Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Globalisierung Die Armut der Anderen

Text der Woche 4/2004. von Friederike Habermann

Information

Reihe

Online-Publ.

Autorin

Friederike Habermann,

Erschienen

Januar 2004

Text der Woche 4/2004Eindrücke vom WSF

Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die Hütten dieser Favela in Porto Alegre sahen doch ganz passabel aus. Von der Autobahn aus ließ sich zudem überblicken, dass sie nicht einmal besonders groß war. Gab es denn gar keine richtige Armut hier? Schließlich war sie für das dritte Weltsozialforum in die Dritte Welt gereist.

Hier beim vierten Weltsozialforum in Indien kommen Betroffenheitsreisende voll auf ihre Kosten. Slums sehen aus wie Slums aussehen müssen, und das Beste ist, man muss sie gar nicht suchen. Kaum eine Straße, die nicht von Hütten gesäumt ist. Selbst hier in Mumbai, welches doch die westlichste Stadt Indiens ist. ‚Hütte', ‚Baracke' - welches Wort hört sich winzig genug an für diese wenigen Quadratmeter, welche jeder Familie zur Verfügung stehen. Sechs Quadratmeter unten und noch mal vier oben, wenn vorhanden - halten können sich diese Konstrukte aus Blech, Holz und Müll nur, weil sie aneinander gebaut sind, die Wand der Nachbarsfamilie die eigene ist. Kinder spielen davor, als gäbe es keine Autos, die sich nur wenige Schritte von den Eingängen gegenseitig von der Straße drängeln. Männer dösen in der Sonne; Frauen waschen Wäsche - und bei der Gelegenheit gleich sich selber - als säßen sie in ihrem Heimatdorf am Fluss.

Wie lange leben sie schon so? Haben sie, haben ihre Kinder noch eine andere Welt gekannt? Am Narmada-Fluss vielleicht? Bevor dessen Staudämme ihre Dörfer überfluteten. Den Dschungel von Kerala? Bis die Umweltschutzbestimmungen auf der einen und die touristische Nutzung auf der anderen das Leben der indigenen Adivasis im Urwald immer schwieriger werden ließen. Gehörten sie zu jenem Fischerdorf an der Westküste, welches unter einer Mobiloil-Raffinerie begraben wurde? Oder sind es die Witwen der zahllosen Baumwollbauern, die als einzigen Ausweg aus ihrer Verschuldung den Selbstmord sahen? Und wann werden hier die Menschen aus den Gegenden stranden, bei denen Coca-Cola gerade das Wasser abgräbt, so dass der Grundwasserpegel schon um zwei Meter gesunken ist?

An anderen Straßenzügen sind die Hütten geräumiger und stabiler. Werkstätten aller Art finden sich darin wieder. Ebenso wie die winzigen Kioske zeigen sie an, dass sich hier eine Parallelwelt etabliert hat. Im wahrsten Sinne parallel zu den Autos und den Gebäuden hinter den Hütten. Parallel und außen vor auch von der Welt, in der wir uns als Teilnehmende des Weltsozialforums bewegen.

Bisher habe ich immer stolz verkündet, erst nach meinem halbjährigen Indienaufenthalt meinen Kulturschock bekommen zu haben: Im Vorortzug von Hannover, nachmittags um halb vier. Der ganze Waggon voll besetzt; mir gegenüber las jemand in einem Englisch-Deutschem-Wörterbuch. Erst als mir das "Where you from?" im Halse stecken blieb, wurde mir bewusst, dass die ganze Zeit in dem ganzen Waggon niemand ein Wort gesprochen hatte. Welch Kontrast zu der Neugier und Freundlichkeit, die in Indien jeden Zug zu einer Begegnungsstätte werden lassen.

Das Straßenbild in Indien ist mir also wohl vertraut, und oft hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, eine Zeitlang in einer dieser Hütten mitzuwohnen. Und trotz alledem habe ich einen Kulturschock dieses Mal. Ja, vielleicht hatte ich ihn schon in der Nacht, als wir auf dem Flughafen ankamen und ein Straßenjunge, höchstens acht Jahre alt, von mir erklärt bekam - in höchst bedauerndem Ton, die Worte wird er eh nicht verstanden haben - dass ich leider nur riesige Scheine hätte, so als müsse er selbstverständlich einsehen, dass ich ihm davon keinen geben könne. Beim Fahrer des Hotelbuses jedoch fühlte ich mich unter Druck, eine Lösung für dieses Problem zu finden, schließlich brauchte er ein Trinkgeld.

