Weise grotesk, dass es ihnen unter der Herrschaft des Diktators Saddam Hussein besser gegangen ist als unter dem Protektorat der USA. „Der Irak-Krieg ist eine globale Sackgasse; eine Straße des Elends und der Hoffnungslosigkeit. Es ist zugleich die teuerste Sackgasse aller Zeiten.“[3]
Von den oben genannten 647 Milliarden Dollar für militärische Zwecke der USA sind 146,5 Milliarden für den „Krieg gegen den Terror“, also die fortgesetzte Besetzung des Iraks und Afghanistans, allein im Jahre 2008 vorgesehen. Das sind 37.000 US-Dollar pro Kopf der in den beiden Ländern derzeit lebenden Menschen. Vielleicht hätte man ihnen die auszahlen und abziehen sollen. Joseph Stiglitz, Träger des Nobelpreises für Wirtschaft von 2001 und ehemals Chefökonom der Weltbank, hat ein Buch über die Kosten des Irak-Krieges geschrieben, das kürzlich auf den Markt gekommen ist.[4] Als der Krieg vor fünf Jahren begonnen wurde, behauptete der damals für das Militär zuständige Minister Rumsfeld, die Kosten der Operation würden 50 Milliarden Dollar betragen. Sie werden um das Sechzigfache höher liegen und, allein für die USA, mit allen Folgekosten etwa drei Billionen Dollar betragen; der Rest der Welt zahlt nochmals die gleiche Summe drauf. Es ist der zweitlängste Krieg der USA nach dem Vietnamkrieg und der zweitteuerste nach dem Zweiten Weltkrieg. Und die Mittel wurden der Lösung sozialer oder wirtschaftlicher Probleme entzogen. Mit den drei Billionen Dollar hätte man acht Millionen Einfamilienhäuser in den USA bauen können (in diesem Sektor brach bekanntlich die Kreditkrise in den USA aus), die Gesundheitsversorgung für weltweit 530 Millionen Kinder für ein Jahr bezahlen können oder 15 Millionen Schullehrer oder Stipendien für 43 Millionen Studenten. Das sind die gesellschaftlichen Kosten eines solchen Krieges, die finanziellen. Was die Opfer anbelangt: kürzlich wurde der 4000ndste US-Soldat getötet, 60.000 wurden bisher verwundet. Die Zahl der irakischen Todesopfer in dieser Zeit wird auf 700.000 geschätzt. Vier Millionen Iraker sind aus dem Lande geflohen. Wird Bilanz gezogen, so erweist sich auch im Sinne der geopolitischen Strategie der Urheber dieser Politik das Scheitern. Der indische Vizepräsident, Hamid Ansari, stellte dazu fest: „Die Vereinigten Staaten sind heute nicht mehr die alles überragende Supermacht, als die sie noch im Frühjahr 2003 erschienen. Die Politik des Unilateralismus, der ‚kreativen Zerstörung‘ und der präventiven Kriegsführung ist gescheitert. Nichtstaatliche Akteure im Irak haben die USA in Bedrängnis gebracht; ihre Politik hat dem Terrorismus Auftrieb gegeben; die innenpolitische Unterstützung haben sie wegen ihrer Politik gegenüber dem Irak verloren; ihre Popularitätswerte in arabischen und muslimischen Ländern sind alarmierend niedrig, und ihre Absichten gelten als verdächtig. Die finanzielle Belastung durch den Krieg und der Druck auf den Dollar haben die Sorgen der Öffentlichkeit weiter anwachsen lassen.“[5]
IV.
Am Ende zeigt sich, dass der „Peripherie-Krieg“ hinsichtlich der Opfer und der Kosten zu einem Krieg ausgeartet ist, den die reichen und mächtigen USA nicht mehr zu tragen vermögen. Er zeigt exemplarisch, dass die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mit militärischen Mitteln lösbar sind. Eine militärisch orientierte Außenpolitik ist ebenso eine Sackgasse, wie die Selbstbewegung des Wettrüstens. Damit muss das Ringen um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung wieder zu einem zentralen Thema linker Außenpolitik bzw. ihrer Friedenspolitik werden.
