Text der Woche 47/2002Das erste Europäische Sozialforum hat nun in Florenz vom 6. bis 10. November mit beeindruckendem Erfolg stattgefunden, trotz vieler Störmanöver. Denunziationen auf allerlei angeblich "linken" Webseiten hatten die Einflußagenten unterschiedlicher Dienste schon seit dem Sommer regelmäßig plaziert, im August und September gab es massive Virenangriffe auf die E-Mail-Listen der Vorbereitungsgruppen, schließlich wollte Berlusconi das Forum überhaupt verbieten, und als dies mißlang, setzte die italienische Regierung kurzerhand das Schengener Abkommen zeitweilig außer Kraft und ließ schikanöse Grenzkontrollen durchführen. Forza Italia, Berlusconis Hauspartei, hatte noch am Sonntag, dem 3. November, auf der Florentiner Piazza della Repubblica einen Stand, an dem Unterschriften gegen das Sozialforum gesammelt wurden, und manch bürgerlich gekleidetes Seniorenpaar unterschrieb auch. Am Montag begannen einzelne Händler, ihre Schaufenster zunageln zu lassen, weil die bürgerliche Propaganda ja gewalttätige Ausschreitungen vorhergesagt hatte.
Derweil hatten die linken Gewerkschaften Informationsstände an verschiedenen Orten in der Stadt aufgebaut, und an der Stelle, wo Sonntag noch Forza Italia agiert hatte, stand ab Montag ein großes Zelt der linken Kulturorganisation Arci, in dem die ganze Woche lang Musik, T-Shirts und allerlei Kleinigkeiten, Wein und ein Imbiß geboten wurden; getanzt konnte auch werden. Bis zum Freitag hatten sich etwa 40.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Sozialforums registrieren lassen, bis Sonnabend 45.000; da waren es etwa dreimal so viele, wie in Porto Alegre, sagte lächelnd einer der Organisatoren. Am Ende hatte das Treffen ungefähr 50.000 registrierte Teilnehmer aus ganz Europa und auch anderen Ländern der Welt. An der großen Demonstration am Sonnabend gegen den angekündigten Krieg der USA gegen den Irak haben über 500.000 Menschen teilgenommen, manche sprachen auch von etwa einer Million. Wenn Bush denn bomben läßt, so kann er sich trotz aller Kriegspropaganda zumindest nicht auf die Menschen in Europa berufen. Die einzige "Ausschreitung" am Rande der Demonstration, die von einschlägigen Medien gezeigt werden konnte, war ein brennender Papierkorb. Ansonsten konnte nichts dergleichen vermeldet werden. Die Stimmung in der Stadt war spätestens am Freitag zugunsten des Forums ausgeschlagen, haben doch die vielen Menschen auch volle Hotels und Umsatz gebracht. Am Sonntag waren an etlichen der zugenagelten Schaufenster kleine Aufkleber zu sehen: "Wer schlecht denkt, handelt schlecht".
Der Ruf: "Eine andere Welt ist möglich!" nahm seinen Ausgang in Porto Alegre. Das Weltsozialforum, das dort vom 31. Januar bis zum 5. Februar 2002 zum zweiten Mal stattgefunden hatte, regte an, regionale Sozialforen zu veranstalten. Das europäische war nun das in Florenz unter dem Motto: "Ein anderes Europa ist möglich". Vorbereitet wurde es auf europaweiten, offenen Vorbereitungstreffen in Brüssel, Wien, Thessaloniki und zuletzt Anfang Oktober in Barcelona. Dort hatten sich wieder etwa 250 Menschen versammelt, um Zielrichtung, Programm und Organisation des Sozialforums zu debattieren und abschließend zu fixieren. Eine international zusammengesetzte Programmgruppe sowie eine internationale Organisationsgruppe arbeiteten eng mit den italienischen Organisatoren zusammen. Die Vorbereitung war zuweilen zeitraubend und kompliziert, waren doch Akteure sehr unterschiedlicher Gruppen, Initiativen und Bewegungen zusammengekommen, um gemeinsam für den Erfolg des Forums zu sorgen: Globalisierungskritiker, Umweltschützer, Gruppen von Schwulen und Lesben, Wissenschaftler-Initiativen, Gewerkschafter, Menschenrechtsgruppen, kirchliche Gruppen für den Frieden und Dritte-Welt-Gruppen, bildungspolitische Initiativen und vor allem die Friedensbewegungen trugen gemeinsam dieses Sozialforum. Gemäß der Charta von Porto Alegre konnten Parteien nicht als solche an dem Sozialforum teilnehmen, wenngleich Mitgliedern politischer Parteien, die in sozialen Bewegungen aktiv sind, selbstverständlich die Mitwirkung nicht verwehrt werden sollte. Insofern ist das Gewicht der linken politischen Parteien in Europa gewiß Teil des Stellenwertes des Europäischen Sozialforums, aber nicht als solches zu umreißen.
