veröffentlicht in: ND vom 5.3.05Nach dem Weltsozialforum von Porto Alegre
Der Kapitalismus ist gefügt in seinen Institutionen. Das Standard-Reden des Neoliberalismus, es gäbe keine Alternative, meint immer dies: das Handeln in den vorgegebenen Rahmen oder unter den gesetzten Bedingungen. Da soll es kein Ausweichen geben. Die Gesetzbücher und Gerichte, das Handelsrecht und die Zinssätze, die Amtsvorsteher und Raumplanungsbehörden, die Medien und die Professoren für Betriebswirtschaftslehre, sie alle haben ihren Platz in jenem Gefüge. Ausnahmen bestätigen die Regel und sind die Paradiesvögel der vorgezeigten Pluralität. Das Gefüge reproduziert sich selbst in diesem Sinne: dass die Welt so sein solle, weil sie so ist, wie sie ist, oder: so sei, weil sie nicht anders sein könne. Früher wurde das mit der Knute oder dem Rohrstock des Lehrers exekutiert, heute hat man dafür andere, subtilere Mechanismen; zumindest in den weltkapitalistischen Zentren haben submissive Mechanismen Vorrang vor repressiven. An der Peripherie dagegen wird schon mal gebombt.
Es heißt, die 358 reichsten Milliardäre der Welt „besitzen“ mehr als die Hälfte der Menschheit. Die Not der einen ist Bedingung des Überflusses der anderen. Das war schon immer so, könnte man sagen, das hat bereits Jesus Christus kritisiert, aber unter dem Kapitalismus hat es sich fortgesetzt und zugleich systematisiert. Das kann nicht so bleiben, sagten dann schon im 19. Jhd. Saint Simon, Weitling und Marx. Der Realsozialismus sollte eine Alternative bieten, hat er aber nicht und ging 1989 unter, und so wähnte sich der Kapitalismus als Sieger der Geschichte: „Es gibt keine Alternative“.
Die Geschichte aber ist voller List. Der Kapitalismus produziert seine Gegenkräfte, seine Kritik immer wieder neu. Das kommt, weil die Freiheit auch eine soziale Dimension hat. Wählen reicht nicht. Und die Todesstrafe ist auch in den USA nicht abgeschafft. Die wichtigste Kraft der Kritik ist seit etwa fünf Jahren, seit dem ersten Treffen, das Weltsozialforum und die von ihm ausgelöste globale Bewegung. Ende Januar fand im brasilianischen Porto Alegre das nunmehr fünfte Weltsozialforum statt.
Die bürgerlichen Medien waren bereits im Vorfeld bestrebt, das Ganze kleinzureden, der Bewegung das Totenglöcklein zu läuten. Es bringe nichts Neues, bewege sowieso nichts, das hochmögende Weltwirtschaftsforum mit seiner Promi-Besetzung habe beschlossen, jenes Forum in Porto Alegre zu ignorieren. Auch manchem sich links dünkenden Journalisten drängte sich in Bezug auf Porto Alegre dann mindestens ein pejoratives „Polit-Festival“ aufs Papier.
Das Forum 2005 war jedoch weder eine Begräbnisfeier noch nur ein Jahrmarkt der Utopien. An der großen Eröffnungsdemonstration am 26. Januar hatten sich über 200.000 Menschen beteiligt. Mindestens 120.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen am Weltsozialforum teil, manche sprachen auch von 155.000. Als es beim dritten Weltsozialforum 2003 in Porto Alegre erstmals etwa 100.000 Menschen waren, sagten die Organisatoren, das Forum habe die Grenze der Organisierbarkeit und Finanzierbarkeit erreicht. In diesem Jahr waren es sichtbar mehr. Und es funktionierte. Etwa 15 Mill. Reais hat das Forum gekostet, umgerechnet etwa 5 Mill. Euro. Auf den Uferwiesen des Guaiba-Flusses war eine riesige Zeltstadt errichtet worden, in der die über 3000 Veranstaltungen stattfanden. Am Ende reichte das Geld nicht für alles, so wurde z.T. an Übersetzungskapazität gespart und allen Veranstaltern die Bitte übermittelt, selbst etwas zu organisieren. Meist hat das funktioniert. Alles in allem war das Forum beeindruckend effizient organisiert – im Vergleich zu Porto Alegre 2003. Aber da sind wohl auch die indischen Erfahrungen von 2004 eingeflossen.