In der Konsequenz heißt das, dass etliche der Konzepte, die in der Zeit des Endes des Ost-West-Konfliktes ausgearbeitet und diskutiert worden sind, neuer Betrachtung bedürfen, als „gesunkene Kulturgüter“ wieder an die Oberfläche gebracht werden müssen. Das betrifft
· die Erfahrung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit und die ihr zugrunde gelegten Prinzipien,
· die damals ausgehandelten Prinzipien, Regularien und Regime der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung,
· die Schaffung von Zonen des Verbots von Massenvernichtungswaffen, insbesondere von atomwaffenfreien Zonen,
· das Konzept der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit,
· die Stärkung der UNO und des UNO-Sicherheitsrates, ihrer Möglichkeiten und Grenzen in der Friedenssicherung und der Durchsetzung internationalen Rechts,
· die Weiterentwicklung und Durchsetzung des Völkerrechts, das auf der souveränen Gleichheit der Staaten, der Unantastbarkeit ihrer Grenzen und vor allem dem Verbot der Anwendung und Androhung von Gewalt beruht.
Am Ende muss auch das Problem der „Friedensfähigkeit des Kapitalismus“ neu diskutiert werden: Welche Chancen bestehen für die Erhaltung und Sicherung des Friedens unter der Voraussetzung, dass Kapitalismus als „normale“ Wirtschaftsweise weiter existiert? Von welchen Faktoren hängt das ab? Damit wären wir wieder bei der Frage nach der Hegemonie in der Gesellschaft als einer politischen, geistigen und kulturellen Kategorie, der Rolle der sozialen Bewegungen sowie der historischen Verantwortung der politischen Linken. Die Ächtung des Krieges jedoch ist der Ausgangspunkt. Und hier kann die Friedensbewegung sich guten Gewissens auf den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 berufen.
[1] Charta von Paris, in: Curt Gasteyger: Europa zwischen Spaltung und Einigung, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 321, Bonn 1994, S. 538ff.
[2] Bonn International Center for Conversion: Jahresbericht 2006/2007, S. 16.
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 2008, S. 2.
[4] Vgl. Joseph E. Stiglitz, Linda J. Bilmes: The Three Trillion Dollar War. The True Cost of the Iraq Conflict, New York: W.W.Norton & Company 2008.
[5] Hamid Ansari: Wachsende Sorgen um die Sicherheit in Vorderasien. Rede auf der internationalen Konferenz der Observer Research Foundation und der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu Delhi am 21. November 2007. rls Standpunkte, Berlin, 19/2007, S. 3.
Weitere Informationen:
Wortlaut des Dokuments: http://en.wikisource.org/wiki/Kellogg-Briand_Treaty
Biographie Briand: http://de.wikipedia.org/wiki/Aristide_Briand
Biographie Kellogg: http://de.wikipedia.org/wiki/Frank_Billings_Kellogg
Der Vertrag über die Ächtung des Krieges wurde vor achtzig Jahren, am 27. August 1928 in Paris unterzeichnet (er trat am 24. Juli 1929 in Kraft). Doch nicht nur wegen des „runden“ Datums ist es angezeigt, sich dessen zu erinnern. Die Ächtung des Krieges, d.h. das Verbot und die tatsächliche Unterbindung der Kriegsführung zum Zwecke der Durchsetzung machtpolitischer oder wirtschaftlicher Interessen ist immer noch oder wieder eine aktuelle Aufgabe.
I.
