1. Zur Einordnung
Im Unterschied zu den meisten anderen west- sowie nordeuropäischen Ländern galt für die Geschichte der Bundesrepublik linkssozialistische Partei und Politik in Regierungsverantwortung als unvorstellbar. Eine einflussreichere sozialistische Partei links von der Sozialdemokratie gab es nicht. Linksregierungen schienen kein Thema.
Erst mit der Entwicklung der PDS nach 1989/90 (unabhängig davon, ob sie eine linkssozialistische Partei ist) wurde das bislang Unvorstellbare auch in Deutschland auf die politische Agenda gesetzt. Und das sorgte für Aufregung. Vor allem natürlich im konservativen Lager. Doch auch die SPD fasste alsbald einen „Unvereinbarkeitsbeschluss“, der Zusammenarbeit und Koalitionen mit der PDS ausschloss. Nichtsdestotrotz kam es zum „Magdeburger Tolerierungsmodell“ (1994-2002) und in Mecklenburg-Vorpommern (seit 1998) zur ersten PDS-Regierungsbeteiligung auf Landesebene. Ende 2001 wurde gar in der Hauptstadt Berlin mit ihrer Ost-West-Dimension ein rot-roter Senat gebildet. (1)
Aufregungen und kontroverse Diskussionen über die PDS-Regierungsbeteiligung waren seitdem mehr im pluralen linken Spektrum zu verzeichnen. Das freilich konnte weniger überraschen. Denn linkssozialistische Politik in Regierungsverantwortung ist kein Bewegen auf eingefahrenen Gleisen, sondern das Beschreiten von Neuland. Und das ohne größere Erfahrungen, ohne ausreichenden konzeptionellen Vorlauf und ohne die Möglichkeit, auf bewährte und tragfähige Projekte und Instrumente zur Gestaltung und Veränderung der Gesellschaft zurückgreifen zu können. Keine Frage – linke Politik in Regierungsverantwortung ist ein konflikthaftes und ambivalentes Projekt. Statt der abstrakten Ob- musste nun eine praxisbezogene Wie-Debatte geführt werden.
Was hier also abläuft ist ein einmaliger gesellschaftlicher Test, für die PDS und ihre Politik, aber auch für die gesamte Linke und nicht zuletzt für die politische Öffentlichkeit und politische Kultur der Bundesrepublik. In diesem Sinne ist linkssozialistische Partei und Politik in Regierungsverantwortung auch ein Projekt strategischen Lernens, ein Prüfstein der Fähigkeit der PDS und der demokratischen Linken zum Organisationslernen als Erfahrungslernen. Der notwendige kollektive Lernprozess verträgt sich nicht mit feststehenden und nicht zu hinterfragenden Gewissheiten, sondern erfordert auf allen Seiten Offenheit, kritische Prüfung der Ergebnisse und Erfahrungen linker Regierungsbeteiligung und die Fähigkeit zur Kurskorrektur.
Wenn man nicht jede Beteiligung linker Parteien an der Ausübung von Regierungsmacht prinzipiell ablehnt, weil sie zur Stabilisierung des Kapitalismus, zur Integration linker Kräfte in die herrschenden Eliten, zur Schwächung solidarisch-emanzipativer Kräfte insgesamt beitrage, dann muss vor allem gefragt werden, unter welchen Bedingungen diese Beteiligung erfolgt. Die heutige Grundbedingung ist die globale Hegemonie des Neoliberalismus und die enorme ökonomische, kulturelle, politische und militärische Übermacht der Kräfte des Neoliberalismus, des Imperialismus und Militarismus. Die harte politische Frage ist, ob unter diesen Bedingungen und aus diesen Bedingungen heraus originär linke Politik in Regierungsverantwortung auf regionaler und Länderebene überhaupt möglich ist und, wenn ja, welchen Charakter sie tragen müsste.
Diese Hegemonie des Neoliberalismus ist kein Abstraktum, sondern ergibt sich aus einer konkreten Veränderung des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik, neuer Kräfteverhältnisse und Einstellungen der wichtigsten gesellschaftlichen Klassen und Gruppen. Regionen sind in eine direkte globale Standortkonkurrenz gezwungen, die nicht mehr national durch eine makroökonomische Keynesianische Globalsteuerung ausgeglichen wird. Die monetaristische und angebotsorientierte Politik der Europäischen Union im Rahmen der Eurozone und der Bundespolitik haben eine Wachstumsschwäche, sinkende Binnennachfrage und eine Senkung der Einnahmen der öffentlichen Haushalte nach sich gezogen. Diese Tendenzen haben sich in Berlin auch nach Bildung der rot-roten Koalition deutlich verstärkt.
