Bericht über die Diskussionsveranstaltung mit Sylvia-Yvonne Kaufmann und Peter Strutynski am 16. Juni 2005 in Berlin
Wie weiter nach der Ratifizierung der EU-Verfassung im Deutschen Bundestag und dem Nein bei den Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden? Darum ging es bei einem Streitgespräch über linke Politik in Europa Mitte Juni 2005, zu dem die Rosa-Luxemburg-Stiftung in ihren Berliner Konferenzraum eingeladen hatte. Moderiert von der bekannten Fernseh-Journalistin Bärbel Romanowski, diskutierten die Verfassungsbefürworterin Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Mitglied der PDS-Delegation in der Konföderalen Fraktion GUE/NGL, und der Verfassungsgegner Dr. Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, die politische Lage in Europa nach den Verfassungsreferenden und die Strategien der Linken zum europäischen Projekt.
War das „Non“ bzw. das „Nee“ bei den Referenden zur EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden ein großer Erfolg, „ein verdammt gutes Ergebnis“, wie sich Peter Strutynski in einer Rundmail des Friedensratschlages freute, oder „ein Pyrrhussieg für die Linken“, wie Sylvia-Yvonne Kaufmann in einer Presseerklärung bedauerte? Hat „die Demokratie gewonnen“ (Strutynski) oder die europäische Integration einen „schweren Rückschlag“ erlitten (Kaufmann)?
Die Bewertung der jüngsten Ereignisse durch die beiden Diskussionspartner könnte kaum unterschiedlicher ausfallen. Trotzdem ist die europäische Linke gefordert, den Blick nach vorn zu richten. Wie sieht die Strategie der Linken in Europa hinsichtlich des Zusammenwachsens des Kontinents aus? Wie können der Neoliberalismus zurückgedrängt und mehr gesellschaftlicher Fortschritt erreicht werden? Wie kann Europa in einen Kontinent verwandelt werden, von dem Frieden ausgeht?
Sylvia-Yvonne Kaufmann machte darauf aufmerksam, dass die aktiven Betreiber eines neoliberalen Europa das Ergebnis der Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden zum Anlass nehmen, um einen neuen Vorstoß zur Liquidierung der im Konventsentwurf enthaltenen sozialen Inhalte der EU-Verfassung zu unternehmen. Angesichts der eingetretenen tiefen Verfassungs-, Haushalts- und Legitimitätskrise der EU äußerte sie „große Sorge“ um die Zukunft des europäischen Projektes. Auch die politische Linke stehe in der Verantwortung für die Zukunft dieses Projektes, betonte sie in Anspielung auf das linke „Manifest von Ventotene“ für ein vereintes demokratisches Europa ohne kriegerische Auseinandersetzungen.
Eine Sorge, die Peter Strutynski nicht teilen wollte. Das Scheitern der EU-Verfassung sei nicht das Problem der Linken, sondern das Problem der Chiracs. Die Chiracs hätten die Karre in den Dreck gefahren. Nun sollten sie auch zusehen, wie sie die Karre wieder herauskriegen. Er gebe ja zu, dass sich die Friedensbewegung und die Linke zu wenig und zu spät um Europa gekümmert hätten. Er habe aber heute weniger Sorge um Europa als vor drei Wochen. Heute sei die EU-Verfassung „ein toter Hund“. Er freue sich über die Ergebnisse der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden, mit denen einer Militarisierung der EU eine Abfuhr erteilt worden sei.
Zur Sorge sehe er für die Linke keinen Anlass, meinte Strutynski. Die Geschichte von der EWG über die Europäische Gemeinschaft bis zur EU sei ja eine Erfolgsgeschichte gewesen. Doch sei sie gebunden gewesen an den wirtschaftlichen Aufschwung, an die damit einhergehenden großen finanziellen Verteilungsspielräume. In einer Situation, in der alles knapper werde, komme so ein Gebilde wie die EU zwangsläufig in Schwierigkeiten. Seine Vorstellung von Europa sehe ohnehin anders aus als die der Herrschenden, schließe Russland und die Türkei ein. Natürlich – so Strutynski – wäre das dann eine andere EU.
Grund genug für Kaufmann, Strutynski zu widersprechen. Ein Beitritt Russlands zur EU würde die Integrationskraft der Europäischen Union überfordern. Und die Frage eines Beitritts der Türkei zur EU habe sich mit der Ablehnung der EU-Verfassung insbesondere in den Niederlanden ohnehin erledigt, wo die Kampagne gegen die EU-Verfassung nicht zuletzt mit der These einer „Überfremdung der Niederlande“ und der finanziellen „Überforderung“ der Niederlande durch die Erweiterung der EU geführt worden sei. Auch könne sie nicht erkennen, womit Strutynski seine Aussage stütze, mit den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden sei einer Militarisierung der EU eine Abfuhr erteilt worden. Die Frage einer Militarisierung der EU habe in Frankreich überhaupt keine Rolle gespielt. Es sei vielmehr um die Ablehnung der EU-Erweiterung und um innenpolitische Fragen gegangen.