Die diplomatiegeschichtliche Konstellation entsprang übrigens nicht hehren Zielen, sondern der internationalen Lage auf dem europäischen Kontinent in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Deutschland, das die Hauptschuld am Entstehen des ersten Weltkrieges trug, und die Mittelmächte hatten jenen Weltkrieg verloren. Der Versailler Vertrag postulierte allerdings eine Alleinschuld Deutschlands an jenem Kriege, was einerseits die anderen imperialistischen Mächte exkulpierte und andererseits den Forderungen nach Revanche in Deutschland zusätzlichen Auftrieb gab. Deutschland erholte sich trotz Reparationen wirtschaftlich. Frankreich, das eine führende Stellung im Völkerbund einnahm und die eigentliche Garantiemacht der europäischen Vertragssysteme war, sah sich nicht in der Lage, diese politisch, wirtschaftlich und militärisch dauerhaft zu garantieren. Großbritannien war an einer solchen Stellung Frankreichs auch nicht interessiert. Aristide Briand (1862-1932), der seit Jahrzehnten ein führender Politiker Frankreichs war, trat zum einen für einen französisch-deutschen Ausgleich ein; in diesem Sinne hatte er 1925 die Locarno-Verträge mit auf den Weg gebracht. Zum anderen suchte er als Außenminister 1927 eine Stärkung der Position Frankreichs durch eine sichtbare Anlehnung an die USA zu erreichen. So schlug er der US-Regierung vor, zwischen beiden Staaten einen „Vertrag über ewige Freundschaft und über das Verbot der Anwendung des Krieges als Mittel nationaler Politik“ abzuschließen.
Der Außenminister der USA, Frank Billings Kellogg (1856-1937), nahm den Vorschlag auf, modifizierte ihn aber dahingehend, dass er anregte, einen mehrseitigen Vertrag abzuschließen. Die USA wollten eine herausgehobene Position Frankreichs in Europa nicht stützen, und diesem blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Am 13. April 1928 unterbreiteten die USA Großbritannien, Deutschland, Italien und Japan den Vorschlag, sich zu einem solchen Vorschlag zu äußern. Nach diplomatischem Hin und Her wurde der Vertrag schließlich am 27. August 1928 von neun Staaten unterzeichnet, am 31. August 1928 trat auch die Sowjetunion bei (die ursprünglich nicht vorgesehen war). Seine Benennung nach den beiden Außenministern, Briand und Kellogg, blieb.
Die wichtigste Feststellung wird bereits in der Präambel getroffen, wo es heißt, „dass die Zeit gekommen ist, einen offenen Verzicht auf den Krieg als Werkzeug nationaler Politik auszusprechen“. Demgemäß erklären die Unterzeichnerstaaten im Artikel I, „dass sie den Krieg als Mittel der Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten“. Der Artikel II bestimmt in diesem Sinne, „dass die Regelung und Entscheidung aller Streitigkeiten oder Konflikte, die zwischen ihnen entstehen könnten, welcher Art und welchen Ursprungs sie auch sein mögen, niemals anders als durch friedliche Mittel angestrebt werden soll“.
Betrachten wir die Geschichte danach, so sind diesen hohen Bestimmungen die Massaker und Verbrechen des zweiten Weltkrieges gefolgt. Die Verpflichtung zum Frieden wurde jedoch zum konstituierenden Prinzip der UNO-Charta und des Völkerrechts, das nach 1945 geschaffen wurde. Doch auch für die seither vergangenen Jahrzehnte gilt: Es tobte und tobt bis heute eine Vielzahl von Kriegen. Es macht jedoch einen Unterschied, ob das internationale Recht dies sanktioniert, oder aber als Rechtsbruch anklagt. Der Briand-Kellogg-Pakt bedeutete in diesem Sinne einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte der internationalen Politik und des Völkerrechts.
II.
