Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung Wie viel Radikalität dürfen sich die Grünen erlauben?

Zum Kölner Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen vom 1. bis zum 3. Dezember 2006. Von Jochen Weichold

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Jochen Weichold,

Erschienen

Dezember 2006

Zum Kölner Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen vom 1. bis zum 3. Dezember 2006

Emotionale Höhepunkte sind auf grünen Parteitagen in den letzten Jahren selten geworden. Doch auf der 26. Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) in Köln Anfang Dezember 2006 kochte die grüne Seele gleich mehrfach: ob gleich zu Beginn bei der Vorstellung des neuen Logos der Partei, bei der Diskussion über Brückentechnologien ins gelobte Land der Null-Emissionen oder in der Afghanistan-Debatte.

Die Krieg-Frieden-Frage treibt die Grünen wieder um. Einst – in der Regierung – hatten sie sowohl für den ISAF-Einsatz in Afghanistan als auch für die Operation Enduring Freedom (OEF) votiert. In der Domstadt herrschte zumindest Einigkeit darüber, dass die USA unter dem OEF-Mantel einen schmutzigen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führen, einen Krieg, mit dem der Kampf gegen den Terrorismus nicht zu gewinnen ist, der ihm vielmehr neue Kämpfer zutreibt. Doch sollen die Grünen angesichts der sich verschlechternden Lage in diesem asiatischen Land über Exit-Strategien nachdenken, wie dies Christian Ströbele, Winfried Hermann und andere Parteilinke mit zwei Änderungsanträgen verlangten, oder müsse man im Interesse der sich langsam entwickelnden Zivilgesellschaft das militärische und polizeiliche Potential beibehalten oder gar noch aufstocken?
Der Schlagabtausch darüber ging nicht ohne Unterstellungen und Diffamierungen des innerparteilichen Gegners ab. Die Bundestagsabgeordnete Biggi Bender legte Ströbele zur Last, sein Antrag laufe entgegen der Beteuerungen auf einen Abzug der ISAF-Truppen hinaus. Der Parteilinke verschließe bewusst die Augen davor, dass in Afghanistan die Menschenrechte nur durch den Einsatz der ISAF-Truppen gesichert werden könnten: „Was ist das für ein Frieden, wenn Frauen im Fußballstadion von Kabul bis zum Hals eingegraben werden und dann der Bagger drüberfährt?“, rief sie. Ihre Fraktionskollegin Krista Sager hielt Ströbele vor, der vom ihm angedachte ISAF-Abzug würde Afghanistan sehenden Auges den Taliban überlassen. Realos wie Fritz Kuhn und so genannte Regierungslinke wie Jürgen Trittin konnten sich letzten Endes in Kampfabstimmungen mit jeweils etwa drei Viertel zu einem Viertel der Stimmen durchsetzen. Die Änderungsanträge von Ströbele und Genossen scheiterten.

Mehrheitsposition der Grünen ist damit, für einen Strategiewechsel in der internationalen Afghanistan-Politik einzutreten, ohne jedoch über Exit-Strategien nachzudenken. Zudem soll jedoch eine parteiinterne Kommission die bisherigen Auslandseinsätze der Bundeswehr auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen und über die Grundlinien der künftigen grünen Friedenspolitik beraten. Auf einem Friedenskongress im Jahr 2007 will man die Kommissionsergebnisse beraten. Ein Beschluss, der manchen Realo eine Revision rot-grüner Regierungspolitik und eine Abkehr vom lang erkämpften Abschied von der reinen Lehre des Pazifismus fürchten lässt.

Angesichts der neuesten alarmierenden Daten zum Klimawandel und der von der Stern-Kommission prognostizierten gravierenden wirtschaftlichen Schäden, die entstehen werden, wenn es kein Umsteuern gibt, schieden sich in der Diskussion über Brückentechnologien die grünen Geister an der Frage, ob künftig überhaupt noch in moderne, emissionsreduzierte Kraftwerke auf fossiler Basis investiert werden dürfe oder nicht. Die in dieser Frage ganz radikalen Anhänger von Hans-Josef-Fell, dem grünen Energie-Experten im Bundestag, verneinten dies und forderten die unabdingbare Umsetzung einer Null-Emissions-Strategie bis zur Mitte des Jahrhunderts. Schließlich seien die Grünen, so ein Delegierter, zu Recht gegen alle Atomkraftwerke, auch wenn neu gebaute moderner sind als alte.