Es ist in dieser Breite das erste Mal - zumindest seit dem historischen Einschnitt von 1989/90 -, daß eine Bewegung den Wunsch und den Willen artikuliert, eine Alternative zu der derzeitigen Welt der neoliberalen Globalisierung und des Krieges zu erstreben. Diese Breite wurde durch den langwierigen und trotz aller Auseinandersetzungen geduldig gemeinsam realisierten Vorbereitungsprozeß möglich gemacht; niemand wurde ausgegrenzt, jeder konnte sich einbringen. Auch wenn das endgültige Programm erst im Oktober feststand und wichtige organisatorische Feinheiten erst in den letzten Wochen geklärt werden konnten, war doch eine beeindruckende Reihe von Rednerinnen und Rednern aus vielen Ländern der Welt zusammengekommen, die Wichtiges zur Analyse der gegenwärtigen Welt und über die Kämpfe um Gerechtigkeit und Frieden in den verschiedenen Ländern mitteilen konnten. Auf der Teilnehmer-Seite war bemerkenswert der hohe Anteil junger Menschen. Raffaella Bolini, die die italienische Organisationsgruppe geleitet hatte, sagte dazu: "Hier in Florenz ist eine junge Generation angetreten, die bereit ist, die Welt zu verändern."
Das Konferenzzentrum in der Fortezza da Basso verfügt allein schon über mehrere Säle mit bis zu 5.000 Plätzen sowie zahlreiche kleinere Räume, die bis zu 500 Plätze haben. Weitere Veranstaltungsorte in der Stadt kamen hinzu. So fanden an drei Tagen, Donnerstag bis Sonnabend, am Vormittag jeweils sechs Konferenzen statt. Sie wurden, wie in Thessaloniki und Barcelona beschlossen war, um drei inhaltliche Achsen gruppiert: Globalisierung und Liberalismus, Krieg und Frieden sowie Bürgerrechte, Menschenrechte und Demokratie. Die Konferenzen wurden in Verantwortung des italienischen Vorbereitungskomitees in Verbindung mit der internationalen Arbeitsgruppe inhaltlich konzipiert und mit jeweils unterschiedlichen Rednern aus verschiedenen Ländern besetzt. Zugleich boten sie vielfältig Raum für Diskussionen. Nachmittags fanden jeden Tag bis zu 50 Seminare und Workshops statt, die von teilnehmenden Organisationen oder Gruppen vorbereitet wurden. Abends wurden Diskussionsangebote gemacht, so unter der Rubrik: "Dialoge" zum Verhältnis von "neuen" sozialen Bewegungen einerseits und politischen Parteien, "alten" Gewerkschaften und politischen Institutionen andererseits. Unter dem Gesichtspunkt: "Alternativen" wurden gewaltloser Widerstand, ziviler Ungehorsam und neue Erfahrungen bei der Austragung sozialer Konflikte debattiert. Wie kann der Sozialstaat verteidigt werden? Was ist mit dem Schutz der Rechte aller Menschen in Europa? Unter dem Motto "Windows" wurden die Problemlagen im Mittelmeerraum, in Lateinamerika, die Rolle der Religionen, die Situation in Afrika und vor allem der Nahostkonflikt erörtert. Betroffene aus den Regionen selbst berichteten über die Lage. Solidarität war das wichtigste Fazit der Teilnehmenden. Globalisierung heißt auch: Es gibt spätestens jetzt kein fremdes Leid mehr.