Angesichts der riesigen, bis dahin ungekannten Zahl von Opfern des ersten Weltkrieges – insgesamt kamen rund zehn Millionen Menschen ums Leben – rückte die Forderung nach einer Welt ohne Kriege stärker in das Zentrum der politischen Aufmerksamkeit als je zuvor. Dennoch führte der von Hitlerdeutschland vom Zaune gebrochene zweite Weltkrieg zu noch mehr Toten. Etwa 60 Millionen Menschen waren 1939 bis 1945 dem zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen, darunter über 20 Millionen aus der Sowjetunion (nach späteren Schätzungen sogar 26 Millionen). Angesichts der gewaltigen Zerstörungskraft der Waffen, nicht zuletzt nach dem Abwurf der US-amerikanischen Atomwaffen gegen Hiroshima und Nagasaki, war klar, dass ein dritter Weltkrieg die Existenz der Menschheit bedrohen würde. Zugleich war am Ende des Krieges mit der Errichtung der Organisation der Vereinten Nationen, der UNO-Charta und dem UNO-Sicherheitsrat versucht worden, eine mit internationaler Exekutivkompetenz ausgestattete starke Weltorganisation zu schaffen, die zur Sicherung des Weltfriedens beiträgt. Dies geschah nur zum Teil, da die beiden Hauptmächte des Kalten Krieges – die USA und die UdSSR – ihre Vetomacht im Sicherheitsrat benutzten, um sich und ihre jeweiligen Verbündeten bzw. Klienten vor einer Verurteilung zu bewahren.
Insofern war die Zeit von 1945 bis 1990, vom Ende des zweiten Weltkrieges bis zur „Charta von Paris“, nicht eine Phase allgemeinen Friedens, sondern politischer, wirtschaftlicher, geistiger und nicht zuletzt militärischer Auseinandersetzungen, dies zunächst auch in Europa. In Polen und Griechenland gingen bewaffnete Bürgerkriege bis 1948; sie wurden in Polen zugunsten des Realsozialismus und in Griechenland zugunsten des Westens entschieden. Die Auseinandersetzungen in und um Deutschland wurden mit der Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen, der Blockade Westberlins (Juni 1948 bis Mai 1949) durch die Sowjetunion und der Luftbrücke durch die Westalliierten, die doppelte Staatsgründung 1949 bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 geführt. Danach war klar, dass die zwei deutschen Staaten in die beiden gesellschaftlich-politischen Systeme und Bündnisorganisationen eingeordnet sind, solange die Bedingungen des Kalten Krieges und der Systemauseinandersetzung anhalten. Durch die Verträge der Sowjetunion und Polens mit der Bundesrepublik Deutschland (1970), das Vierseitige Abkommen über Westberlin (1971), die darauf folgenden Verträge zwischen der DDR und der Bundesrepublik sowie zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik und schließlich die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (1975) wurde die Lage in Europa entspannt und produzierte keine eigenen Kriegsgefahren mehr.
Charakteristisch für den Kalten Krieg blieben jedoch Kriege an der „Peripherie“ des Ost-West-Konflikts, d.h. Kriege in Asien, Afrika und Lateinamerika. Insbesondere waren dies der Korea-Krieg der USA und des Westens (1950-53), die Vietnam-Kriege Frankreichs (1946-54) und der USA (1965-75), die Kriege im Nahen Osten seit 1956, der Afghanistan-Krieg der Sowjetunion (1979-89) sowie seit den 1960er Jahren mehrere Kriege in Afrika und der von den USA geführte Krieg gegen die Sandinistas in Nikaragua (1981-90). Hinzu kam das Wettrüsten zwischen USA und UdSSR, NATO und Warschauer Vertrag als die dritte Dimension der Ost-West-Auseinandersetzung. Insbesondere das Rüsten auf dem nuklear-strategischen Gebiet produzierte die Gefahr eines mit Atomwaffen geführten Weltkrieges, der die Vernichtung der Menschheit hätte zur Folge haben können. Die wohl deutlichste Zuspitzung war die „Kuba-Krise“ 1962, als beide Seiten plötzlich merkten, dass ihre Politik der Eskalation des Konfliktes an den Rand des Abgrundes geführt hatte. Es wurde vereinbart, dass die USA Kuba nicht militärisch angreifen und die Sowjetunion im Gegenzug keine Mittelstreckenraketen auf Kuba stationiert. Danach folgten Schritte zur Eindämmung des Wettrüstens, so die Einrichtung einer direkten Telefonverbindung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml, der Vertrag über die Begrenzung der Kernwaffenversuche (1963), der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (1968) sowie die Verträge zur Begrenzung strategischer Waffensysteme, zum Verbot biologischer Waffen und zur Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen (1970er und 80er Jahre).