2. Regierungsbeteiligung als neue Herausforderung
Das Zustandekommen von Rot-Rot in Berlin war die Folge des Zusammenbruchs des Westberliner Politikmodells und die Folge der Legitimationskrise des Regierungsprojekts der Großen Koalition. Die fast ungebrochen seit 1990 wirkende Große Koalition in Berlin hatte zum einen das auf der Zufuhr von Bundeszuschüssen basierende Modell einer subventionierten Regionalentwicklung auch dann noch fortgesetzt, als diese Subventionen wegbrachen – immer mit der Illusion begründet, dass in Folge der Hauptstadtfunktion ein starkes Wachstum zu erwarten sei. Zweitens verstärkten sich unter dem Druck der knapper werdenden Mittel parasitäre und spekulative Tendenzen, wurden Patronage-Klientelbeziehungen insbesondere im Komplex von Landesbank und regionaler Bauwirtschaft ausgebaut. Drittens erforderten die regionalen korporatistischen Strukturen ihren Preis und wurden sogar teilweise noch auf Ostberlin ausgedehnt. Der unvermeidliche Umbauprozess der regionalen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, der städtischen Dienstleistungen und des öffentlichen Dienstes wurde im Interesse kurzfristiger Machtsicherung der großen Parteien und der mit ihnen verbundenen alten regionalen Eliten hinausgeschoben und eine massive, am Ende nicht mehr kontrollierte Verschuldung sowie spekulative Blase von Immobilieninvestitionen in Kauf genommen. Die gleichzeitige Umstellung auf neoliberale Politikelemente in anderen Bereichen verstärkte die Krise nur und beförderte noch das Wegbrechen der regionalen Wirtschaft und der öffentlichen Einnahmen. Mit der endgültigen Aufzehrung dieser Ressourcen brach das gesamte Regierungsprojekt zusammen. Auslöser war die Krise der Berliner Landesbank. Sie machte die Krise des subventionsorientierten parasitär-klientelistischen und hoch bürokratisierten Westberliner Modells von Regionalpolitik und ihrer Verbindung mit Elementen des Neoliberalismus offensichtlich. Es war eine Krise eines neoliberalen Modells regionaler Entwicklung unter dem Primat von Klientelismus und Immobilismus derjenigen Strukturen, die die Basis der regionalen Eliten bildeten. Wesentliche endogene Entwicklungsressourcen wurden untergraben und das Land in eine aus eigener Kraft unlösbare Haushaltskrise gestürzt. Es kam zu einer Krise der Effizienz, der Legitimation und der sozialen Basis dieser Politik. Sie erschien als ungerecht und undemokratisch.
Für die PDS Berlin ergaben sich mit der Regierungsbeteiligung zwei grundlegende Herausforderungen. Zum einen: Ist sie tatsächlich koalitions- und regierungsfähig und in der Lage, in Berlin wieder eine handlungsfähige und demokratisch legitimierte Regierung mitzubegründen. Und – findet dies in einer Öffentlichkeit Akzeptanz, die eine Regierungsbeteiligung der PDS bislang mehrheitlich (v. a. in Westberlin) ablehnte? Zum anderen: Kann verhindert werden, dass das in die Krise geratene Projekt in Berlin lediglich mit anderen Mitteln fortgesetzt wird. Positiv formuliert - gelingt tatsächlich ein Kurs- und Politikwechsel, eine andere als die dominierende neoliberale Politik? Leistet die PDS dafür einen eigenständigen und in der Gesellschaft anerkannten Beitrag?
Die wenigen europäischen Erfahrungen der 90er Jahre – Frankreich, Italien, Schweden, Spanien – sind sehr gemischt, oft ernüchternd. Trotz manch neuer sozialer und demokratischer Ansätze in der Politik – ein wirklicher Bruch mit dem Neoliberalismus gelang nirgendwo.
Aus dieser Krise ergaben und ergeben sich zwei alternative Entwicklungspfade: Zum einen kann das gleiche neoliberale Projekt mit anderen Mitteln fortgesetzt werden. Dies kann bedeuten, es von seiner Bindung an besonders klientelistische Gruppen zu lösen (insbesondere die Verschmelzung von Landesbank und Bauwirtschaft sowie bestimmten Politikergruppen), durch eine Mischung von Erpressung und Einbindung die Blockierung des neoliberalen Projekts durch gesellschaftliche Kerngruppen zu überwinden (siehe Einbindung von Gewerkschaften in Agenda 2010 in Deutschland), Formen der repressiven Unter- und Einordnung marginalisierter Gruppen der Gesellschaft (Hartz IV als Mischung von Absenkung bzw. Streichung sozialer Anrechte und Übergang zu Arbeitszwang im Niedriglohnsektor). Dies ist die Strategie der gemäßigten Linken (der Sozialdemokratie) in den meisten Staaten der EU. Sie erscheint gegenüber einem parasitär-klientelistischen Neoliberalismus als Modernisierung, führt aber nicht aus der allgemeinen Wachstumsschwäche, sozialen Desintegration und autoritären Steuerung heraus. Sie schafft bestenfalls bessere Bedingungen für einen kleineren Teil der regionalen Eliten und Mittelschichten.
Die andere Strategie wäre die der Nutzung der Krise des neoliberalen Projekts (in beiden Formen), um den durch den Neoliberalismus eingeschlagenen Entwicklungspfad in Richtung eines Entwicklungspfads solidarisch-emanzipativer Transformation zu verlassen.
Die Krise des Neoliberalismus in seiner konkreten Form eines Regierungsprojekts schafft dafür aber keinesfalls die unmittelbaren Voraussetzungen. Sie müssen erst entstehen bzw. geschaffen werden. Ein unmittelbarer Ausstieg aus dem Neoliberalismus ist auch national unmöglich. Schärfer noch stellt sich die Frage, welche Bedingungen und Elemente eines Ausstiegs regional überhaupt geschaffen werden können und in welchen Zeitrahmen.
3. Eine Zwischenbilanz
Auch und besonders die Entwicklung in Berlin seit Bildung der rot-roten Landesregierung Ende 2001 zeigt: Rot-rote Regierungspolitik hat es mit Rahmenbedingungen zu tun, die der Neoliberalismus auf Dauer gestellt hat. Schnelle Veränderungen insbesondere in den Bereichen Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik sind deshalb nicht möglich. Zumal die Handlungsräume der Länder sowohl durch den Bund und dessen Politik als auch durch die EU eingeschränkt sind. Der politische Steuerungsbedarf ist enorm, die Steuerungsmöglichkeiten eher gering.