Als Rucksackreisende hatte ich mich immer gewundert, dass Menschen Trinkgeld geben, wenn sie Bettelnden nichts geben. Nun kann ich die Antwort bei mir selber suchen. Vielleicht kommt daher mein Kulturschock? Hatte ich nicht vor einiger Zeit genau über eine solche Situation in einem Artikel über die Situation philosophiert, einem Kind nichts zu geben aus dem Glauben heraus, die Eltern sollten es nicht betteln schicken: "Würde das Kind sprechen zu mir wie zu einer Gleichen, so würde es mir sagen: ‚1. Bin ich eine AIDS-Waise und meine Eltern folglich tot, 2. Weißt du besser als ich wie schlimm es um die Terms of Trade zwischen unseren Ländern steht und 3. Bist du eine blöde Nuss.'"

Das also ist anders diesmal, das macht es schwieriger: Früher war ich erschrocken darüber, so hatte ich es formuliert, mich so schnell an die Armut gewöhnt zu haben. Jetzt habe ich mich entwöhnt. Wer oder was aber hat das geschafft? Den Menschen im Narmada-Tal begegnet zu sein? Von Frauen aus dem Dschungel in Kerala von ihren Kämpfen erzählt bekommen zu haben? Oder brauchte es die Konfrontation mit Barbara aus Argentinien, die vor drei Jahren noch als Yuppie lebte und mehr verdiente als ich, die aufgrund der Wirtschaftskrise plötzlich einfach gar nichts mehr hatte. Was das bedeutete, würde ich nicht erfassen können, ohne es selbst erlebt zu haben, hatte Barbara gesagt. Und geweint. Nach Monaten des Nichts seien da die vom Staat erkämpften 50 Euro Arbeitslosenhilfe wie ein Segen erschienen. Brauchte es meine Ähnlichkeit mit Barbara, um mich der Armut der anderen zu entwöhnen?

Mutter Theresa spielen mag ein schönes Luftschloss sein, doch wenn ich mich bei diesem Gedanken erwische, erinnere ich mich daran, was die von den Zapatistas im mexikanischen Urwald inspirierten Basisbewegungen sagen: Wenn Ihr uns nur helfen wollt, könnt ihr zu Hause bleiben. Wenn ihr eure eigenen Kämpfe kämpft, wenn ihr wie wir beginnt, euer Leben kollektiv zu organisieren, dann können wir zusammen gehen.

Das Wort Entwicklungshilfe - oder auf Neu-Deutsch: Entwicklungszusammenarbeit - ist nicht gut angesehen bei diesen Bewegungen. Entwicklungshilfe, das ist der Staudamm im Narmada-Tal, der die Dörfer überschwemmen lässt. Entwicklungshilfe ist, ein doppelt so teures Hotel für uns als Delegierte des Weltsozialforums zu buchen - wobei den Organisationen nicht die Möglichkeit gegeben ist, das so gesparte (und als Entwicklungshilfe deklarierte) Geld für andere Projekte einzusetzen. Das macht die Versuchung groß, sich selber gegenüber großzügig zu sein. Auch unser Hotel mag mit seiner von Schimmelpilz getränkter und von Mottenkugelduft durchzogener Luft nur schwer darüber hinwegtrösten, dass eine Nacht hier soviel kostet, wie über eine Milliarde Menschen auf dieser Welt für über zwei Monate zum Leben zu reichen hat.

Entwicklungshilfe waren die blauen 20-DM-Scheine, mit denen meine größeren Geschwister dafür gesorgt haben, dass ich das schon längst verlorene Monopoly-Spiel nicht hinschmiss. Eine neue Welt zu schaffen bedeutet, etwas anderes zu spielen. Ohne Gewinner.

Mumbai, Januar 2004