In der Rückschau betrachtet war der Kalte Krieg „kalt“ in dem Sinne, dass er auf der globalen Ebene vor allem als Wettrüsten, aber nicht als großer Krieg geführt wurde; im Herzen Europas war er eine Auseinandersetzung, die vor allem mit politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Mitteln geführt wurde, während in der Welt des Südens tatsächlich blutige Kriege „niederer Intensität“ („niedrig“ im Vergleich zu dem gedachten und geplanten atomaren Weltkrieg) geführt wurden.
Der Ost-West-Konflikt, oder, mit einem anderen Wort, die Systemauseinandersetzung zwischen dem Realsozialismus und dem Westen endete in einer heroischen Illusion. Gorbatschow, Schewardnadse, Jakowlew und andere, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in Moskau Verantwortung trugen, hatten mit der von ihnen verantworteten Friedenspolitik der Sowjetunion die USA in eine außenpolitische Defensive gebracht, den Rückzug aus Afghanistan und anderen Ländern der Welt sowie einseitige Schritte der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung vollzogen und faktisch den Kalten Krieg beendet. Dabei waren sie davon ausgegangen, dass die systemische Differenz zwischen den beiden Gesellschaftssystemen die eigentliche Ursache der Spannungen und der Kriegsgefahr gewesen sei. Die „Charta von Paris für ein neues Europa“ als Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Staaten der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) vom 21. November 1990 wurde in diesem Sinne als Dokument der Beendigung des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation angesehen. Frieden, eine auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhende Demokratie sowie Marktwirtschaft sollten die gemeinsame Grundlage der weiteren Entwicklung Europas sein.[1]
III.
Tatsächlich jedoch wurde bereits mit dem Golfkrieg von 1990, das heißt vor der Unterzeichnung jener „Charta von Paris“, etwas anderes deutlich: Die USA unter Bush I wollten diesen Krieg, um ihre Dominanz in der angestrebten „Neuen Weltordnung“ – das heißt der internationalen Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts – deutlich zu machen. Die vielleicht folgenreichste Illusion am Ende des 20. Jahrhunderts war die, das Ausräumen des Ost-West-Konflikts würde eine lange Phase des Friedens einleiten. Auf das Ende der Organisation des Warschauer Vertrages ist nicht die Auflösung der NATO gefolgt, wie auch im Westen viele Friedensforscher Anfang der 1990er Jahre annahmen (oder hofften), sondern diese wurde mit veränderten Aufgaben versehen und zu einer weltweit einsatzfähigen Interventionsmaschinerie umgebaut. Insofern bleiben NATO-Auflösung und zunächst Austritt aus deren Militärorganisation wichtige, langfristige politische Forderungen der Linken.
Diese Illusion hatte einen speziellen Namen: „Friedensdividende“. Gemeint war, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und des damit verbundenen Wettrüstens würden Mittel frei werden, die weltweit in die Lösung sozialer, ökologischer und anderer drängender Probleme gesteckt werden könnten. Einige Zeit in den 1990er Jahren sah es so aus, als würde es in diese Richtung gehen. Jedenfalls sanken zunächst die Rüstungsausgaben. US-Präsident Bush II hat seit 2001 (dem „11. September“) drastisch umgesteuert. 2006 stiegen die Militärausgaben gegenüber dem Vorjahr um 3,5 Prozent und erreichten weltweit 1204 Milliarden US-Dollar. Das ist die Größenordnung, die am Ende der Block-Konfrontation und der Reagan-Jahre, die ebenfalls Hochrüstungsjahre waren, im Jahre 1988 erreicht worden war. 528 Milliarden Dollar, das sind 46 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben, entfallen dabei allein auf die USA. Sie sind heute das einzige Land der Welt, das militärtechnologisch von anderen Staaten unabhängig ist. 80 Prozent ihres Umsatzes wickeln die US-amerikanischen Rüstungskonzerne mit den US-Streitkräften ab, nur 20 Prozent entfallen auf Exporte, die allerdings ebenfalls die größten der Welt sind. Damit sind die USA weder auf Importe für ihre Streitkräfte noch auf Exporte für ihre Rüstungsfirmen angewiesen – nahezu alle anderen Staaten der Welt sind auf Importe, und seien es nur einzelne Waffensysteme oder Komponenten, angewiesen, und Russland, der zweitgrößte Exporteur der Welt, auf Erlöse aus dem Export, um seine Produktion und waffentechnische Entwicklung weiter betreiben zu können. Für das Haushaltsjahr 2008 hat die Bush-Regierung eine neuerliche Erhöhung der Militärausgaben vorgesehen, nun auf 647 Milliarden Dollar. Das ist eine Verdopplung seit 2001. Weltweit sind die Militärausgaben in dieser Zeit um über 25 Prozent gestiegen.