Die PDS Berlin hat unter diesen Umständen gerade in den ersten Jahren ihrer Regierungsbeteiligung Lehrgeld zahlen müssen, Federn gelassen, auch weil sie auf Regierungsverantwortung unter Bedingungen des Neoliberalismus und der akuten Haushaltskrise in Berlin nicht ausreichend vorbereitet war. Der PDS fehlte außerdem ein klares Gestaltungskonzept. Viele der von Finanzsenator Sarrazin geforderten Einschnitte (bei Wissenschaft, Forschung, Sozialem, Kultur) konnte sie nur abmildern und sie hat manches mitgetragen, was sie sich in der Opposition nicht vorstellen mochte. Sie geriet in beträchtlichem Maße unter den Primat der Haushaltskonsolidierung, die sich weniger als Gestaltung und Investition in die Zukunftspotenziale der Stadt als vielmehr durch einseitige Kürzung der Ausgaben vollzog. Durch die Verschärfung der neoliberalen Orientierung der Bundespolitik im Zusammenhang mit der Agenda 2010 kam es zu weiteren Einbrüchen bei den öffentlichen Einnahmen (allein die Steuerreform kostete Berlin 400 Millionen Euro an Einnahmen) und den Zuschüssen für eine aktive Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Die sinkende Binnennachfrage schwächte vor allem die regionale Wirtschaft, während eine Reihe von exportorientierten Regionen Westdeutschlands davon profitierte.
Sie reagierte mehr als sie agierte. Sie war nicht in der Lage, das breite soziale und politische Bündnis, das ihr zu einem so herausragenden Wahlergebnis verholfen hatte, in eine dauerhafte politische Kraft und Basis einer eigenständigen Politik zu verwandeln. Ihre primäre Orientierung war auf die Koalition mit dem Regierungspartner SPD und nicht auf die Mobilisierung der Zivilgesellschaft gerichtet. Erst im Rahmen eines Lernprozesses wurde dem außerparlamentarischen Wirken stärkeres Gewicht gegeben, nahmen führende Landespolitiker an Demonstrationen gegen Hartz IV und andere antisoziale Reformmaßnahmen teil. Die PDS verlor in den ersten Jahren der Regierungsbeteiligung im beträchtlichen Maße die Deutungshoheit über die eigene Politik und produzierte bei den Betroffenen, den Wählern und ihren Mitgliedern viel Enttäuschung, die ganz andere Erwartungen mit „linker“ Regierungspolitik verbanden.
Ein Grundproblem linker Regierungspolitik, so zeigen auch Erfahrungen in Brasilien oder Südafrika, ist die Gefahr der Demobilisierung der linken, sozial- und demokratieorientierten Zivilgesellschaft bzw. sogar ihre Verwandlung in Gegner des linken Regierungsprojekts. Während die neoliberalen Projekte in ihrer klientelistischen bzw. offenen Variante über eindeutige und sehr handlungsfähige und einflussstarke Unterstützergruppen verfügen, gilt dies nicht für Versuche des Ausstiegs aus dem Neoliberalismus. Einer der Gründe dafür ist, wie auch die Berliner Erfahrungen zeigen, dass ein solcher Ausstieg auch Kernbelegschaften im öffentlichen Dienst vor die Notwendigkeit von Umbauprozessen stellt, auf die sie und die Gewerkschaften oft nicht vorbereitet sind. Kurzfristige soziale Gewinne können diese großen sozialen Gruppen nicht erwarten.
Doch müssen auch erfolgreiche Interventionen in den Blick genommen werden:
- Es ist Rot-Rot in Berlin gelungen, den Bruch mit den besonders parasitären Formen der Politik der Vorgängerregierung – gekennzeichnet durch Metropoleneuphorie und immer weiterer Verschuldung, durch Filz und Korruption – zu vollziehen. Die rot-rote Regierung hat damit wieder einen realistischen Blick in die Zukunft der Stadt ermöglicht. Die PDS hat hierzu einen wichtigen und inzwischen anerkannten Beitrag geleistet.
- Die PDS hat sich der neoliberalen Privatisierungseuphorie und -strategie entgegen gestellt, ohne schon eine kohärente und überzeugende Strategie der Wahrung und Entwicklung der öffentlichen Güter, des öffentlichen Eigentums präsentiert zu haben. Sie spricht sich für den Erhalt der für die Daseinsfürsorge wichtigen öffentlichen Unternehmen aus, darunter für Vivantes, dem größten öffentlichen Krankenhausunternehmen Europas, ebenso für die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), die Berliner Stadtreinigung (BSR) und die Messe. Sie hat sich stark gemacht für die Transparenz dieser öffentlichen Unternehmen und die Einführung eines neuen Controlling Systems des Landesparlaments.
- Die PDS hat die soziale Frage erstmals wieder im Senat ernsthaft thematisiert und auf die Agenda gebracht (Sozialstrukturatlas, Armutsbericht, Bildung des Senatsausschusses „Soziale Stadt“, Verstärkung und Erweiterung des Quartiermanagements in sozialen Brennpunkten). Die intakte soziokulturelle Infrastruktur, die den Vergleich mit anderen Metropolen nicht zu scheuen braucht, konnte im Wesentlichen erhalten werden. Alles in allem wurde – trotz der Haushaltsnotlage – gerade durch das Engagement der PDS eine Politik sozialer Balance gewahrt.