Das war das Stichwort für Dr. Strutynski. In Frankreich sei mit der Innenpolitik von Chirac die gleiche Politik abgelehnt worden, die auch die Europäische Union betreibt. Auf Vorhaltungen, die im Kontext der EU-Verfassung abgelehnte Rüstungs- bzw. „Verteidigungsagentur“ existiere ja bereits ohne Verfassung, entgegnete er, es sei ein politisch äußerst bedeutsamer (und in diesem Fall gefährlicher) Schritt, wenn eine solche Agentur auch noch Verfassungsrang bekomme. Gewissermaßen ein Resümee der Podiumsdebatte ziehend, erklärte Peter Strutynski, er habe eigentlich erwartet, dass es nach den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden leichter geworden wäre, unter Linken über das Thema Europa zu debattieren. Doch müsse er nun feststellen, dass die Unterschiede in den Positionen keineswegs geringer geworden seien.
In der anschließenden, für das Publikum geöffneten Diskussion ging es insbesondere um die Bewertung der Europäischen Verfassung. Überwiegen die Nachteile die Vorteile oder ist ein Kompromiss erzielt worden, der unter dem Strich einen Fortschritt gegenüber der Vergangenheit darstellt?
Insbesondere Teilnehmer der Veranstaltung artikulierten hier ihre Bedenken zum EU-Verfassungsentwurf. Eine Teilnehmerin erklärte gar, sie könne in der EU-Verfassung überhaupt keinen Fortschritt im Vergleich zu den geltenden Vertragswerken erkennen: „Wo sind sie denn – die Fortschritte zum Beispiel hinsichtlich der Demokratie?“ Der Verfassungsentwurf sei insgesamt neoliberal und verpflichte die Mitgliedsstaaten zur Aufrüstung. Die im Teil I postulierte „soziale Marktwirtschaft“ würde durch die im Teil III ausgeführten Passagen zur „freien Marktwirtschaft“ ausgehebelt. Zudem werde das Streikrecht verboten, die Todesstrafe werde wieder eingeführt, Wehrdienstverweigerung sei verboten, und die in der Menschenrechtscharta (Teil II) formulierten Rechte seien nicht einklagbar.
Auch in der Diskussion mit dem Publikum wurde die unterschiedliche, ja zum Teil gegensätzliche Akzentsetzung der beiden Diskussionspartner in Bezug auf die Bewertung des Verfassungsentwurfs des Europäischen Konvents deutlich. Während Peter Strutynski hervorhob, alle Teile der EU-Verfassung zur Außen- und Sicherheitspolitik seien militärisch dominiert, betonte Sylvia-Yvonne Kaufmann, dass der vorliegende Verfassungsentwurf einen Kompromiss der am Verfassungsprozess beteiligten Staaten darstelle und ein halbes Jahrhundert Geschichte der Europäischen Union und ihrer Vorläuferorganisationen spiegele. Nicht alles, was wünschbar gewesen sei, hätte im Verfassungsentwurf berücksichtigt werden können. Aber: „Haben wir als Linke mit dem gültigen Vertrag von Nizza eine bessere Ausgangslage im Kampf für Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt in Europa, als wir sie mit der EU-Verfassung hätten?“ Eine Frage, die für Dr. Kaufmann mit einem klaren Nein zu beantworten ist.
Dr. Kaufmann arbeitete in der Diskussion insbesondere die Fortschritte heraus, die mit der Annahme des Verfassungsentwurfs verbunden gewesen wären. So wären insbesondere die Rechte des Europäischen Parlaments enorm gestärkt worden. Frau Kaufmann sprach in diesem Zusammenhang sogar von einem Quantensprung. Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments unterstrich, dass mit der Fixierung der „sozialen Marktwirtschaft“ als Verfassungsziel im Teil I ein Paradigmenwechsel eingeleitet worden sei. Das sei ein großer Fortschritt, weil die bisher geltende Rechtslage – angefangen von der 1951 gegründeten Montanunion – immer von der „freien Marktwirtschaft“ ausgegangen sei.
Sylvia-Yvonne Kaufmann nutzte die Gelegenheit, mit einigen – wie sie sagte – Lügen aufzuräumen, die im Zusammenhang mit den Debatten über den Entwurf der Europäischen Verfassung (auch von verschiedenen linken Kräften) verbreitet worden seien. So sei das Streikrecht keineswegs verboten worden, das Recht auf Wehrdienstverweigerung sei verankert, und die in der Menschenrechtscharta (Teil II) formulierten Rechte seien vor dem Europäischen Gerichtshof und vor nationalen Gerichten einklagbar. Die Todesstrafe werde keineswegs wieder eingeführt; vielmehr sei die Abschaffung der Todesstrafe eine der Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der EU. Die EU-Verfassung beziehe sich hinsichtlich des Einsatzes von militärischer Gewalt erstmals eindeutig auf die UN-Charta. Als Pazifistin kritisiere aber auch sie das im Verfassungsentwurf fixierte Aufrüstungsgebot und befinde sich damit nicht im Widerspruch zu anderen Linken wie Peter Strutynski.
Keineswegs alle Probleme konnten an diesem heißen Juni-Abend ausdiskutiert werden. Weitgehend offen blieben vor allem Fragen nach einer gemeinsamen realistischen Strategie der europäischen Linken hinsichtlich der Überwindung der neoliberalen Hegemonie und der Verwirklichung der Vision von einem geeinten Europa, die linke Antifaschisten wie der italienische Kommunist Altiero Spinelli nach dem von Hitler-Deutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg als Teil ihrer Zukunftsvorstellung entwickelten: Nie wieder Nationalismus, Faschismus und Krieg! Die Rosa-Luxemburg-Stiftung will auch künftig – insbesondere mit ihrer Veranstaltungsreihe „Baustelle Europa“ – ein Forum bieten für die weitere Debatte derartiger Probleme.