Das Organisationskomitee hatte in diesem Jahr keine Promi-Großveranstaltungen des Forums organisiert. Alles fand in selbstorganisierten Konferenzen, Seminaren und Workshops statt, die der Internationale Rat in einem „Agglutinierungsprozeß“ seit August 2004 hatte sich finden lassen. Organisationen und Initiativen, die ähnliche Themen anbieten wollten, sollten sich zusammentun und gemeinsam Veranstaltungen anbieten. Im Unterschied zum Europäischen Sozialforum in London 2004, wo das „Merging“ von Seminaren bedeutete, dass aus über 600 Seminaren 160 werden sollten, war Agglutinierung hier, nicht nur an den zwei selbst angebotenen Veranstaltungen beteiligt zu sein, sondern auch noch an sechs anderen. Das erbrachte zum Teil interessante, neue Kombinationen in der Diskussion. Inhaltlich war Porto Alegre 2005 ein sichtlicher Erfolg, es wurden neue Kontakte und Netzwerke geknüpft. Vielfach waren auch die Veranstaltungen an sich von Wert. Und das hoch interessierte, motivierte, überwiegend junge Publikum von Porto Alegre könnten sich politische Parteien, Vereine und Organisationen hierzulande nur wünschen.
Und doch bleibt Etliches offen, nicht nur wegen der bürgerlichen Räsoneure. Offenbar ist das Forum an einen Scheideweg gekommen. Wie soll es weitergehen nach den fünf Jahren? Das Problem sind die gefügten Institutionen. Darüber denken die Linken, die eine andere Gesellschaft jenseits des Kapitalismus wollen, seit Marx‘ Zeiten nach. Kann man ‚den alten Staatsapparat‘ nutzen, oder braucht es einen neuen? Kann man Zins und Kredit abschaffen, auf dem Wege zu einer Wirtschaftsweise, die dem Menschen und nicht dem Profit dient, oder muß man sie nur anders nutzen? Das strategische Problem, seit der Revolutionswelle im Gefolge des ersten Weltkrieges, ist: die Institutionen bleiben, auf jeden Fall im Rahmen des kapitalistischen Weltsystem, auch wenn sie in diesem oder jenem Land umgebaut werden, und die Bewegungen dagegen wallen auf und ebben ab. Die Kommunisten in Sowjetrußland und in ganz Europa, die Anfang der 1920er Jahre vor eben diesem Problem standen, entschieden sich für die Avantgardepartei, die ideologisch geeint und organisatorisch von oben nach unten fest gefügt die Gegeninstitution bilden sollte. Jenes Konzept der „Weltrevolution“ hatte dann aber eine zunehmende Loslösung von den Realitäten, etwa der KPD in Deutschland zur Folge, und eine Sicht, die genau dies nicht den objektiven Verhältnissen, sondern subjektivem Fehlverhalten zuwies. Das historische Endergebnis waren die stalinistischen Verfolgungs- und Mordwellen von Ende der 1920er bis Anfang der 1950er Jahre.
Die Weltsozialforumsbewegung stellt inhaltlich wie organisatorisch ausdrücklich einen Bruch mit all jenen ideologischen linken Traditionen dar. Sie hat auch niemals versucht, sich als „neues historisches Subjekt“ zu definieren, weil ihr dies zu eng wäre. Und das, obwohl sie genau dies eigentlich ist. Es ist ein neues politisches Subjekt, aber ein zutiefst pluralistischs, eines, das nur aus der geistigen und politischen Nähe zum „Geist von Porto Alegre“ folgt; hier waltet keine soziologische Zuordnung, wie sie die traditionelle Marx’sche Vorstellung von der Arbeiterklasse beinhaltete, und keine politische, wie bei Lenins Parteiverständnis. Das regulative Prinzip des gegenseitigen Verhältnisses ist daher auch nicht das Mißtrauen, das seinen höchsten Ausdruck in der Parteikontrollkommission der leninistischen Partei fand, sondern Empathie: jeder, der den politischen Raum des Forums betritt, ist willkommen und gern gesehen als Dialogpartner.