Ein Hauptpunkt des Forums und der Diskussionen war die Ablehnung des neuerlichen Krieges, nun der USA und ihrer Föderaten gegen den Irak, nicht nur in Gestalt der riesigen Demonstration am Sonnabend, sondern auch in vielen der Diskussionen. Niemand stellte mehr die Frage, ob er denn kommen wird, sondern die Debatte ging darum, wann er kommt, mit welcher Gewalt und was dagegen zu tun ist. Wird er im Februar ausbrechen? Welche Verantwortung tragen die europäischen Regierungen? Einhelliges Fazit war: Wenn wir Bush schon nicht in den Arm fallen können, so können wir doch den europäischen Regierungen das Mittun so schwer wie möglich machen. Gewiß, die eigene Positionsbestimmung steht in einem Dilemma, man kann sich ja schlecht mit Saddam Hussein solidarisieren, wie schon mit Milosevic oder den Taliban nicht. Zugleich aber ist klar, daß Krieg nicht die Antwort sein kann. In dieser Frage gab es keine Differenzen. Und es wurde auf die unterschiedlichen Erfahrungen in den verschiedenen europäischen Ländern seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien verwiesen: Überall dort, wo ohne Wenn und Aber gegen den Krieg mobilisiert wurde, kam es zu großen Demonstrationen und Willensbekundungen der Friedensbewegung. Wo jedoch mit Einerseits und Andererseits hantiert wurde und - sachlich zutreffend - darauf verwiesen wurde, daß Milosevic, wie jetzt Saddam Hussein, ein Schurke ist, kam es nicht zu einer massenhaften Bewegung, blieb die Friedensbewegung eigenartig zahnlos.
An der Stirnwand der Veranstaltung: "Antikapitalismus: Was wir wollen und wie es zu erreichen ist" hing der Spruch: "Regime Change begins at home", eine Anspielung auf das Gerede aus dem Umfeld von Bush und Blair, bei dem Krieg gegen den Irak ginge es lediglich um einen "Regimewechsel" in Bagdad, und zugleich Hinweis darauf, daß die Veränderung der Welt im eigenen Land beginnt. "Furcht ist das wirksamste Mittel der Herrschenden", hob Jonathan Neal von der britischen Anti-Kriegs-Bewegung hervor. Und er zählte auf: "Die Furcht der Jugendlichen, keinen Arbeitsplatz zu bekommen, die Furcht, krank zu werden und die Behandlungskosten nicht aufbringen zu können, die Furcht der Eltern, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und den Kindern sagen zu müssen, daß kein Geld für Ausflüge mehr da ist, die Furcht, Kinder in diese Welt zu setzen." Kinder zu haben, sei eines der schönsten Dinge im Leben, sagte er, "und das Baby schaut mit seinen großen Augen voller Neugier und Vertrauen in die Welt, und dieses Vertrauen wird durch die Furcht zunichte gemacht, die die Herrschenden als ihr Herrschaftsmittel benutzen. Eine andere Welt zu schaffen heißt, eine Welt zu schaffen, in der die Menschen ohne Angst sein können, offen und selbstbewußt." Christophe Aguiton von Attac France (Attac versteht sich als: Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der Bürger und nahm in Frankreich seinen Ausgang) betonte, es gelte, alle für dieses Ziel zusammenzuschließen. "Das ist der wichtigste Unterschied zu früher. Die Arbeiter kämpften gegen Entlassung und Lohndrückerei, die Jugendlichen für eine bessere Schule und Lehrstellen, die Bauern für faire Preise und eine gesunde Agrarpolitik, die Umweltschützer für den Bewahrung der Umwelt. Hier dagegen, auf dem Europäischen Sozialforum, sind wir alle zusammengekommen, um gemeinsam einzufordern: Eine andere Welt ist möglich, gegen die neoliberale Politik."
In dem Seminar zum Thema: "Macht und Eigentum", das von dem internationalen Netzwerk Transform, an dem die Rosa-Luxemburg-Stiftung beteiligt ist, getragen wurde, stand genau dieser Zusammenhang im Zentrum der Debatte. Paul Boccara (Frankreich) sprach vom "Super-Imperialismus" heute, bei dem die USA im Zentrum stehen, und der sich von dem Imperialismus Lenins darin unterscheidet, daß sein Hauptcharakteristikum nicht Kapitalexport, sondern der riesige Kapitalimport in Richtung USA ist, der die dortige Hochrüstung finanziert und dazu führt, daß die Arbeitslosigkeit in Europa höher ist als in den USA. Alfonso Gianni (Italien) verwies auf den Zusammenhang der Krisenprozesse in der Gegenwart. Wir haben es nicht nur mit einer Krise der Ökonomie zu tun, sondern auch mit einer Krise des sozialen Zusammenhalts, einer Krise des geistigen Lebens und einer Krise der Politik. Das Militärische ist Fortsetzung dieser Politik und findet seinen Ausdruck in den Vorstellungen vom "Präventivkrieg" und "variablen Bündnissen". Von einem "kollektiven Imperialismus der Triade" - USA, Westeuropa und Japan - sprach Samir Amin (Senegal), und er sah als dessen Grundlage die Oligopolisierung der transnationalen Großfirmen an.