Der von dem Umweltpolitiker Reinhard Loske eingebrachte Antrag plädierte hingegen dafür, in einem Übergangszeitraum noch fossile Energien (vor allem auf Basis von hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen, Blockheizkraftwerken und perspektivisch Brennstoffzellen) zu nutzen. Neue Kohlekraftwerke ohne CO2-Abscheidung seien allerdings klimapolitisch nicht verantwortbar. „Unser Ziel ist es“, so die von Loske vorgeschlagene Passage, „den Ausstoß klimaschädigender Treibhausgase in Deutschland bis 2050 um mindestens 80 Prozent zu reduzieren und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auf eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien umzusteigen.“ Die Delegierten entschieden sich – getreu dem von der Parteiführung ausgegebenen Motto „radikal und realistisch“ – für die Passage von Loske und damit für etwas weniger Radikalität.

Wenige Tage vor dem Kölner Parteitag berichtete „Der Spiegel“ darüber, dass die grüne Führungsriege die Basis mit einem neuen Partei-Logo beglücken wolle. Der Begriff „Bündnis 90“ war in ihm nur noch halb so groß dargestellt wie die Bezeichnung „Die Grünen“, was als schleichende Entsorgung des Begriffs „Bündnis 90“ aus dem Parteinamen verstanden wurde. Ein Junger Grüner brachte es sarkastisch auf den Punkt: Der Bundesvorstand habe „das Bündnis 90 auf dem Altar der Medialisierung geopfert“.

Doch allein damit ließe sich die Entrüstung der Basisdelegierten nicht erklären. Schließlich haben zwei der größten Landesverbände der Grünen – nämlich diejenigen in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg – ihre letzten Landtagswahlkämpfe bereits ohne den Zusatz „Bündnis 90“ geführt. Die Frage des Logos ist jedoch eine Frage der Identität (oder wenigstens der Gewöhnung). Die Basis fühlte sich überrumpelt, hätte früher einbezogen werden und wenigstens unter drei Varianten auswählen wollen. Außerdem wurde moniert, wenn die Grünen radikaler und bissiger auftreten wollen, dann dürfe das neue Logo nicht so blass-grün daherkommen; ein kräftiges dunkles Grün wäre angemessener. Und schließlich sei völlig unklar, warum die Partei gerade jetzt ein neues Logo brauche.
Da half dann auch kein Hinweis von Bütikofer und Roth darauf, dass alle anderen Parteien in der letzten Zeit ihre Logos geliftet hätten, dass die Entwicklung des neuen Logos im Rahmen des laufenden Vertrages mit der Werbeagentur „Zum Goldenen Hirschen“ enthalten sei und im Prinzip keine zusätzlichen Kosten verursacht habe. Auch die Landes-, Kreis- und Ortsverbände könnten ihre alten Werbematerialien in Ruhe aufbrauchen, und wenn sie neue benötigten, würden die dann eben das neue Logo tragen. Die offene Abstimmung über das neue Logo brachte ein Patt. Bevor das Präsidium zur schriftlichen Abstimmung schreiten konnte, zog der Bundesvorstand die Notbremse und das neue Logo zurück. Und am nächsten Tag teilte der Schatzmeister mit, dass der Werbeagentur-Vertrag neu ausgeschrieben werde...

Das erklärte Hauptziel der 26. Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) von Bündnis 90 / Die Grünen, die Anfang Dezember 2006 in den Rheinparkhallen in Köln tagte, bestand allerdings darin, mit einem „radikalen Realismus“ insbesondere beim Umwelt- und Klimaschutz das politische Profil der Grünen als Oppositionspartei zu schärfen, um auf diese Art und Weise die CDU/CSU-SPD-Regierungskoalition vor sich her zu treiben. Auf Drängen der Basis ins Programm genommene Debatten zu Afghanistan und zum neuen Parteilogo überfrachteten allerdings die ohnehin volle Tagesordnung und brachten alle Zeitpläne ins Rutschen. Die Diskussion zum G 8-Gipfel 2007 in Heiligendamm fand faktisch erst nach dem anvisierten Ende des Parteitages um 14.00 Uhr am Sonntag statt, als die meisten Delegierten längst zu ihren Zügen eilten.

Einen zentralen Platz auf der BDK in Köln nahmen die Wahlen zum Bundesvorstand der Partei und zum Parteirat ein. Die Delegierten diskutierten ausführlich zur Umweltpolitik und zur Zukunft der sozialen Sicherung. Im Ergebnis der Debatte zur Umweltpolitik beschlossen die Delegierten als Ziel, den Kohlendioxyd-Ausstoß in Deutschland bis zur Mitte dieses Jahrhunderts um 80 Prozent zu vermindern. Dazu wollen die Grünen eine Besteuerung von Flugbenzin und eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 Kilometern in der Stunde auf Autobahnen einführen und gesetzliche Rahmenbedingungen für die Einführung einer so genannten City-Maut schaffen. Nicht zuletzt treten die Grünen für die Fortsetzung des Atomausstiegs ein.

