Bericht zur Konferenz "Die russisch-deutschen Beziehungen - gestern, heute, morgen" 2002 in Moskau
zur Konferenz
Der Rapallo-Vertrag zwischen Deutschland und Russland (vom 16. April 1922) ist insbesondere unter (west-)deutschen Politikern und Publizisten nach wie vor übel beleumdet. Es gehört zu den zentralen Annahmen des Bekenntnisses zur "Westbindung" Deutschlands, dass mit dem Rapallo-Vertrag ein Irrweg eingeschlagen worden sei. Tatsächlich jedoch hatten Deutschland und Russland - beide Staaten wurden auf unterschiedliche Weise von den Siegermächten des ersten Weltkrieges politisch-diplomatisch auszugrenzen versucht - eine Friedensregelung zum gegenseitigen Vorteil und unter Verzicht auf Reparationsansprüche getroffen sowie die Normalisierung und den Ausbau der staatlichen Beziehungen vereinbart. Ein Sonderverhältnis zwischen Deutschland und Russland, das zudem nur für kurze Zeit bestand, war nicht Ziel des Vertrages, sondern Ergebnis der nachfolgenden Entwicklung. Die Geschichte war auch 1922 offen.
Unter dem Motto: "Die russisch-deutschen Beziehungen - gestern, heute und morgen", haben die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) und das Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAdW) am 26. April in Moskau aus Anlaß des 80. Jahrestages des Rapallo-Vertrages gemeinsam eine wissenschaftliche Konferenz veranstaltet. In seiner Eröffnungsrede sagte Nikolai Schmeljow, Direktor des Europa-Instituts, dass die Deutschen und die Russen sich in der Vergangenheit stets geistig befruchtet hatten. Die Tragödie begann eigentlich 1914, und es ist bisher immer noch nicht hinreichend klar, was da eigentlich geschah. Dann folgten Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit, die sich mit "Rapallo" verbindet, dann wieder die Tragödie des zweiten Weltkrieges und schließlich der Kalte Krieg. Jetzt gelte es, ein neues Fundament des gegenseitigen Vertrauens und der Zusammenarbeit zu schaffen. In der Vormittags-Sitzung wurde über die Lehren der Geschichte sowie Russland und Deutschland im heutigen Europa debattiert. Valentin Falin (Gesellschaft "Russland-Deutschland") verwies auf die Asymmetrie im Herangehen der Siegermächte des ersten Weltkrieges, mit "Versailles" die Grenzen im Westen zu fixieren und sie im Osten letztlich offen zu lassen. Das führte zum zweiten Weltkrieg. Die strategische Dimension der deutsch-russischen Beziehungen heute hob Alexander Rahr (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) hervor. Das Weimarer Treffen des "Petersburger Dialogs" hat erneut gezeigt, dass sich Russland mit Präsident Putin für die "europäische Richtung" der Aussenpolitik entschieden hat; es müsse aber Geduld haben, weil die deutschen Eliten offenbar noch Zeit brauchen, ihre Vorbehalte gegenüber Russland weiter abzubauen. Igor Maksimytschew (Europa-Institut) nannte es nicht verwunderlich, dass in Deutschland offiziell nicht viel über "Rapallo" geredet wird. Die SPD habe wahrscheinlich Angst, als nicht genug pro-amerikanisch zu gelten. Im heutigen Europa sei Russland nicht gegen die NATO, werde sich dieser aber nicht unterordnen. Auch im Verhältnis zur EU gehe es um die Gestaltung einer gleichberechtigten Partnerschaft.
André Brie (MdEP, PDS) betonte, dass es nicht einfach um ein Versagen der Politik gehe, sondern darum, dass es für viele Probleme bisher keine befriedigenden Lösungen gibt. Vor dem Hintergrund der USA-Politik nach dem 11. September lösen sich nicht nur die Strukturen des Kalten Krieges, sondern auch die des zweiten Weltkrieges auf. Auf diesem Wege wird nicht nur die UNO relativiert, offenbar dient auch die beabsichtigte "große" NATO-Erweiterung dazu, deren Rolle zu mindern. Die militärische Dominanz der USA scheint derzeit uneinholbar. Das hat eine tendenzielle Schwächung aller anderen Akteure in den internationalen Beziehungen zur Folge. Russland und EU-Europa sind bei ihrem Streben nach mehr Eigenständigkeit aufeinander verwiesen. Hier geht es nicht um Anti-Amerikanismus, sondern um eigene Interessen. Es kann jedoch keinen Emanzipationsprozess geben, ohne andere Inhalte in den Mittelpunkt der Politik zu stellen: soziale Fragen, Ökologie, Menschenrechte - in einem aufrichtigen, nicht instrumentellen Sinne - und den Ausbau der Demokratie. Eine Militarisierung der internationalen Politik, wie sie derzeit unter Hinweis auf den "Kampf gegen den Terror" betrieben wird, stärkt nur die Position der USA. Europa sollte sich stärker auf zivile Konfliktbearbeitung und -prävention konzentrieren. Und hier braucht die EU Russland.
Über die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen referierten im zweiten Schwerpunkt Wladimir Below (RAdW) und Wolfgang Grabowski (RLS). Deutschland hat Vorteile gegenüber anderen westlichen Ländern, weil es die Leistungsfähigkeit und Mentalität Russlands besser kennt, und es gilt, die ostdeutschen Unternehmen in die Zusammenarbeit stärker einzubeziehen.
Die Debatte zu den Perspektiven der russisch-deutschen Beziehungen eröffnete Valentin Fjodorow (Europa-Institut) mit dem Hinweis auf die Eigenheiten der beiden strategischen Partner. Deutschland sei heute, im Unterschied zu 1922, nur im Kontext der EU zu betrachten. Russland stehe vor der Aufgabe, nicht das Schicksal der Sowjetunion zu teilen und zu zerfallen. Die westlichen Forderungen nach Übertragung seiner Werte und Anschauungen auf Russland beförderten den Separatismus. Ohne Russland werde aber der Westen den Kampf gegen den Islamismus nicht gewinnen können. In der anschließenden Diskussion unterstrich Juri Rubinski (Europa-Institut), dass sich Russland und Deutschland 1922 als Opfer des Versailler Systems angenähert hatten, heute aber jeder Versuch, die "deutsche Karte" gegen EU oder NATO auszuspielen, zum Scheitern verurteilt ist. Stefan Doernberg (RLS) sah die Hauptlehre von Rapallo für die Gegenwart in der Wahrnehmung der eigenen Interessen durch beide Seiten und in der völligen Gleichberechtigung der Partner. Diesen Gedanken griff Michael Brie (RLS) in seinem Resümee auf. Das Versailles von 1920 beruhte auf Erniedrigung, wie schon das von 1871, und beide hatten Krieg zur Folge. Aus deutscher Sicht gilt es heute, Russland als Partner und nicht als Bedrohung zu sehen, als einen völlig gleichberechtigten und möglichst auch gleich starken Partner.