- Die Koalition hat alle wichtigen wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen der Ost-West-Stadt gesichert und keine Oper, keine Universität, keine Hochschule, kein Theater geschlossen. Die PDS hat gerade in den Ressorts, die sie leitet, Strukturreformen begonnen, um die Zukunftspotenziale der Stadt zu fördern: Reform der institutionellen Wirtschaftsförderung (u. a. Bildung einer Zentralen Anlauf- und Koordinierungsstelle für Unternehmen [ZAK], Gründung der Investitionsbank Berlin [IBB] als zentrale Förderinstitution besonders für die kleinen und mittleren Unternehmen), Stärkung der endogenen Wirtschaftspotenziale, statt der prophezeiten vehementen Abwanderung der Wirtschaft bei einem PDS-geführten Wirtschaftsressort haben sich seit Bildung des rot-roten Senats über 200 Unternehmen für Berlin entschieden und sich hier angesiedelt, Förderung von Genossenschaften; Reform der Universitätsmedizin ohne Preisgabe eines Standortes, Bildung der „Stiftung Oper“, Aushandlung des Hauptstadt-Kulturvertrages mit dem Bund, Erarbeitung der Hochschulverträge mit festem Etat und Planungssicherheit bis zum Jahre 2009.
- Es ist in Berlin gelungen, dem für den Bund typischen Prozess des Abbaus von Demokratie zu begegnen (u. a. Abschaffung der Schleierfahndung, Polizeistrukturreform) und Elemente partizipativer Demokratie zu fördern (Bürgerämter, erstmals Bürgerhaushalte, weit reichende Modelle direkter Demokratie auf Bezirksebene u. a. Bürgerentscheide mit einem Beteiligungsquorum von 15 Prozent, Herabsetzung des bezirklichen aktiven Wahlalters auf 16 Jahre). Allerdings hat es die PDS bislang nicht vermocht, den hier praktizierten Politikansatz direkter kommunaler Demokratie öffentlichkeitswirksam in die gesamtstädtische Diskussion zu bringen und als Einstiegsprojekt für die Stärkung von zivilgesellschaftlicher Gestaltungsmacht auf Länderebene zu nutzen. Gleichzeitig wurden verstärkt Maßnahmen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und die verschiedenen Formen von Diskriminierung eingeleitet. Flüchtlinge und Asylbewerber erhalten wieder Geld für ihren Lebensunterhalt statt der diskriminierenden Chipkarte. Flüchtlinge werden in Wohnungen statt in Wohnheimen untergebracht.
Durch ein breites gesellschaftliches Bündnis wurde der Aufmarsch der Neonazis am 8. Mai verhindert. Unter Rot-Rot hat sich das politische Klima in Berlin und das Bild des Auslands von Berlin spürbar positiv gewandelt.
Berlin ist damit kein sozialer Leuchtturm innerhalb einer neoliberalen Umstrukturierung der Bundesrepublik. Aber der Versuch, diesem Trend zu begegnen und eigene soziale und demokratische Akzente zu setzen, ist vorhanden. Da mit der Haushaltsnotlage und dem Urteil des Berliner Verfassungsgerichts, das dem Senat ein „Sanierungsprogramm“ auferlegt, das Tor für eine neoliberale Offensive im Lande weit geöffnet ist, ist das nicht gering zu schätzen. Die erste Hälfte der Legislaturperiode war vielfach noch durch Aufräumarbeit gekennzeichnet. Die Koalition erschien vor allem in den ersten Jahren in der Öffentlichkeit mehr als Streich-, denn als Gestaltungskoalition. Noch ist nicht entschieden, ob die rot-rote Regierungspolitik nur eine korrigierte Version eines regionalen Neoliberalismus einleitet, in dem Momente des sozialen Ausgleichs und demokratischer Partizipation einen höheren Stellenwert haben als in anderen Bundesländern, oder ob daraus ein wirklicher Einstieg in eine andere Entwicklung werden kann.
4. Weiterführende Reformstrategie
Notwendig ist eine weiterführende Reformstrategie und -politik. Das erfordert u. E.:
Erstens das Kenntlichmachen und die Kommunizierung einer leitenden Idee, die der Politik der Koalition und der PDS in der Koalition zugrunde liegt und die eine tragfähige Perspektive für die Stadt und ihre BürgerInnen bietet. Nur wer glaubwürdig vermitteln kann, wohin die Entwicklung geht, wird Zustimmung für die „Mühen der Ebenen“ finden können. Dazu bedürfte es auch einer gesellschaftlichen Hauptstadtdebatte, in der die Frage der Zukunft der Stadt und der Region in den Mittelpunkt gerückt wird. Eine überzeugende Antwort auf die Frage der „Zukunft“ gewinnt angesichts der „Scheidewegsituation“ generell für die Linke wieder an Bedeutung. Hier könnte sich die PDS als kreativer Ideengeber profilieren.
Zweitens braucht die PDS – gerade als kleinerer Koalitionspartner – vor allem aber eigene, zentrale politische Projekte. Diese sollten sie als moderne politische Kraft ausweisen, milieuverträglich sein, in einer Wahlperiode umsetzbar sein und gute Wahlkampfpräsentationen ermöglichen. Oder anders formuliert: Solche Projekte müssen vorzeigbar, kommunizierbar, abrechenbar sein. Inhaltlich wird es u. E. um Projekte gehen müssen, die sich gruppieren: (a) um die „Soziale Gestaltung der Stadt“, (b) um die „Erschließung der regionalen wirtschaftlichen Ressourcen und ihrer Verknüpfung mit dem besonders zukunftsträchtigen Wissenschafts-, Kultur- und Gesundheitsstandort Berlin“ und (c) um „Neue Formen der Bürgerbeteiligung“.
Entscheidend ist der langfristige (Wieder-)Aufbau einer starken regionalen Wirtschaft, der die Potentiale von Wissenschaft und Forschung gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen nutzt und in der die öffentlichen Betriebe einen zentralen Platz haben.
