Ein Diskussionsangebot für die Konferenz „Europa neu gründen?“ von GUE/NGL und Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 9. bis 11. März 2007.
Von Wolfgang Gehrcke
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
die Auseinandersetzung mit der EU-Politik begegnet uns in zweifacher Hinsicht. Zum einen in der Gestalt der realen Europäische Union mit all ihren Widersprüchen, Fort-schritten und sozialen sowie politischen Verwerfungen. Zum anderen in Gestalt des Mythos Europa. Beides wirkt auf das Denken der Menschen ein, wenngleich in un-terschiedlichen Formen. Im Laufe unserer Konferenz wurde häufiger Heinrich Heine bemüht. Ich will meinerseits einen Gedanken von Karl Marx bemühen, nämlich dass alle Kämpfe zweimal stattfinden – einmal in der Realität und zum anderen in der i-deologischen Reflexion. Welche Formen die Kämpfe in den Köpfen der Menschen annehmen, ist oftmals nicht von der Realität der Kämpfe, sondern von der ideologi-schen Reflexion, also von den Mythen, abhängig. Lasst mich deshalb auf zumindest drei Mythen aufmerksam machen, die eine Auseinandersetzung lohnen. Wenigstens sollte die Linke nicht selbst auch noch auf diese Mythen hereinfallen bzw. sie weiter verbreiten:
1. Die Bertelsmann-Stiftung, der europaweite Braintrust der Neoliberalen, be-müht sich seit dem Scheitern des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden, den Mythos zu verbreiten, es sei gar nicht der gesamte Verfas-sungsvertrag abgelehnt worden, sondern nur sein Teil III. Unabhängig davon, dass keiner genau weiß, was für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und den Niederlanden der ausschlaggebende Punkt für ihre Ab-lehnung war, bleibt Tatsache, dass in den Volksabstimmungen der gesamte Verfassungsvertrag abgelehnt wurde. Die Bertelsmann-Stiftung setzt nicht oh-ne Grund diesen Mythos in die Welt, sondern verbindet dies mit dem Vor-schlag, eine „abgespeckte“ Variante des Vertrages, praktisch die Teile I und II, erneut vorzulegen. Aber auch in den Teilen I und II finden alle Punkte, die die Linke besonders kritisiert hat, ihre entsprechende Ausprägung. Ich befürchte, wenn die Linke sich auf diese Bertelsmann-Initiative einlässt, dass wir praktisch unser „Spielfeld“ einer prinzipiellen Kritik und grundsätzlicher Alternativen verlassen und auf dem „Spielfeld“ der Anderen von punktuellen Verbesserungen am vorliegenden Vertrag aufgesogen werden. Verschiedene Kolleginnen und Kollegen hatten ja bereits darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns bei aller Freude über das französische und niederländische Ergebnis, noch immer in der Defensive befinden.
2. Gezielt wird der Mythos verbreitet, die Europäische Union wäre Ausgangspunkt und Garant dafür, dass Europa in einer langen Phase gesicherten Friedens und stabiler Verhältnisse leben konnte. Dieses Argument findet sich in verschiedenen Varianten in allen Lobreden auf die EU wieder und wirkt auch auf die Linke ein. Setzt man sich aber näher mit diesem Bild auseinander, hält es einer kritischen Betrachtung nicht stand. Die Abwesenheit von Krieg in Europa, und das bedeutet noch lange keinen tatsächlichen Friedenszustand, war nur teilweise auf die Europäische Union, sondern zu größeren Teilen auf die Existenz zweier Blöcke in Europa zurückzuführen. Der extrem gefährliche Zustand des „Gleichgewichtes des Schreckens“ hatte auch eine disziplinierende und begrenzt zivilisierende Wirkung. Kaum war dieser Zustand aufgehoben, ist auch der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Schlimmer noch: „Europa“ führte in Jugoslawien selbst Krieg. Nicht unerwähnt bleiben darf die Verwicklung mehrerer EU-Mitgliedsstaaten in koloniale Kriege, denken wir nur an Frankreich mit seinen Kriegen in Algerien und Vietnam, an Belgien im Kongo und Großbritannien mit seiner Verwicklung in den Falklandkrieg. Nicht außer Acht lassen können wir ebenso die europaweite Hochrüstung.