Weitere zwanzig Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben entfallen auf die anderen NATO-Länder (das heißt die NATO ohne die USA), was praktisch bedeutet, dass die NATO für etwa zwei Drittel dieser Ausgaben weltweit verantwortlich ist. Die Militärhaushalte Chinas und Rußlands steigen ebenfalls, machen jedoch nur fünf bzw. drei Prozent der Rüstungsausgaben in der Welt aus. Rußland erhöhte seine Rüstungsausgaben auf geschätzte 34 Milliarden Dollar (2008), China von 26,1 Milliarden US-Dollar im Jahre 2001 auf etwa 66 Milliarden (2008). Der durchschnittliche Anteil der Rüstungausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt im Falle der USA bei vier Prozent und im Durchschnitt der anderen NATO-Länder bei 1,7 Prozent. Die regionalen Trends sind unterschiedlich. Lateinamerika, Mittelamerika und die Karibik gehören zu den am wenigsten militarisierten Regionen der Welt. Der durchschnittliche Anteil der Militärausgaben ab BIP betrug dort 2005 insgesamt 1,3 Prozent. Im Falle Brasiliens liegt er allerdings bei 3,1 Prozent und ist in den vergangenen Jahren angehoben worden. Das Land fühlt sich offenbar durch die Militär- und Rüstungspolitik der USA bedroht, wie auch andere große Staaten.
Das verstärkte Rüsten der USA hat eine zunehmende Aufrüstung anderer Länder zur Folge, auch wenn China deutlich gemacht hat, dass es sich durch die USA nicht in ein ruinöses Wettrüsten drängen lassen will, wie es die Sowjetunion im Kalten Krieg tat. Zugleich ist es aber bemüht, hinreichende militärische Kapazitäten vorzuhalten, die einen direkten militärischen Druck der USA zu kompensieren in der Lage sein sollen. Im Falle Russlands scheint es ähnlich. Zugleich sind die USA technisch uneinholbar aufgerüstet, so dass keine dieser Mächte, auch nicht die Europäische Union, sich darauf verstehen kann, mit den USA in eine militärische Konkurrenz zu treten. Das hat die Welt aber nicht sicherer gemacht. Das Bonner Zentrum für Konversion konstatiert eine „anhaltende Militarisierung“, die sich in „einer raschen Zunahme von kriegerischen Auseinandersetzungen“ widerspiegelt. Und weiter: „Zwischen 2005 und 2006 stieg die Anzahl an Konflikten, bei denen zumindest sporadisch physische Gewalt angewendet wurde, von 91 auf 111. Die Anzahl an Konflikten, die durch systematische Anwendung von Gewalt charakterisiert sind, kletterte von 16 auf 22. Die bei weitem gewalttätigsten Konflikte im Jahr 2006 fanden in Afghanistan, Irak, Israel/ Libanon, Somalia, Sri Lanka und dem Sudan statt.“[2]
Mit anderen Worten: Jene Konflikte, an denen sich die USA bzw. der Westen direkt beteiligen, sind die blutigsten. Die Hochrüstung hat nicht zu einer besseren Sicherheitslage in der Welt, sondern zu mehr Unsicherheit geführt. Es hat auch in der länger zurückliegenden Geschichte keine Kräftekonstellation gegeben, in der ein forciertes Wettrüsten nicht zu Krieg und Elend geführt haben. Das stillschweigende Abtreten der Sowjetunion nach 1989 ist hier die Ausnahme. Übrigens hat auch auf diesem Feld das „geräuschlose“ Funktionieren der derzeitigen Bundesregierung seine Ergebnisse gezeitigt: Deutschland rückte im weltweiten Rüstungsexport im Jahre 2006 auf Platz drei vor und führte Rüstungsgüter im Wert von 3,9 Milliarden US-Dollar aus. 2005 waren es „nur“ 1,5 Milliarden.