Für eine Wiederwahl der PDS genügt es nicht, als Regierungspartei „nur“ Schlimmeres verhindert zu haben. Wähler wollen wissen, wofür die PDS in Regierungsverantwortung tatsächlich steht, was sie, u. U. auch im Widerspruch zum Koalitionspartner, im Interesse der Bürger praktisch durchgesetzt hat.
Drittens geht es um einen neuen, emanzipativen Politik- und Kommunikationsstil, der den Leitsatz „Betroffene beteiligen“ weiter entwickelt. Ein Politikstil, der hier mit kooperativ, offen, dialogisch, d. h. vor allem der zivilen Gesellschaft zugewandt, beschrieben sein soll. Auf jeden Fall fängt eine andere Politik mit einem anderen Politikstil an, der auch von den Bürgern angenommen und honoriert wird. Dazu gehört ebenso das selbstbewusstere Auftreten der SenatorInnen in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt auch im Verhältnis zum Koalitionspartner SPD. Vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Koalition verlangt zugleich die Sicherung der strategischen Unabhängigkeit der linkssozialistischen Partei als Bestandteil einer sich neu formierenden demokratischen Linken in Deutschland. Nur dann, wenn es gelingt stabile gesellschaftliche Bündnisse zu schließen, die in der Lage sind, die regionalen politischen Kräfteverhältnisse zugunsten einer neuen Ausrichtung der regionalen Entwicklung zu verändern und in die bundespolitischen Auseinandersetzungen einzubringen, wird es möglich sein, linke Regierungen auf Dauer zu stellen. Dies aber ist bisher nicht gelungen. Die Machtbasis der rot-roten Regierung und der PDS im Besonderen konnte nicht wesentlich ausgebaut werden und ist teilweise sogar geschrumpft.
Die Ursachen hierfür sind in der jahrzehntelang gespaltenen Ost-West-Stadt sicher vielschichtig. Sie müssen sowohl in der Überwindung des Antikommunismus gesehen werden, der sie zunächst vor die Aufgabe stellte, sich mit Vorurteilen von Demokratie- und Regierungsunfähigkeit auseinanderzusetzen und in deren Konsequenz zunächst jede Koalition mit der PDS ausgeschlossen wurde, als auch in Auseinandersetzung mit dem Erbe einer zersplitterten oder in Abhängigkeit agierenden Westberliner Linken.
Vor allem jedoch müssen die Ursachen einer mangelnden Machtbasis in der Entwicklung der PDS selbst gesehen werden. Die Anfang der 90er Jahre beschriebene kommunale und regionale Verankerung ist weniger durch das Agieren der PDS in der Regierung als viel mehr durch das sich schließende Zeitfenster der PDS eingeschränkt: 60 % der PDS-Mitglieder sind über 65 Jahre, d.h. der Kreis der Aktiven und damit auch die Potenziale aktiver Basisarbeit und deren gesellschaftliche Vernetzung nehmen ab und können bislang nicht durch neu eingetretene Mitglieder, die sich auf kommunaler Ebene kontinuierlich in die Arbeit von Vereinen und Organisationen einbringen, kompensiert werden. Zugleich ist die Tatsache, dass nur 13 % der Mitglieder der PDS erwerbstätig sind, mit einem spezifischen Blick auf und Reflektion von Gesellschaft verbunden, die nicht mehr aus der Position des eigenen aktiven Engagements formuliert werden. Der entwickelten Fachkompetenz parlamentarischer Arbeit der Berliner PDS steht die gleichzeitige, strukturelle Schwächung ihrer Mitgliedschaft gegenüber, die mit einer sich lösenden gesellschaftlichen Bindung einhergeht und letztlich auch ihre außerparlamentarische Arbeit trifft. Das gilt sowohl für die Bezirks- als auch Landesebene. D.h. linke Politik in Regierungsverantwortung als Lernprojekt zu begreifen, muss auch die Ungleichzeitigkeiten in den Erfahrungsräumen der PDS-Mitgliedschaft berücksichtigen und Strategien entwickeln, dem Übergewicht bzw. der zivilgesellschaftlicher Abkopplung parlamentarischer Arbeit vor allem durch eine gesellschaftliche Verankerung der Partei entgegenzuwirken.
5. Die Folgewirkungen
Für die Bewertung der Regierungsbeteiligung reicht es nicht aus, allein Gewinne und Verluste gegen einander aufzurechnen. Denn Regierungsbeteiligung unter den genannten komplizierten Bedingungen ist immer Ausdruck von Ambivalenzen und Widersprüchen, ist immer ein Spannungsverhältnis. Man muss deshalb schon die längerfristigen Folgewirkungen linker Regierungen oder linkssozialistischer Regierungsbeteiligung in den Blick nehmen, und zwar die beabsichtigten wie die unbeabsichtigten. Am Fall Berlin wurde das auf vier Ebenen untersucht, die hier nur kurz skizziert werden können:
Erstens die Folgen für das Land, gemessen am Indikator „Kurs- und Politikwechsel“. Hier zeigt sich: Die Koalition hat im Vergleich zur CDU-SPD-Vorgängerregierung einen Kurs- und Richtungswechsel eingeleitet. Es wurde vor allem mit der klientelistischen und parasitären Form von regionaler Entwicklung gebrochen und Kurs auf die Stärkung endogener Wachstumskräfte genommen. Zugleich konnte der neoliberale Durchmarsch in Berlin zwar nicht aufgehalten, jedoch eingegrenzt werden. Der „große“ Politikwechsel, den die Anhänger erhofften, ist bislang jedoch noch nicht eingetreten. Ein gesellschaftliches Umsteuern gar hin zu einer neuen Entwicklungslogik, zu einem neuen Entwicklungspfad ist noch nicht in Sicht. Wenn dies auch auf regionaler Ebene schwer realisierbar ist, bleibt es aber eine Herausforderung und muss nun stärker ins Blickfeld der PDS rücken. Das erfordert generell die Ausarbeitung und Praktizierung einer modernen, linkssozialistischen Reformpolitik.
