Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung - International / Transnational - Europa Ein Leben als Wegbereiter

Am 8. November 2008 starb der letzte Ministerpräsident der Volksrepublik Polen, Mieczysław F. Rakowski. Nachruf von Holger Politt.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Holger Politt,

Erschienen

November 2008

Mieczysław F. Rakowski ist tot. Er starb am 8. November, kurz vor dem 90. Jahrestag der polnischen Unabhängigkeit des Jahres 1918. Als er 1926 in der Gegend von Poznań als Sohn eines Bauern zur Welt kam, schickte seine Heimat sich an, aus drei Teilen einen einheitlichen gesellschaftlichen Organismus zu schaffen. Es gelang bis 1939 nur bedingt, worüber leichtfertig richten mag, wer noch niemals einen Bahnhof in Polen gesehen hat. Noch heute geben sie verlässlich Auskunft, welcher der drei Monarchen im jeweiligen Teil einst das Herrschen hatte. Hitlers Überfall auf Polen nahm ihm in jungen Jahren den Vater, der als Gemeindevorsteher verhaftet und noch im Oktober erschossen wurde. Der Vater sprach sehr gutes Deutsch und ließ überhaupt auf die Deutschen wenig kommen.

Nach dem Krieg sah Rakowski sich in einem Lande wieder, dessen Grenzen im Schnitt um 200 Kilometer nach Westen bis an Oder und Neiße verschoben waren, was die Umsiedlung von 50% seiner den Krieg überlebenden Bevölkerung erzwang. An menschlichem Verlust und am Grad der Zerstörung gemessen gab es in Europa kein zweites Land, welches der Krieg und die Okkupation in dieser Intensität heimgesucht hatten. Fortan engagierte sich der in jungen Jahren reif gewordene Mann für die Option, Sozialismus in Polen aufzubauen. Die Weichenstellung hielt bis 1989, betraf seine besten Lebensjahre, war eine Lebensentscheidung. Irgendwann sah er sich als einen „Revisionisten“ gescholten, denn unter seiner Leitung entwickelte sich die Wochenzeitung „Polityka“ seit den 1960er Jahren zu einem wichtigen öffentlichen Sprachrohr, mit dem kritische Stimmen verlässlich Raum und Gehör bekamen. Noch heute ist zu lesen, dass diese Zeitschrift wohl zum Besten gehört habe, was im sowjetisch ausgerichteten Lager an gedruckter politischer Publizistik erschien. Den Vergleich mit bekannten westlichen Titeln brauchte sie – was den kritischen Geist anbelangt - nie zu scheuen. Zugleich wurde Rakowski in diesen Jahren zu einem wichtigen Berater in Fragen der Deutschlandpolitik Polens. Der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die junge DDR im Jahre 1950 sollte die Anerkennung der Unverletzbarkeit dieser Grenze durch die Bundesrepublik Deutschland folgen. Der Brandtschen Ostpolitik wurde von Warschau aus mutig zugearbeitet, wofür Rakowski ein gutes Teil Verantwortung trug. Ein Antrieb war die Überzeugung, dass die sowjetischen Panzer auf dem Territorium der DDR nicht ewig stationiert bleiben werden und die Mauer durch Berlin ein anderes Bauwerk sei als die Große Chinesische Mauer.

Rakowski war überzeugt, dass die Panzer, die in Budapest, in Prag oder an der polnischen Ostseeküste aufmarschiert waren, kein Argument für die Zukunft des Sozialismus seien. Als im Sommer 1980 in Polen die Monate der ersten „Solidarność“ anbrachen, die in der heutigen Publizistik euphorisch als Karnevalszeit beschrieben werden, suchte Rakowski, mittlerweile in die Politik gewechselt, Ausgleich und Verständigung, er suchte den Kompromiss, der in der politischen Kultur seines Heimatlandes nie einen einfachen Stand hatte. Sein Scheitern begreifend stellte er sich im Dezember 1981 an die Seite Jaruzelskis, des Generals also, der Panzer einsetzte, um das Land vor der Katastrophe zu retten. Von nun an kam es darauf an, einen unblutigen Ausweg aus dem bisherigen Sozialismus zu finden. In Polen verlief ein anderer zeitlicher Zyklus als in der benachbarten Sowjetunion, in der mit dem Amtsantritt Gorbatschows noch ein letztes Mal Hoffnung keimte.

Der Runde Tisch im Februar 1989 wies die Richtung, die bald auch anderen Ländern im Einflussbereich der Sowjetunion als Möglichkeit offen stand. Einer der entscheidenden Wegbereiter für diesen Weg des Kompromisses war Rakowski, der dann in Konsequenz dieser Entscheidung sowohl als letzter Ministerpräsident der Volksrepublik Polen (1988/89) als auch als letzter PVAP-Chef (1989/90) das Licht ausmachen musste. Mit dem bürgerlichen Ministerpräsidenten Mazowiecki, der im Sommer 1989 sein Amt antrat, war das politische Machtmonopol gebrochen, mit dem Einholen des Ehrenbanners der Partei im Januar 1990 dieselbe aufgelöst. Eine neue politische Zeitrechnung begann, die in Rakowski bis zum Schluss ihren scharfsinnigen Kritiker fand.

Im März 1968 notierte er: „Am schlimmsten ist, dass der Mensch nie richtig weiß, wann der Moment gekommen ist, an dem nur noch zu sagen übrig bleibt: Meine Herren, aus dieser verrückt gewordenen Straßenbahn steige ich aus.“ Es gelang ihm allerdings, bis zur Endhaltestelle – also weitere 21 Jahre – an Bord zu bleiben. Und, um im Bild zu bleiben, dort fuhr er mit der altersschwachen Bahn als Chauffeur ein, ließ den Strom abstellen. Die neuen Bahnen fuhren bereits ohne ihn los. Dass sie auch anderes, bisher prominentes Personal zurücklassen werden, zeigte sich recht schnell. In einem Gespräch mit Gorbatschow, in dem dieser nach der Zukunft des Sozialismus sich erkundigte, gab Rakowski zur Antwort: Ja, der Sozialismus mag eine Zukunft haben, das betreffe indes den Rakowski und den Gorbatschow nicht mehr. Traf er in den letzten Jahren auf einst prominente Gleichaltrige, die ihre aktuelle Rolle in der Politik gerne als „Beratung“ ausgaben oder zu verstehen suchten, fragte er gerne verschmitzt zurück: „Hören sie noch auf dich?“

In seinem letzten veröffentlichten Text verteidigte er Jaruzelski, der in Warschau vor einem einfachen Kriminalgericht derzeit sich als Anführer einer „kommunistischen Bande“ angeklagt sieht. Diejenigen, die hier Anklage erheben, so Rakowski, wünschten sich neben dem Museum für den Warschauer Aufstand (1944) ein weiteres Museum, ein Museum des „Solidarność“-Aufstands. Bei dem im August 1944 ausgebrochenen Aufstand ließen auf Seiten der Warschauer über 200.000 Menschen ihr zumeist junges Leben.

Was bleibt? Ein volles politisches Leben in dramatischer Zeit, die legendäre Phase der „Polityka“ sowie ein eindrucksvolles Zeitdokument, zehn Bände politisches Tagebuch (1958-1990), das nach Meinung nicht weniger zum Wertvollsten gehöre, was über die Zeit der Volksrepublik Polen je notiert wurde.

Holger Politt leitet das RLS-Auslandsbüro in Warschau.