Neben der neuen Dimension des Wettrüstens sind die sich in die Länge ziehenden Kriege des Westens in Irak und Afghanistan Menetekel der Aussichtslosigkeit derzeitiger Politik. Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber, hat in seiner Karfreitagspredigt 2008 darauf verwiesen, dass im April 2003, als der Krieg der USA zur Besetzung des Irak begann, noch etwa 1,5 Millionen Christen in Irak gelebt haben. Inzwischen habe etwa die Hälfte von ihnen das Land verlassen. Es sei auf beklemmende Weise grotesk, dass es ihnen unter der Herrschaft des Diktators Saddam Hussein besser gegangen ist als unter dem Protektorat der USA. „Der Irak-Krieg ist eine globale Sackgasse; eine Straße des Elends und der Hoffnungslosigkeit. Es ist zugleich die teuerste Sackgasse aller Zeiten.“[3]
Von den oben genannten 647 Milliarden Dollar für militärische Zwecke der USA sind 146,5 Milliarden für den „Krieg gegen den Terror“, also die fortgesetzte Besetzung des Iraks und Afghanistans, allein im Jahre 2008 vorgesehen. Das sind 37.000 US-Dollar pro Kopf der in den beiden Ländern derzeit lebenden Menschen. Vielleicht hätte man ihnen die auszahlen und abziehen sollen. Joseph Stiglitz, Träger des Nobelpreises für Wirtschaft von 2001 und ehemals Chefökonom der Weltbank, hat ein Buch über die Kosten des Irak-Krieges geschrieben, das kürzlich auf den Markt gekommen ist.[4] Als der Krieg vor fünf Jahren begonnen wurde, behauptete der damals für das Militär zuständige Minister Rumsfeld, die Kosten der Operation würden 50 Milliarden Dollar betragen. Sie werden um das Sechzigfache höher liegen und, allein für die USA, mit allen Folgekosten etwa drei Billionen Dollar betragen; der Rest der Welt zahlt nochmals die gleiche Summe drauf. Es ist der zweitlängste Krieg der USA nach dem Vietnamkrieg und der zweitteuerste nach dem Zweiten Weltkrieg. Und die Mittel wurden der Lösung sozialer oder wirtschaftlicher Probleme entzogen. Mit den drei Billionen Dollar hätte man acht Millionen Einfamilienhäuser in den USA bauen können (in diesem Sektor brach bekanntlich die Kreditkrise in den USA aus), die Gesundheitsversorgung für weltweit 530 Millionen Kinder für ein Jahr bezahlen können oder 15 Millionen Schullehrer oder Stipendien für 43 Millionen Studenten. Das sind die gesellschaftlichen Kosten eines solchen Krieges, die finanziellen. Was die Opfer anbelangt: kürzlich wurde der 4000ndste US-Soldat getötet, 60.000 wurden bisher verwundet. Die Zahl der irakischen Todesopfer in dieser Zeit wird auf 700.000 geschätzt. Vier Millionen Iraker sind aus dem Lande geflohen. Wird Bilanz gezogen, so erweist sich auch im Sinne der geopolitischen Strategie der Urheber dieser Politik das Scheitern. Der indische Vizepräsident, Hamid Ansari, stellte dazu fest: „Die Vereinigten Staaten sind heute nicht mehr die alles überragende Supermacht, als die sie noch im Frühjahr 2003 erschienen. Die Politik des Unilateralismus, der ‚kreativen Zerstörung‘ und der präventiven Kriegsführung ist gescheitert. Nichtstaatliche Akteure im Irak haben die USA in Bedrängnis gebracht; ihre Politik hat dem Terrorismus Auftrieb gegeben; die innenpolitische Unterstützung haben sie wegen ihrer Politik gegenüber dem Irak verloren; ihre Popularitätswerte in arabischen und muslimischen Ländern sind alarmierend niedrig, und ihre Absichten gelten als verdächtig. Die finanzielle Belastung durch den Krieg und der Druck auf den Dollar haben die Sorgen der Öffentlichkeit weiter anwachsen lassen.“[5]
IV.