Bill Tabb (USA) verwies darauf, daß die intellektuelle und politische Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus auch in den USA sehr stark ist; schließlich habe die neuere globalisierungskritische Bewegung in Seattle ihren Ausgang genommen. Bush habe auch aus innenpolitischen Gründen das Thema gewechselt; angesichts des "Kampfes gegen den Terrorismus" redet niemand mehr über die Arbeitslosigkeit in den USA oder darüber, daß es vor allem die Pensionsfonds der Arbeitenden waren, die ihren Wert verloren haben. "Eine andere Welt ist möglich", heißt daher zunächst, den Militarismus der USA zurückzudrängen. Und hier ist Europa für die amerikanische Linke sehr wichtig; ein friedliches, demokratisches und soziales Europa ist das einzige, das die imperiale Politik der USA aufhalten kann. Während einer anderen Veranstaltung betonte Susan George - die aus den USA stammt, mittlerweile die französische Staatsbürgerschaft hat, das Transnationale Institut in Amsterdam leitet und Vizepräsidentin von Attac France ist - in ähnlichem Sinne: Nach den jüngsten Kongreßwahlen in den USA kontrolliert Bush den gesamten politischen Apparat der USA. Um ihn herum sind lauter Leute, die seit zehn Jahren von einem "Amerikanischen Empire" träumen. Jetzt wähnen sie sich diesem Ziel nahe. Europa aber muß diesem Empire nicht folgen. "Das aber bedarf eines enormen politischen Kampfes. Europa muß sein eigenes Modell weiterentwickeln, das historisch mit dem Wohlfahrtsstaat begann. Der Neoliberalismus will ein System der Exklusion errichten, wir aber müssen ein System der Inklusion schaffen, für alle, für Arbeitende und Arbeitslose, für Frauen und Männer, für Junge und Alte, und dies muß auf dem Recht auf Dazugehörigkeit beruhen." Es gelte, die Logik des menschlichen Seins gegen die Logik des Neoliberalismus zu setzen. Die Rechte war ideologisch sehr clever, als sie seit Thatcher gepredigt hat, es gäbe keine Alternative. "Mit dem Europäischen Sozialforum haben wir einen alternativen Raum der Debatte geschaffen."
In einer Reihe unterschiedlicher Veranstaltungen ging es um die neoliberalen Planungen, nach dem Scheitern des Internationalen Investititionsschutzabkommens (MAI) über die Welthandelsorganisation (WTO) das sogenannte GATS-Abkommen (Handel mit öffentlichen Dienstleistungen) unter Dach und Fach zu bringen. Immer rascher sind auch in Europa die Politiker dabei, Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, Elektrizitätswerke, Krankenhäuser, öffentlichen Nahverkehr und vor allem das Trinkwasser zu verkaufen. Damit sollen die öffentlichen Haushalte entlastet werden. Das geht aber nur einmal. Doch die Bürger verlieren ihre demokratischen Einflußmöglichkeiten, eine Erosion der Demokratie hat begonnen. Das GATS-Abkommen soll bis 2005 weltweit bindend Gültigkeit erlangen und würde, wenn es in Kraft tritt, über alle anderen Gesetze und internationalen Abkommen gestellt werden. Die Unterschrift eines Landes unter das GATS-Abkommen wäre bindend und würde den Ausverkauf öffentlicher Güter dauerhaft festschreiben. Wesentliche Lebensbereiche, Schule, Gesundheit, Sozialeinrichtungen wären von Profitmaximierung allein bestimmt. Die Regierungen, die dies betreiben, betreiben die Machtübergabe an die internationalen Konzerne. Die EU-Kommission wird demnächst das "Angebot" der EU zu den Privatisierungen in diesem Bereich machen. All dies geschieht hinter verschlossenen Türen. Insofern ist das Mindesterfordernis, so die Forderung der europäischen Gewerkschaften der Öffentlich Bediensteten auf dem Forum, diesen Prozeß transparent zu machen, damit er nicht hinter dem Rücken der Wähler und der betroffenen Gewerkschaften durchgezogen werden kann. Gerade hier zeigt sich, daß Kapitalismus und Demokratie eben nicht zusammengehören, wie von den Ideologen der Kapitalordnung immer gern behauptet, sondern der Neoliberalismus am liebsten autoritär über die Köpfe der Menschen hinweg herrscht, während Demokratie immer wieder neu von unten errungen werden muß. Ein hervorragendes Mittel gegen den Ausverkauf der Einrichtungen der Daseinsvorsorge, so die Aktivisten der deutschen Anti-GATS-Bewegung in Florenz, sind übrigens Volksentscheide auf kommunaler Ebene gegen die Privatisierung.