Im Ergebnis der Diskussion zur Zukunft der sozialen Sicherung stimmten die Delegierten für die Einrichtung einer Kommission, die auf der Grundlage der Konzepte zum bedingungslosen Grundeinkommen und zur Grundsicherung Vorschläge zur Weiterentwicklung des Sozialstaates erarbeiten soll. In der Sache (Grundeinkommen bzw. Grundsicherung) traf der Parteitag allerdings keine Vorentscheidung. In der Debatte selbst bestand Einigkeit darüber, dass der Sozialstaat Menschen in Notlagen unterstützen müsse. Heftige Kritik wurde vor allem an den Bürgergeld-Vorstellungen der FDP und des thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus geübt, denen alle anderen sozialen Sicherungssysteme und staatlichen Förderstrukturen zum Opfer fallen sollen. Parteilinke wie Astrid Rothe-Beinlich und Stefan Ziller vom Arbeitskreis Grundeinkommen benannten Kriterien für ein Grundeinkommen: Es müsse armutsfest und Existenz sichernd, mit einem individuellen Rechtsanspruch für Frauen und Männer, (die soziokulturelle) Teilhabe sichernd, ohne Arbeitszwang und ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgestattet sein.
Während einige Realos wie die stellvertretende Bundestagspräsidentin, Katrin Göring-Eckardt, Sympathie für ein bedingungsloses Grundeinkommen äußerten und gleichzeitig warnten, ein Grundeinkommen dürfe nicht dazu führen, dass Sozialleistungen gekürzt werden, hielten sich andere wie der neoliberale Haushälter Oswald Metzger, die in der Vergangenheit derartige Konzepte als unrealistisch und als nicht finanzierbar gegeißelt hatten, auffallend zurück und griffen nicht in die Diskussion ein. Die Frage der Finanzierbarkeit wurde so in Köln erst gar nicht gestellt.

Zieht man eine Gesamtbilanz der 26. Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90 / Die Grünen, dann bleiben vor allem folgende Punkte bemerkenswert:
Erstens haben die Grünen in der Domstadt daran gearbeitet, ihr Profil als Oppositionspartei zu schärfen. Und das – gemessen am Medienecho – durchaus nicht ohne Erfolg. Dabei haben sie sich – neben harscher Kritik an der Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD – vor allem an der FDP abgearbeitet, während es nur wenige Bezüge auf die Linkspartei. gab. Dies ist nicht allzu verwunderlich, besteht doch das erklärte Ziel der Öko-Partei darin, die von ihr zu Recht als neoliberal gebrandmarkte FDP vom Platz der drittstärksten Partei im bundesrepublikanischen Parteiensystem zu verdrängen und in der Folge dessen wieder an Landes- und Bundesregierungen beteiligt zu werden.

Zweitens existieren in der Nach-Fischer-Ära unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man dieses Ziel erreichen kann. Vereinfacht kann man zwei strategische Herangehensweisen ausmachen, die in der Grünen-Führung miteinander um die Hegemonie ringen: Zum einen verfechten Kräfte um Bütikofer und Roth vom Bundesvorstand den Weg, über die Entwicklung von politischen Inhalten die Partei deutlich zu profilieren, auf dieser Basis gesellschaftlichen Rückhalt zu organisieren und dann zu schauen, was sich in welchen Koalitionskonstellationen durchsetzen lässt. Zum anderen fällt eine Gruppe um Kuhn und Künast von der Bundestagsfraktion ins Auge, die eher den umgekehrten Pfad einschlägt und tendenziell auf inhaltliche Prioritäten verzichtet. Sie hält erst nach möglichen Koalitionspartnern Ausschau, richtet dann unter diesem Gesichtspunkt Programmatik und Ziele aus und produziert so schwarz-grüne Gedankenspiele und Reiseangebote nach Jamaika. Während Bütikofer auf der BDK offen dagegen polemisierte, dass aus Hinterzimmern immer wieder solche Gedankenspiele in die Öffentlichkeit lanciert werden, schien Kuhn Kreide gefressen zu haben, indem er die Bedeutung von politischen Inhalten hervorhob. Dennoch ist gegenwärtig offen, welche Richtung die Grünen hier in Zukunft einschlagen werden.

Drittens hat der Kölner Parteitag keine grundlegende politische Richtungsänderung der Grünen vorgenommen. Man könnte höchstens von einer moderaten Verschiebung der politischen Achse der Grünen nach links sprechen. Das zeigte sich vor allem in den Debatten und Beschlüssen zur sozialen Sicherung, zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan und zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Mit zumeist differenziert formulierten Positionen haben die Grünen die Honigfalle umgangen, in ihrer Regierungszeit abgesteckte Standpunkte in der Opposition einfach in ihr Gegenteil zu verkehren oder gar in einen blanken Fundamentalismus zu verfallen.