3. Es ist ein Mythos, die Römischen Verträge ausschließlich als einen Akt der zivilen Vereinigung Europas und des Einreißens von Grenzen in Europa darzustellen. Die Römischen Verträge hatten auch ihre Begründung darin, die Bundesrepublik Deutschland „westlich“ einzubinden, ihr nach 1945 einen Zu-gang zu den westlichen Nachbarstaaten, vor allen Dingen zu Frankreich, zu ermöglichen und den entwickelten Produktivkräften einen größeren Markt zu öffnen. Den Römischen Verträgen vorweg gegangen war der Versuch, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu etablieren. Dieser Versuch scheiterte am 10. August 1954 an der französischen Nationalversammlung. Wer also über die Römischen Verträge redet, sollte nicht über die EVG schweigen.
Die Europäische Union, gegründet als zivile Organisation, hat sich in einem sehr raschen Tempo in Richtung eines imperialen Blockes fehl entwickelt. Immer stärker werden europäische Truppen in den Konflikten der Welt eingesetzt. In der EU sind Gremien geschaffen worden, die die militärische Kooperation organisieren und in die das Europaparlament weder Einblick hat noch irgendwelchen Einfluss ausüben kann. Zu nennen ist der Gemeinsame Generalstab, die Battle-Groups und ihre Kommandoeinrichtungen sowie vor allem das „PSK“. Hinter diesem Kürzel verbirgt sich das „Politische und Sicherheitspolitische Komitee“. Es setzt sich zusammen aus den politischen Direktoren der Außenministerien der Mitgliedsstaaten und seine Auf-gaben sind
die Beobachtung der internationalen Lage im Bereich der Gemeinsamen Au-ßen- und Sicherheitspolitik (GASP),
Beiträge zur Festlegung der Politiken und
Die Überwachung der Entscheidungen und Beschlüsse des Rates.
>Unter Aufsicht des Rates gewährleistet das PSK die politische Kontrolle und die strategische Leitung von Krisenmanagementaktionen. So kann es vom Rat ermächtigt werden, im konkreten Krisenfall Beschlüsse zu fassen. Unterstützt wird es dabei von einer Arbeitsgruppe „politisch-militärische Angelegenheiten“, von einem Ausschuss für die zivilen Aspekte der Krisenbewältigung sowie vom Militärausschuss (EUMC) und vom Militärstab (EUMS).< (Europa-Glossar auf www.europa.eu)
Die politischen Direktoren und Botschafter dieses Komitees sind, soweit die von ih-nen vertretenen Staaten NATO-Mitglieder sind, auf das Engste mit den jeweiligen Botschaftern in der NATO verbunden. Auf der Ebene der EU ist ein Militär-Industrieller Komplex entstanden. Auch wenn die europäische Rüstungsagentur, die im Verfassungsvertrag vorgesehen war, formal nicht zustande gekommen ist, ist die europäische Rüstung doch eng verzahnt, EADS ist nur ein Beispiel. Europa, ohne Russland, liegt mittlerweile an der Spitze der weltweiten Rüstungsexporteure. Die EU hat imperialen Ziele – in vielen Bereichen noch widersprüchlich, so auch in der Nachbarschaftspolitik, aber dennoch deutlich erkennbar.
Mit der Europäischen Union und ihren starken ökonomischen Potenzialen ist eines der stärksten Militärbündnisse der Welt entstanden. Diese Schritte der EU sind von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürgern nicht tatsächlich wahrgenommen worden. Der militärische Arm der EU ist eng verzahnt mit der NATO. Das schließt Differenzen durchaus ein. Auch einige Linke glaubten, dass mit den europäischen Militärstrukturen die NATO aus Europa heraus gedrängt werden würde. Im Gegen-teil: Die NATO steht heute an den Grenzen Russlands und hat am europäischen Tisch Platz genommen.