Die Offensive des Neoliberalismus begann in Chile und Argentinien, so der Argentinier Julio Gambina, mit Krieg, mit dem Bürgerkrieg der Militärregimes gegen die eigenen Bevölkerungen. Kapitalistische Globalisierung erfolge nicht nur über Markt und Kapitalinvestitionen, als friedliche Enteignung der inländischen Eigentümer und als Ideologie, sondern auch mit brutaler Gewalt. Insofern gehören der Kampf gegen Krieg und Gewalt und für soziale Veränderung untrennbar zusammen. Überhaupt hatte das Europäische Sozialforum in Florenz vielfach einen direkten Bezug auf Lateinamerika. Die Kulturveranstaltung zur Eröffnung des Forums am 6. November auf der Piazza Santa Croce begann mit dem Einspielen der Hymne der Unidad Popular Chiles vom Beginn der 1970er Jahre. Beim Abschlußkonzert nach der Demonstration am 9. November spielten mehrere der linken italienischen Musikgruppen Lateinamerika-Lieder, Che Guevara-Bilder waren allgegenwärtig, an Allende wurde erinnert. Gewiß, 1973 war der demokratisch-sozialistische Versuch in Chile im Blut erstickt worden. Am Ende obsiegte aber doch die Demokratie. Und auf Lula in Brasilien wurde verwiesen: linke Mehrheiten sind doch möglich, trotz allen Übergewichts des Neoliberalismus.
Das Europäische Sozialforum von Florenz soll keine einmalige Sache bleiben. Für den Herbst 2003 ist das nächste Forum in Paris avisiert. Sozialforum in Europa, das war auch: Europa kann nicht für sich betrachtet werden. "Ein anderes Europa für eine andere Welt!" Das wäre der Blickwinkel unter der Perspektive zunächst des Europas der EU: Eintreten für friedliche Beilegung internationaler Konflikte, Lösung der sozialen Fragen im Innern, keine "Festung Europa" gegen Migrantinnen und Migranten, soziale und ökologische Nachhaltigkeit des Wirtschaftens, eine dauerhafte Besserstellung der südlichen Länder. Es soll dem EU-Europa des Kapitals das der Solidarität entgegengestellt werden. Europäisches Sozialforum heißt aber auch, das ganze Europa in den Blick zu nehmen. Die Verwerfungen in den postkommunistischen Gesellschaften im Osten Europas gehören dazu und sind Teil dessen, worüber auf einem gesamteuropäischen Forum zu reden war. Dazu gehört die kritische Betrachtung der EU-Osterweiterung. Können wir noch verhindern, daß die Völker des Ostens einen Beitritt "Zweiter Klasse" bekommen? Was wird die NATO-Erweiterung für den Frieden in Europa bedeuten? Kann Rußland in gesamteuropäische Strukturen des Friedens und der Zusammenarbeit einbezogen werden?
Sozialforum im Sinne der Erklärung von Porto Alegre heißt, die Dinge von unten betrachten. Es waren nicht "Globalisierungsgegner", die sich in Florenz trafen, sondern Gegner der derzeitigen finanzkapitalistisch dominierten Globalisierung. Und es war keine akademische Veranstaltung. Es war Ratschlag und politische Bekundung von Menschen unterschiedlicher Herkunft, sozialer Lage und unterschiedlichen Alters. Macht braucht Gegenmacht, wenn sie eingeschränkt werden soll. "Eine andere Welt ist möglich", wenn diese Idee die Menschen ergreift. Das neoliberale Gerede von der vorgeblichen Alternativlosigkeit ist Absicht. Es soll entmutigen. Der "Geist von Porto Alegre" und nun von Florenz ist gegenseitige Ermutigung.
Berlin, im November 2002