Zweitens die Folgen für die zivile Gesellschaft und ihre Akteure, gemessen an den Indikatoren „Politische Öffentlichkeit“ und „Bürgerpartizipation“. Hier zeigt sich: Mit dem Koalitionswechsel ist ein Wandel im politischen Klima der Stadt eingetreten. Auch hat die Bürgerbeteiligung, besonders in den Bezirken, zugenommen. Ein neuer gesellschaftlicher Hauptstadtdiskurs kam jedoch nicht zustande und eine neue politische Öffentlichkeit ist nur in ersten Ansätzen zu erkennen. Ein breites und stabiles gesellschaftliches Bündnis, das dauerhaft zum Träger eines alternativen Entwicklungspfades werden könnte, wurde nicht geschaffen.
Drittens die Folgen für die rot-rote Koalition, gemessen am Indikator „Akzeptanz“. Hier zeigt sich: Es gibt in der Stadt eine allgemeine Grundakzeptanz der SPD-PDS-Koalition. Dies war bis vor kurzem in der geteilten Ost-West-Stadt unvorstellbar. Gestritten wird heute nicht mehr zuerst darüber, ob eine solche Koalition in der Hauptstadt überhaupt eine Berechtigung habe, sondern wie sie Politik betreibt. Da jedoch hat sich in der Stadt ein beträchtliches Konfliktpotenzial entwickelt und die Zufriedenheit in der Bevölkerung mit der Politik des rot-roten Senats war nach 2001 rückläufig. Eine Tendenz, die bis heute anhält. Der Senat hat diesen Akzeptanzverlust nie ernsthaft untersucht. Dies ist auch dann kaum nachvollziehbar, wenn die Opposition – wie in Berlin – keine besseren Werte als die Regierung erhält und anders als im Bund in Berlin keine Wechselstimmung zu Schwarz-Gelb dominiert.
Viertens die Folgen für die PDS, gemessen an den Indikatoren „Politik- und Handlungsfähigkeit“ sowie „Positionen im Wettbewerb der Landesparteien“. Hier zeigt sich:
Regierungsverantwortung für eine linke Partei unter Bedingungen des Neoliberalismus ist nicht von vornherein ein Vorteil im Ringen um gesellschaftlichen Einfluss und Wählerstimmen. Auch weil Zustimmung nicht mehr materiell erkauft, sondern nur noch durch eine beharrliche Politik sozialer Gerechtigkeit und durch eine Glaubwürdigkeit des Handelns gewonnen werden kann. Das hat auch die PDS Berlin deutlich zu spüren bekommen, wenn man allein auf die Entwicklung der Umfragewerte 2001-2005 blickt. Dennoch ist nach gut drei Jahren festzustellen: Die Regierungsbeteiligung hat weder ihre „Politik- und Handlungsfähigkeit“ noch ihre „Positionen im Wettbewerb der Landesparteien“ geschwächt. So konnte sie ihre Fähigkeit zur Mitgestaltung des Landes unter Beweis stellen, neue soziale, wirtschaftliche und kulturelle Kompetenzen auf wichtigen Politikfeldern erwerben, den Zugang zu ganz neuen und der PDS als Oppositionspartei verschlossenen Interessengruppen und Verbänden gewinnen, hier neue Akzeptanz erlangen und sie konnte durch ihre Regierungsbeteiligung nicht zuletzt einige wichtige bundespolitische Initiativen (u. a. zur Einführung der Vermögens- und Erbschaftssteuer) entwickeln.
Diese neu gewonnene Politik- und Handlungsfähigkeit stärkt letztlich auch ihre Position im Wettbewerb der Landesparteien. Aber dies alles schlägt nicht automatisch in eine Stärkung des politischen Gewichts der PDS um: nicht in der PDS, nicht in ihrem Umfeld und nicht im Wählerpotenzial. Die generelle innere Widersprüchlichkeit und Konflikthaftigkeit der Regierungsbeteiligung der PDS wurde gerade parteiintern sowie im Verhältnis zwischen der Partei und sozialen Bewegungen deutlich. Akzeptanzgewinn bei koalitionsfernen Akteuren steht ein Akzeptanzverlust bei bestimmten koalitionsnahen Akteuren gegenüber, genau jener Kräfte, die für die soziale und demokratische Ausrichtung besonders entscheidend sind. Diese parteiinterne und –externe Konflikthaftigkeit der Regierungsbeteiligung der PDS ist überraschenderweise von der PDS Berlin nicht ernsthaft untersucht worden. Das Ganze ist nicht zuerst ein Informations-, sondern ein Beteiligungsproblem der Mitgliedschaft sowie der sozialen Bewegungen, der zivilgesellschaftlichen Akteure an den Entscheidungen der Landespolitik. Hier gibt es offensichtlich nicht zu übersehende Defizite in der Politik der PDS.
In Vorbereitung auf die Bundestags- und Landtagswahlen steht die PDS vor der Frage, wie der politische Gewinn der Regierungsbeteiligung für die eigene Partei erhöht werden kann. Dazu sind u. a. Profilschärfung, vorzeigbare Projekte, ein engeres Zusammenwirken mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren und insbesondere mit der gesamten demokratischen Linken, aber auch ein spezielles Akzeptanzmanagement nach innen und außen notwendig. Zumindest dann, wenn z. B. in Berlin das linkssozialistische Wählerpotenzial von 16-18 % erschlossen werden soll.