Ein Vergleich der Politik der EU und der USA, eine Analyse von Übereinstimmung und Differenzen, ist für die Linke notwendig. Ein prinzipieller Unterschied ist mir besonders wichtig: Einzig die Vereinigten Staaten von Amerika sind ökonomisch und militärisch in der Lage, Kriege von weltweiter Bedeutung zu führen. Und: Sie waren und sind skrupellos genug, es auch zu tun. Den qualitativen und quantitativen Unter-schied sollte die Linke nicht übersehen.
Offensichtlich ist die Weltherrschaftspolitik der USA und ihres Präsidenten Bush in die Krise geraten. Die USA sind immer noch in der Lage, der Welt Kriege aufzuzwin-gen und diese scheinbar militärisch zu gewinnen, aber sie sind nicht mehr in der La-ge, unilateral mit den Folgen dieser Kriege fertig zu werden. Afghanistan und der Irak sind dafür beredte Beispiele. In den Vereinten Nationen haben sich die USA mehr und mehr isoliert. Während in Ost- und Mitteleuropa die Politik der Bush-Administration noch immer deutliche Unterstützung findet, sind in Westeuropa und Skandinavien Distanzen zu den USA unübersehbar. Auch die deutsche Politik folgt nicht mehr uneingeschränkt und vorbehaltlos den USA, wird sich aber ähnlich wie Großbritannien im Zweifelsfalle immer noch auf die Seite der USA schlagen.
Neue Kräftekonstellationen wie China, Russland, Indien, Brasilien und andere gewinnen an Dynamik. In der US-amerikanischen Innenpolitik wächst der Widerstand gegen den Kriegskurs der Bush-Administration. In Lateinamerika, das die USA immer als ihren Hinterhof reklamiert hat, gibt es einen deutlichen Schwenk nach links. Bei den Menschen in vielen Teilen der Welt, bei sozialen, friedenspolitischen und globalisierungskritischen Bewegungen stoßen die Politik und der Machtanspruch der USA auf Abscheu und Widerstand.
Liebe Freundinnen und Freunde,
nach der Implosion des real existierenden Sozialismus in Europa konnte keine „Friedensdividende“ eingebracht werden, sondern mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien kehrte der Krieg nach Europa zurück. Der Paradigmenwechsel deutscher Außenpolitik ist unter Rot-Grün eingeleitet und wird unter Schwarz-Rot fortgesetzt. Offen werden neue Grundlagen deutscher und europäischer „Verteidigungspolitik“ formuliert: Rohstoffsicherheit, wirtschaftliche Inte-ressen, Sicherung der Handelswege und vieles mehr. Dies alles dient nunmehr zur Begründung deutscher Militäreinsätze. Der Ex-Verteidigungsminister Struck hat das auf den Begriff gebracht: „Die Sicherheit der Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt.“
Die Kriege gegen Afghanistan und den Irak, einmal mit direkter und einmal mit indirekter deutscher Beteiligung, haben die Welt auseinander gerissen. Jede und jeder, die und der sehen will, kann erkennen, dass diese Kriege militärisch nicht zu gewinnen sind, aber die Opfer unter der Zivilbevölkerung immer größer werden, das internationale Rechtssystem immer mehr zerstört wird und in allen Teilen der Welt Aufrüstung um sich greift. Die Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, auch von atomaren Waffen, ist größer geworden. Auch das ist eine der Folgen des „Krieges gegen den Terror“ und der Unwilligkeit der Atommächte zur Abrüstung.
Es schien so, als ob die Kriege um die Neuaufteilung der Welt von Europa weiter gezogen sind – in den Nahen und Mittleren Osten und nach Zentralasien.