Das ist auch der Grund, weshalb aus einer traditionell „linken“ Perspektive die Sozialforumsbewegung als revisionistisches Teufelswerk erscheint. So hat die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) in ihren Thesen zum 17. Parteitag, der vor wenigen Tagen stattfand, erklärt, das Weltsozialforum und seine regionalen Gliederungen, gemeint ist hier auch das Europäische Sozialforum, stünden unter Führung der Sozialdemokratie, und die Forderung „Eine andere Welt ist möglich“ würde auf eine Selbstbeschränkung der Arbeiterbewegung hinauslaufen. Eine derartige Verkennung des globalisierungskritischen Gehalts der Sozialforumsbewegung, der inzwischen längst ein kapitalismuskritischer ist, ist um so tragischer, als im Frühjahr 2006 das nächste Europäische Sozialforum in Athen stattfinden soll. Das wäre mit Unterstützung der griechischen Kommunisten natürlich gewichtiger, als ohne oder gar gegen sie.
Darshan Pal, Veranstalter des Gegenforums „Mumbai Resistance“ während des Weltsozialforums in Mumbai 2004, meinte seinerseits kürzlich, dass ein „Bruch mit dem Weltsozialforum notwendig“ sei. Als Argument führte er an, das Weltsozialforum habe „kein klares Verständnis von der Globalisierung“. Es reduziere sie auf eine ökonomische Ebene und spare die politisch-militärische aus. Das ist schon insofern Unsinn, als dass der Beschluss zu den weltweiten Demonstrationen gegen den kommenden Krieg der USA gegen Irak auf der Versammlung der sozialen Bewegungen während des Weltsozialforums in Porto Alegre 2003 gefasst wurde. In Bezug auf die Inhalte vieler Veranstaltungen bereits auf dem Weltsozialforum in Mumbai ist es eine glatte Lüge; der direkte Zusammenhang zwischen sich globalisierender Wirtschaft und Krieg wurde dort sehr genau benannt. Nur: da nach den Regeln der Charta von Porto Alegre niemand befugt ist, im Namen des Forums zu sprechen, gibt es natürlich keinen Beschluss darüber. Man kann nur zu vielen Veranstaltungen gehen und hören, was dort der Grundtenor ist.
Auch auf dem Weltsozialforum 2005 zeigte sich, dass das Problem, wie die Bewegungen weiter bewegt sind, auch wenn die Institutionen des Weltkapitalismus fest und unerschütterlich scheinen, an Gewicht gewinnt. So war Hugo Chavez der herausragende Gast auf dem Forum. Offiziell war sein Auftritt nicht Programm des Forums, aber er fand statt. Ein sonst sehr umsichtiger deutscher Intellektueller monierte, dass dessen Auftritt der Charta von Porto Alegre widerspricht. Mag sein. Im Stadion waren an die 30.000 Menschen, und noch einmal 15.000 davor, die die Rede auf einer Großleinwand verfolgten. Haben die alle gegen die Charta verstoßen wollen? Nein, sie wollten eine Politik befürworten, die in der Tat über den Kapitalismus hinausweist. Lula, der brasilianische Präsident, war eher verhalten aufgenommen worden. Aber ohne ihn sähe vieles in Lateinamerika heute anders aus. Er hat auch Chavez in der Zeit der zugespitztesten innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Zukunft Venezuelas unterstützt, weshalb Chavez ihm am Ende seiner Rede auch dankte. Es protestierte niemand.
Neunzehn in der Sozialforumsbewegung engagierte Prominente haben auf dem Forum ein Papier präsentiert, das einen Minimalkonsens des Forums beschreiben sollte. Die bürgerlichen Medien machten sich darüber lustig, dass darin auch gefordert wird, der UNO-Sitz solle in ein Land des Südens verlegt werden, wenn die USA weiter das Völkerrecht brechen. Aber würde den Vökerrechtsbruch der USA überhaupt jemand weiter debattieren, wenn dies nicht so thematisiert würde? Im Internationalen Rat des Weltsozialforums war schon am 25. Januar, bevor das Forum begann, erklärt worden, dass dieses Papier der 19 kein offizielles Dokument des Forums ist, weil: die Charta verbietet, dass jemand im Namen des Forums Erklärungen abgibt. Das stimmt. Und dennoch wissen alle, dies ist eine Erklärung, die weiter zu diskutieren ist. Im Jahre 2006 wird etwas Neues stattfinden: ein dezentrales Weltsozialforum an vielen Orten der Welt. Und dann zieht 2007 die Karawane nach Afrika. Es geht weiter – trotz aller Unkenrufe.