6. Erfahrungswerte und Schlussfolgerungen
Aus der Beobachtung und Analyse rot-roter Landesregierungen in Ostdeutschland und speziell in Berlin können einige Erfahrungen abgeleitet und problematisiert werden. An dieser Stelle sollen lediglich vier herausgegriffen und knapp thematisiert werden:
Erstens: Auch Rot-Rot in Berlin zeigt, dass angesichts der Dominanz des Neoliberalismus und der rechtlichen Verfasstheit der Länder im Bund und in der EU sowie der Politik der Bundesregierung die Handlungsräume gerade linkssozialistischer Politik in Regierungsverantwortung auf Landesebene eng und begrenzt sind. Zudem handelt es sich um eine Koalition unterschiedlicher Partner. Überzogene Erwartungen sind daher fehl am Platze. Doch eine praxistaugliche linkssozialistische Politik in Regierungsverantwortung hat – wie Berlin ebenfalls zeigt – bestimmte Gestaltungsmöglichkeiten und –räume, auch für alternative Ansätze. Es ist deshalb mehr möglich als nur „Schadensbegrenzung“ und eine „Politik des kleineren Übels“. Ein plötzlicher Bruch, ein „Alles oder Nichts“ ist angesichts verfestigter neoliberaler materieller und kulturell-geistiger Strukturen jedoch nicht möglich. Es geht unter den heutigen Bedingungen um Richtungsänderungen auf europäischer, nationalstaatlicher und regionaler Ebene, um eine langfristig angelegte neue soziale und demokratische Strategie und Politik, die das hegemoniale neoliberale Projekt „überschreiten“ und die allmählich den Weg für neue gesellschaftliche Entwicklungslogiken öffnen. Es bedarf eines auch regional geführten Kampfes, um die bundespolitischen Rahmenbedingungen langfristig zu verändern. Dazu müssten öffentliche und massive Konflikte auf bestimmten Feldern selbstbewusster in Kauf genommen werden.
Zweitens: Die durch rot-rote Landesregierungen im Zusammenwirken mit regionalen Akteuren ergriffenen Maßnahmen müssen sich insofern als nachhaltig erweisen, dass sie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit insbesondere auf der Basis innovativer Potenziale sowie die soziale und kulturelle Integration der Stadt oder des Landes stärken und sich insofern spürbar von neoliberaler Politik unterscheiden. Dazu gehört auch die Stärkung bürgernaher öffentlicher Dienstleistungen als Basis sozialer Kohäsion.
Drittens: Die Einleitung eines neuen, zukunftsfähigen Entwicklungspfades verlangt nicht zuletzt eine neue politische Öffentlichkeit, zivilgesellschaftliche Bewegungen, kulturelle Gegenhegemonien zum neoliberalen Kurs und vor allem neue gesellschaftliche Mehrheiten. Diese Voraussetzungen sind nicht allein über linkes Regierungshandeln und nicht allein von oben zu schaffen. Ohne gesellschaftlichen Dialog und Mobilisierung der Bürgergesellschaft besteht im Gegenteil die Gefahr, im Rahmen des gemäßigten neoliberalen Fahrwassers zu verbleiben und den angestrebten gesellschaftlichen Richtungswechsel zu verfehlen. Wichtig ist deshalb auch ein neuer Dialog zwischen linkssozialistischer Partei und den verschiedenen Formationen der pluralen Linken sowie den sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Akteuren. Gerade dann und dort, wo linke Parteien in Regierungsverantwortung agieren und sich damit oft konflikthafte „Begegnungsstrukturen“ entwickeln. Für eine linkssozialistische Partei in Regierungsverantwortung bedeutet das einen Spagat zwischen Macht-(Regierungs-) und Gesellschaftspolitik, den zu beherrschen sie noch lernen muss.
Viertens: Das Projekt einer linkssozialistischen Regierungsbeteiligung auf Landesebene hat nur als gemeinsames Projekt von Landes- und Bundespartei eine ernsthafte Realisierungschance. Im Grunde können nur beide gewinnen oder beide verlieren, wie die widerspruchsvollen Erfahrungen der PDS gerade zwischen 2001 und 2004 belegen.
Die anhaltende kontroverse Diskussion um die Regierungsbeteiligung der PDS hat innerhalb der PDS und der gesamten Linken offensichtlich jedoch tiefer liegende Gründe. Hierin widerspiegeln sich auch unterschiedliche Vorstellungen vom Charakter linker Parteien und ihren strategischen Wirkungsmöglichkeiten in der kapitalistischen Gesellschaft.
Der Dissens in der Beurteilung der Regierungsbeteiligung, ihrer Chancen und Risiken wird deshalb nicht so rasch zu überwinden sein. Für die PDS wie für die Linke insgesamt stellt sich die Frage, ob es ihr gelingt, diese Diskussion „praxistauglich“ zu führen, d. h. vor allem zu den spezifischen Gestaltungsoptionen und –restriktionen sowie den Folgen linker Regierungsbeteiligung, linker Politik in Regierungsverantwortung unter Bedingungen der Herrschaft des Neoliberalismus. So könnte auch eine kontroverse Diskussion zur Konflikthaftigkeit und Ambivalenz linker Regierungsbeteiligung zu einem politischen Substanzgewinn der gesamten pluralen Linken beitragen, wenn sie bei den unterschiedlichen Akteuren zu einem offenen Lernprozess führt.
Lernfähigkeit und kooperatives Handeln der Linken sind eine Voraussetzung für ihre Politikfähigkeit – und die ist in der Gesellschaft gerade unter Bedingungen der Dominanz des neoliberalen Projekts mehr denn je gefragt. Vor, während und vor allem nach Wahlen.