Der Augenschein täuscht jedoch. Auch in Europa gibt es eingefrorene und ungelöste Konflikte, die den Keim neuer Gewalt in sich tragen. Der Ahtisaari-Vorschlag für den Kosovo ist zumindest für Serbien unakzeptabel und wird auch von Russland in dieser Form nicht geteilt. Mich erfüllt es mit Sorge und Misstrauen, wenn der EU-Außenbeauftragte Javier Solana auf der Konferenz der EU-Verteidigungsminister ein neues Kapitel-VII-Mandat für den Kosovo fordert und von den Europäern erwartet, „im Kosovo ihre bislang größte Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu starten“. Gegen die zunehmende Tendenz, militärische und ökonomische Gewalt an Stelle von Verhandlungen zu setzen, hat sich Russ-lands Präsident Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich ausgesprochen: „Heute beobachten wir eine fast durch nichts gezügelte und übertriebene Anwendung von militärischer Gewalt in den internationalen Angelegenheiten. Einer Gewalt, die die Welt in die Tiefen einander ablösender Konflikte stößt. Als Folge reichen die Kräfte nicht für eine umfassende Lösung zumindest eines einzelnen davon. Auch ihre politische Lösung wird unmöglich.“
Die Vereinbarung zwischen den USA einerseits und Polen und Tschechien andererseits zur Installation eines Raketenabwehrsystems sind geeignet, ein neues Wettrüsten in Europa auszulösen. Ein Grundgedanke der Friedensbewegung aus den 70er Jahren verdient es, wieder aufgegriffen zu werden: Sicherheit in Europa kann nur Sicherheit miteinander und nicht gegeneinander sein. Die Linke muss sich wieder bewusst machen, dass Europa mehr ist als die EU. In diesem Sinne lässt sich vielleicht eine Position der Linken auf den Begriff verdichten: Europafreundlich, aber EU-kritisch.
Liebe Freundinnen und Freunde,
aus meiner Sicht ergeben sich für die Linke daraus drei strategische Eckpunkte:
1. Die europäische Linke muss ihre Kraft darauf konzentrieren, dass sich Europa von der Weltherrschaftspolitik der USA abkoppelt und einen anderen Weg geht. Die Forderung, die US-Stützpunkte in Europa zu schließen, die US-Atomwaffen abzuziehen und den jeweiligen Luftraum wieder nationaler Kontrolle zu unterstellen, – „Ami go home!“ – ist politisch richtig ist und findet Beifall in der Bevölkerung.
2. Der Kampf um ein anderes Europa hat nur dann einen Sinn, wenn er sich mit Vorschlägen für eine andere Politik verbindet. Die Alternative zu einer unipolaren Welt ist nicht eine bipolare, sondern eine Welt mit einer Vielfalt von Akteuren, gleichberechtigten Staaten, Völkern und Bewegungen. Wird die EU zu einer „USA light“, haben wir nichts gewonnen und die imperialen Ansprüche Europas sind nicht das Feld, auf dem wir uns bewegen sollten. Unsere Europa-Konzeption muss also beinhalten, dass Europa sozialer, demokratischer, toleranter und ziviler sein soll als die USA. Das macht einen Bruch der Linken mit der neoliberalen Politik unverzichtbar. Unser Kampf für ein anderes Europa und die Notwendigkeit, sich von den USA abzukoppeln, sind zwei Seiten der gleichen Medaille.
3. Die Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag hat dazu beigetragen, Auslandseinsätze der Bundeswehr einer kritischen Auseinandersetzung zu unterziehen. Grundsätzlich sind 39 % der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, von den Wählerinnen und Wählern der Linken 59,9 %; 69 % der Bevölkerung halten es für geboten, dass sich die „Bundeswehr von der einen oder anderen Mission zurück zieht“ (Infratest dimap, November 2006). Das konsequente Nein zu völkerrechts- und grundgesetzwidrigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist zu einem wichtigen Teil der Identität, der Ausstrahlung der neuen Linken und zu einem wichtigen Motiv, uns zu wählen, geworden. Die Mehrheit der Bevölkerung gegen Auslandseinsätze ist jedoch keine Konstante, auf die wir bauen können. Sie zu halten und von ihrer Rationalität zu überzeugen, das kann und muss ausgebaut werden.
Für eine solche Politik sehe ich in den parlamentarischen und außerpar-lamentarischen Räumen Partnerinnen und Partner, weit über das klassische Milieu und über bisherige Grenzen linker Bündnispolitik hinaus. Jeder Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses werden Veränderungen in der Alltagskultur, im Denken und Handeln der Menschen vorausgehen. Nicht ein Krieg der Kulturen, nicht ein neues Wettrüsten, sondern auch eine andere Kultur der Linken macht ein ande-res Europa, eine andere Welt möglich.