Am Ende zeigt sich, dass der „Peripherie-Krieg“ hinsichtlich der Opfer und der Kosten zu einem Krieg ausgeartet ist, den die reichen und mächtigen USA nicht mehr zu tragen vermögen. Er zeigt exemplarisch, dass die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mit militärischen Mitteln lösbar sind. Eine militärisch orientierte Außenpolitik ist ebenso eine Sackgasse, wie die Selbstbewegung des Wettrüstens. Damit muss das Ringen um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung wieder zu einem zentralen Thema linker Außenpolitik bzw. ihrer Friedenspolitik werden.
In der Konsequenz heißt das, dass etliche der Konzepte, die in der Zeit des Endes des Ost-West-Konfliktes ausgearbeitet und diskutiert worden sind, neuer Betrachtung bedürfen, als „gesunkene Kulturgüter“ wieder an die Oberfläche gebracht werden müssen. Das betrifft
· die Erfahrung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit und die ihr zugrunde gelegten Prinzipien,
· die damals ausgehandelten Prinzipien, Regularien und Regime der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung,
· die Schaffung von Zonen des Verbots von Massenvernichtungswaffen, insbesondere von atomwaffenfreien Zonen,
· das Konzept der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit,
· die Stärkung der UNO und des UNO-Sicherheitsrates, ihrer Möglichkeiten und Grenzen in der Friedenssicherung und der Durchsetzung internationalen Rechts,
· die Weiterentwicklung und Durchsetzung des Völkerrechts, das auf der souveränen Gleichheit der Staaten, der Unantastbarkeit ihrer Grenzen und vor allem dem Verbot der Anwendung und Androhung von Gewalt beruht.
Am Ende muss auch das Problem der „Friedensfähigkeit des Kapitalismus“ neu diskutiert werden: Welche Chancen bestehen für die Erhaltung und Sicherung des Friedens unter der Voraussetzung, dass Kapitalismus als „normale“ Wirtschaftsweise weiter existiert? Von welchen Faktoren hängt das ab? Damit wären wir wieder bei der Frage nach der Hegemonie in der Gesellschaft als einer politischen, geistigen und kulturellen Kategorie, der Rolle der sozialen Bewegungen sowie der historischen Verantwortung der politischen Linken. Die Ächtung des Krieges jedoch ist der Ausgangspunkt. Und hier kann die Friedensbewegung sich guten Gewissens auf den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 berufen.
[1] Charta von Paris, in: Curt Gasteyger: Europa zwischen Spaltung und Einigung, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 321, Bonn 1994, S. 538ff.
[2] Bonn International Center for Conversion: Jahresbericht 2006/2007, S. 16.
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 2008, S. 2.
[4] Vgl. Joseph E. Stiglitz, Linda J. Bilmes: The Three Trillion Dollar War. The True Cost of the Iraq Conflict, New York: W.W.Norton & Company 2008.
[5] Hamid Ansari: Wachsende Sorgen um die Sicherheit in Vorderasien. Rede auf der internationalen Konferenz der Observer Research Foundation und der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu Delhi am 21. November 2007. rls Standpunkte, Berlin, 19/2007, S. 3.