Linkssozialistische Parteien und Politik in Regierungsverantwortung sind für die Bundesrepublik Deutschland eine neue Erscheinung und ein einmaliger gesellschaftlicher Test. Sie erfahren damit im hohen Maße öffentliche Aufmerksamkeit und öffentliche Kritik. Die mit Rot-Rot im allgemeinen und der PDS-Regierungsbeteiligung im besonderen verbundenen Probleme und Erfahrungen stellen auch der wissenschaftlichen Beobachtung und Forschung neue Aufgaben. Im Gegensatz zur Betrachtung der PDS als »Ganzem« ist das Handeln rot-roter Landesregierungen und das Agieren der PDS in Koalitionsregierungen bislang kaum systematisch untersucht worden. Anknüpfungspunkte ergaben sich jedoch aus der von Frank Berg und Thomas Koch 2000/2001 erarbeiteten wissenschaftlichen Begleitstudie zur SPD-PDS-Koalition in Mecklenburg-Vorpommern.
Gegenstand der vorliegenden Studie sollte die kritische Reflexion und Problematisierung von Erfahrungen der PDS als Regierungspartei in Berlin sein.
Es zeigte sich, dass dies eine knappe Rekonstruktion des Weges der Berliner PDS in die Koalition und vor allem eine Analyse des Handelns innerhalb dieser voraussetzte. Es konnte bei den Handlungsanalysen nicht um eine adäquate Evaluierung der verschiedenen Politikfelder, nicht um spezielle Policy Analysen gehen. Im Mittelpunkt jener Betrachtungen stand vielmehr die forschungsleitende Frage, welche spezifischen Gestaltungsziele die PDS formuliert, welche Handlungsräume sowie -möglichkeiten sie in der Koalition hat bzw. sich schafft und welche Effekte dieses politische Handeln erzeugt. Ein solches Vorgehen ist schon deshalb gerechtfertigt, da die Berliner PDS mit dem alternativ-reformerischen Anspruch antrat, den Regierungswechsel in einen Kurs- und Politikwechsel zu transformieren.
Eine sozialwissenschaftliche Analyse sollte dennoch nicht bei der Betrachtung des Handelns der Akteure in Regierungsverantwortung und ihrer unmittelbaren Ergebnisse stehen bleiben. Sie hat vor allem die intendierten und nichtintendierten Folgewirku??. Ô?ngen der Regierungsbeteiligung in den Blick zu nehmen. Die Frage war, wie sich diese Folgewirkungen objektivieren, messen lassen. Dafür wurden vier Ebenen – Folgen für das Land, für die Gesellschaft, für die rot-rote Koalition, für die PDS – mit jeweils spezifischen Indikatoren eingeführt.
Aus einer solchen Beobachtung und Analyse der Politik der Berliner PDS in Regierungsverantwortung konnten dann – unter Berücksichtigung des ehemaligen Tolerierungsmodells in Sachsen-Anhalt und der rot-roten Koalition in Mecklenburg-Vorpommern, aber auch der Regierungsbeteiligung linkssozialistischer Parteien in West- und Nordeuropa – einige Erfahrungen abgeleitet und problematisiert sowie einige strategische Schlussfolgerungen formuliert werden. Diese spezifischen Erfahrungen und Anregungspotenziale können zugleich in den Rang grundlegender Erfahrungswerte »Linkssozialistischer Politik in Regierungsverantwortung« gehoben und zur Diskussion gestellt werden.
Die Studie ist damit nicht zuerst der traditionellen Parteienforschung zuzuordnen, sondern versteht sich eher als eine politikwissenschaftliche Handlungs-, Akteurs- und Erfahrungsanalyse, bezogen auf die PDS in der Berliner Koalition. Wissenschaftliche Beobachtung und Analyse bedeuten ganz selbstverständlich größt mögliche Objektivität und kritische Distanz zum Untersuchungsgegenstand.
Die Studie basiert auf vier Bausteinen:
- Dokumentenanalyse und kritische Auswertung vorhandener Texte, Informationen, Publikationen zur Politik der PDS und zum SPD-PDS-Senat seit 2001;
- Qualitative Interviews und Expertengespräche mit Akteuren der PDS, der SPD, Vertretern sozialer Bewegungen und Interessenverbänden sowie unabhängigen Beobachtern;
- Teilnehmende Beobachtung;
- Systematisierung und theoretisch-konzeptionelle Verarbeitung der Untersuchungsergebnisse.
In Anbetracht der eingeschränkten Ressourcen, des begrenzten Zeitrahmens konnten eine ganze Reihe relevanter Fragen, auf die der Verfasser der Studie bei seinen Untersuchungen stieß, hier nicht oder nicht explizit behandelt werden. Das betrifft u. a. eine systematische Aufarbeitung der Ergebnisse und Erfahrungen linkssozialistischer Parteien und Politik in Regierungsverantwortung in Vergangenheit und Gegenwart in verschiedenen Ländern West- und Nordeuropas sowie Lateinamerikas. Eine solche Vergleichsstudie steht noch aus.
An dieser Stelle sei allen Interview- und Gesprächspartnern gedankt, die durch ihre Kooperationsbereitschaft, ihre Offenheit, ihr Interesse an diesem Anliegen die Erarbeitung der Studie ermöglichten. Ich kann nur hoffen, mit vorliegenden Ergebnissen ein wenig dazu beitragen zu können, die kontroverse Diskussion um dieses Neuland beschreitende politische Projekt, das zugleich ein Projekt strategischen Lernens ist, und die kritische Selbstreflexion seitens der verschiedenen landes- und bundespolitischen Akteure zu qualifizieren.